Sonntag, 31. Januar 2021

Eine Liebe von Swann


Es ist jetzt mehr als sechzig Jahre her, dass mir mein Freund Peter sagte, dass wir unbedingt Proust lesen müssten. Die deutsche Übersetzung der Recherche war gerade bei Suhrkamp erschienen. Wir lasen Proust, in kleinen Portionen, die Bände waren teuer. Peter bekam seine Bände preisgünstiger, da seine Mutter aus einer berühmten Verlegerfamilie stammte und überall Verlagsrabatt bekam. Ich durfte manchmal bei ihm etwas mitbestellen, aber ich wollte jetzt meinen ganz eigenen Proust haben. Ich warb im Freundeskreis meiner Eltern Abonnenten für die Welt ein. Wenn der neugewonnnene Leser die Zeitung für drei Monate bestellte, bekam ich einen Band Proust. Es gelang mir nicht immer, rechtzeitig einen Abonnenten zu werben, in zwei von sieben Bänden klebt hinten das kleine grüne Etikett der Buchhandlung Otto & Sohn, wo ich das Buch gekauft habe. Ich kann auf meiner Leseliste aus dem Jahre 1962 sehen, dass ich in dem Jahr schon drei Bände von Prousts gewaltigem Romanwerk gelesen habe. 

Ich lese Proust immer noch. Nabokov, der einmal gesagt hat: Curiously enough, one cannot read a book; one can only reread it. A good reader, a major reader, and active and creative reader is a rereader, würde mich als einen guten Leser bezeichnen. Ich lese natürlich auch Anna Karenina zu Ende, das habe ich schon in dem Post Orchideen gesagt. Aber das habe ich erst einmal unterbrochen, weil ich mal eben Eine Liebe von Swann neu lesen musste. Nicht im Original (das ich auch besitze, obgleich ich mittlerweile die Internetversion des Romans sehr praktisch finde), sondern in einer mir unbekannten Übersetzung, für die ich bei ebay vier Euro ausgegeben hatte. 

Was ich Anfang der sechziger Jahre las, war die bei Suhrkamp erschienene Übersetzung von Eva Rechel-Mertens, an das französische Original traute ich mich damals noch nicht heran, obgleich mein Französisch von Jahr zu Jahr besser wurde. Ich habe aber damals Voyage au bout de la nuit im Original gelesen. Durchgekämpft, wäre wohl eher das Wort. Ich glaube, Proust wäre leichter zu lesen gewesen. Wenn ich den Roman jetzt noch einmal lesen wollte, würde ich es auf deutsch tun, Heike hat mir vor Jahren die schöne neue Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel geschenkt. 

Die sieben Suhrkamp Bände der Recherche mit den ausgeblichenenen malvenfarbenen Schutzumschlägen stehen noch immer nebeneinander im Regal. Ein achter Band mit den Briefen (von denen Proust nicht wollte, dass sie veröffentlicht werden: Sie werden sehen ... kaum dass ich tot bin, werden alle meine Briefe veröffentlichen. Ich habe einen Fehler gemacht, ich habe zu viel geschrieben, viel zu viel) steht in der zweiten Reihe. Neben den Suhrkamp Bänden stehen die Erinnerungen von Prousts Haushälterin Céleste Albaret und drei Biographien: die von George D. Painter (1959 und 1965), Jean-Yves Tadié (1996) und William C. Carter (2002). Painter sagte über sein Werk: I have endeavoured to write a definitive biography of Proust: a complete, exact and detailed narrative of his life, that is, based on every known or discoverable primary source and on primary sources only. Er hat keine Zeitgenossen von Proust interviewt und gesagt, selbst ein Treffen mit Proust hätte ihn nicht weitergebracht. William C. Carter, der jetzt bei der Yale University Press eine kommentierte englische Übersetzung der Recherche herausgibt, hätte so etwas nicht gesagt. Harold Bloom hat Carter Proust’s definitive biographer genannt, er muss immer übertreiben. Die Biographie ist nicht auf dem Niveau von Tadié, ein wenig langweilig, aber immens detailreich.

Natürlich steht da auch das schöne Buch Paintings in Proust von dem amerikanischen Maler Eric Karpeles und all die Bücher, die ich in dem Post Temps retrouvé erwähnt habe. Das Regal ist in den Jahrzehnten voller und voller geworden, aber die Suhrkamp Ausgabe hat ihren Platz nie verändert. Peter Suhrkamp hatte sein Haus auf Sylt 1953 an Axel Springer verkauft, um genügend Geld für den Kauf der Rechte an der Recherche zu haben. Die Übersetzerin Eva Rechel-Mertens, die bei Ernst Robert Curtius promoviert hatte, bekam für ihre Arbeit eine feste Anstellung im Verlag. Davon träumen Übersetzer, es zeigt aber auch, wie wichtig Suhrkamp das Erscheinen der ersten deutschen Übersetzung des Gesamtwerks war. 

Eva Rechel-Mertens wusste, was sie wert war, am Ende ihrer Dankesrede zur Verleihung des Johann Heinrich Voß Preises der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sagte sie: Eines freilich glaube ich sagen zu können: wenn man die gesamte 'Recherche du Temps perdu' und den 'Jean Santeuil' übersetzt hat, darf man wohl für sich in Anspruch nehmen, gewissermaßen die Hohe Schule der Übersetzung durchlaufen zu haben. Mit welchem Prädikat? Sie hier, meine Herren, haben mir zu meiner großen Freude ein gutes zuerkannt. Aber das endgültige wird eine andere Instanz mir erteilen, und zwar ‒ ich schließe mit dem Wort, das Proust an das Ende seines großen Werkes gesetzt hat ‒ die ZEIT.

Hermann Hesse, der Suhrkamp schon 1949 gedrängt hatte, die Rechte zu kaufen, schrieb 1954 an seinen Verleger: Es ist ein Glück, daß Eva Rechel-Mertens nun den ganzen Proust übersetzt. Sie soll es womöglich so rasch tun, daß ich nicht mittendraus wegsterbe. Er wird die Recherche noch lesen können, Eva Rechel-Mertens übersetzte rasch. Während der fünf Jahre, die zur Vollendung nötig waren , habe ich stets gebangt, Frau Rechel-Mertens könnte unter der Aufgabe zusammenbrechen; und es gab gefährliche Krisenzeiten. Ich bewundere nicht nur die Einheit, den eigenen Ton in ihrer Übersetzung, sondern mehr noch den persönlichen Einsatz, der eine ungewöhnliche moralische Leistung darstellt, hat Peter Suhrkamp 1957 geschrieben

Vom zweiten Band an konnte die Übersetzerin auf die von Pierre Clarac und André Ferré herausgegebene Pléilade Ausgabe von Gallimard zurückgreifen. Seit der ersten deutschen Übersetzung von Un amour de Swann durch Rudolf Schottlaender im Jahre 1926 hatte Hermann Hesse eine Übersetzung des ganzen Romans gefordert. So schreibt er am Ende der zwanziger Jahre: Vor drei Jahren noch, als Proust endlich anfing, auch in Deutschland beachtet zu werden, sprachen unsere Kritiker von ihm flüsternd und geheimnisvoll wie von einem vergrabenen Schatz - heut' sind sie schon wieder mit ihm fertig und finden, er sei doch eben nur ein schwächlicher, entnervter Mensch mit Gefühlen zweiten Ranges. Möge den Kerls Schimmel auf der Zunge wachsen! Ich kümmere mich den Teufel um sie, ich bin froh, daß es etwas so beseelet Schönes, etwas so Warmes, Blumiges und Liebenswertes gibt wie die Gespinste dieses zarten Dichters, der nun schon lange den Kuckuck nicht mehr rufen hört.

Der Romanist Ernst Robert Curtius, der mit Proust korrespondierte, hatte den französischen Autor 1925 durch einen hundertzwanzig Seiten langen Essay in Deutschland bekanntgemacht. Ein kleiner Berliner Verlag namens Die Schmiede verpflichtete den vierundzwanzigjährigen Altphilologen Dr Rudolf Schottlaender, Prousts Du côté de chez Swann zu übersetzen. Zuvor musste er eine Probeübersetzung abliefern, er wählte La Brière von Alphonse de Châteaubriant, das als Schwarzes Land erschien und von der Kritik gelobt wurde. Schottlaender war sich über die Schwierigkeit der Aufgabe im Klaren, er machte es dem Verlag gegenüber zur Bedingung, dass seine Übersetzung nur eine Rohfassung sei und man einen Revisor hinzuziehen sollte. Er schlug dafür Ernst Robert Curtius vor. Aber der Verlag hielt sich nicht an die Absprachen und veröffentlichte die Rohfassung. 

Die dann von Curtius verbal vernichtet wurde. Schlimme Worte sind da gefallen, wie zum Beispiel: 'Du Côté de chez Swann' ist - das dürfte deutlich geworden sein – vom Verdeutscher übel zugerichtet worden. Es ist ungefähr so, wie wenn Debussy für die Mundharmonika arrangiert würde. Schottlaender schreibt einen höflichen Brief, er sei tief betrübt, Fehler gemacht zu haben, aber die Aufgabe sei auch sehr groß: Ganz bewältigen könnte sie heute nur einer, der ein vollendeter Philologe und zugleich vollendeter Nachbildner wäre. Weder das eine noch das andere wähne ich zu sein. Aber da ich vom Philologen wie vom Nachbilden etwas in mir fühlte, zudem von einer Liebe zu Proust besessen war, in der ich Herrn Professor Curtius vielleicht nichts nachgebe, glaubte ich mich zu dem Wagnis berechtigt. Er bittet Curtius, der sich in der Aufzählung von fünfzig Fehlern suhlte, um eine Gesamtwürdigung, die kam auch: Eine Gesamtwürdigung verlangt Herr Schottlaender? Hier ist sie: eine liederliche Pfuscherei ist sein Machwerk. Man kann das alles nachlesen in George Pistorius: Marcel Proust und Deutschland; Eine internationale Bibliografie. Das Buch hat mir der Friedhard mal geschenkt, esliegt bei mir im Regal, da das voluminöse Hochformat von der Höhe nicht in das Lundia Regal passt. Man kann die ganze Geschichte auch in dem Buch von Nathalie Mälzer Proust oder ähnlich: ProustÜbersetzen in Deutschland nachlesen.

Der Bonner Professor für Romanistik galt als Deutschlands Proust Koryphäe, gegen seine Kritik wagte kaum jemand, etwas laut zu sagen. Jahre später hat Schottlaender, inzwischen Ordinarius für Klassische Philologie, über dessen Antigone Übersetzung kein Kritiker ein böses Wort sagte, über Curtius geschrieben: Es fällt mir nicht ein, an der Lebensleistung Ernst Robert Curtius', insbesondere an seinem Verdienst um Proust, zu mäkeln. Nur daß eben auch er gelegentlich zum bösartigen Fachidioten werden konnte, scheint mir durch sein Vorgehen gegen meine Proust-Übersetzung erwiesen. Die beiden deutschen Philologen Curtius und Schottlaender konnten unterschiedlicher nicht sein. Curtius tritt 1938 in die NSDAP ein und schreibt 1932 in seinem Buch Deutscher Geist in GefahrAber die Schuld trifft nicht nur Deutsche und Deutschstämmige allein, sie trifft ebensosehr unsere Juden, von denen leider gesagt werden muß, daß sie zum überwiegenden Teile und in maßgebender Betätigung der Skepsis und der Destruktion zugeschworen sind. Diese Juden sind von der Idee des Judentums selbst abgefallene Juden... Sie sind aber auch nicht bereit, sich dem Christentum, dem Humanismus oder dem Deutschtum zu öffnen und es aufzunehmen. Es bleibt ihnen also nur die Negation in ihren zwei Formen: Destruktion und Zynismus. Dagegen müssen wir uns wehren, weil Destruktion in einer so zerklüfteten Nation wie der deutschen zehnfach gefährlich ist. Der Jude Schottlaender überlebt das Dritte Reich nur, weil er mit einer nicht-jüdischen Frau verheiratet ist und es ein Gesetz über priviligierte Mischehen gibt.

Es war nicht nur Hermann Hesse, der Schottlaenders Übersetzung lobte (Über die Übersetzung sind unter den Fachleuten Diskussionen entstanden – für meine Person bin ich dem Übersetzer Schottlaender sehr dankbar für seine Arbeit); auch Thomas Mann, der Schottlaender einen vierseitigen Brief schrieb und Theodor Adorno haben das getan. Alfred Kerr, sicherlich kein unkritischer Kritiker, schrieb an den Verlag: Es war ein seltener Genuß, dieser Proust, also hat Schottlaender seine Sache gut gemacht. Und Peter Suhrkamp würdigte 1954 in seinem Vortrag Was kann Marcel Proust uns bedeuten die Leistung von Schottlaender: Rückblickend darf man heute sagen, daß Schottländers Übersetzung, wenn man die Aufgabe bedenkt: für die es absolut kein Vorbild und keinen Vergleich gab – gemessen an anderen Übersetzungen jener Zeit in Deutschland, eine Pioniertat darstellt. Ich mag das Buch sehr, ich besitze den zweiten Band (Der Weg zu Swann) in der Ausgabe von 1926. Diese Ausgabe mit dem Umschlagentwurf von dem berühmten Georg Salter kostet heute richtiges Geld, aber man kann sehr preiswert an die Übersetzung kommen: der Kölner Parkland Verlag offeriert seit 2004 Der Weg zu Swann mit allen 604 Seiten für kleines Geld. Wenn Sie mehr über die Proust Übersetzung von Schottlaender wissen wollen, dann lesen Sie hier doch diesen informativen Artikel von Stephan Reimertz.

Un amour de Swann ist der Mittelteil des ersten Bandes der Recherche, es ist eine in sich abgeschlossene Erzählung, und es ist der einzige Teil des Romans, der nicht von einem Ich-Erzähler erzählt wird. Wenn man sich den Weg zu Prousts riesigem Werk leicht machen will und sich nicht mit einem abstract zufrieden gibt, dann lese man dieses Werk, alles aus der Recherche ist hier schon enthalten. Viele Motive, die später noch ausführlich ausgeführt werden, finden sich schon hier. Der Verlag Die Schmiede, der finanziell am Rande des Abgrunds stand, gab die Zusammenarbeit mit Schottlaender auf und ließ Im Schatten der jungen Mädchen von Walter Benjamin und Franz Hessel übersetzen (hier im Volltext). Danach verkaufte man die Rechte an Proust an den Piper Verlag. Dort erschien 1930 noch Die Herzogin von Guermantes von Walter Benjamin und Franz Hessel (hier im Volltext), und damit war der erste Versuch einer vollständigen deutschen Übersetzung der Recherche zu Ende gekommen. Die Übersetzungen von Benjamin und Hessel sind heute im Anaconda Verlag (Im Schatten der jungen 
Mädchen) und bei Suhrkamp (Die Herzogin von Guermantes) lieferbar. Beide Bände sind ein Lesevergnügen, man merkt den Autoren an, dass sie Frankreich lieben, große Teile der Romane haben sie in Paris übersetzt.

Der Suhrkamp Verlag hatte die Gesamtausgabe der Recherche in der Übersetzung von Rechel-Mertens bis 1982 mehr als 100.000 verkauft, es wurden noch viele Einzeltitel nachgedruckt, sodaß man insgesamt mit Lizenausgaben auf 400.000 verkaufte Exemplare kam. Von keinem anderen zeitgenösisschen französischen Autor waren in Deutschland so viele Bücher verkauft worden. Aber den neuen Verlagsherren reichte ein Urteil wie das von Rudolf Hartung nicht mehr aus: Die deutsche Übertragung von Eva Rechel-Mertens ist ausgezeichnet. Der reich gegliederte, oft labyrinthische Satz Prousts bleibt mit seiner herrlichen rhythmischen Bewegung erhalten: Erst jetzt wird die Sicherheit und Eleganz der Proustschen Diktion sichtbar. Man wollte für die neue Frankfurter Ausgabe einen neuen Proust, und wenn nicht ganz neu, dann doch wenigstens stark überarbeitet.

Was für Hartung Der reich gegliederte, oft labyrinthische Satz Prousts warwar für Walter Benjamin eine Syntax uferloser Sätze (dem Nil der Sprache, welcher hier befruchtend in die Breiten der Wahrheit hinübertritt) gewesen, das Übersetzen erschien ihm als eine elende Schinderei. Jetzt sollte der Schweizer Romanist Luzius Keller (von dem ich das hübsche Buch Proust im Engadin besitze) zusammen mit Sibylla Laemmel für Suhrkamp den Text überarbeiten. Das haben sie getan, mit leichten Revisionen und manchen Neuübersetzungen, es gab inzwischen neue Texte, die Eva Rechel-Mertens nicht hatte kennen können. Da sind das sogenannte Mauriac Typoskript 1987 (eine kürzende Überarbeitung von Albertine disparue) und die Neuausgabe der Recherche in der Bibliothèque de la Pléiade von Jean-Yves Tadié (1987-1989).

Nun könnte man meinen, jetzt sei es genug an Proust Übersetzungen, aber weit gefehlt. Der deutsche Schriftsteller Michael Kleeberg forderte vor Jahren, von diesem völlig in Sprache und Beschreibung gelösten Nichts an Handlung, endlich eine ungezuckerte Übersetzung zu erstellen, die den Fin-de-siècle-Firniss wegschlägt, der Prousts Härte und Eckigkeit, aber auch seine ganze Komik verbirgt. Der frischgegründete Liebeskind Verlag in München gab dem Autor mit der Veröffentlichung von Combray und Eine Liebe Swanns die Gelegenheit, eine Übersetzung ohne Zucker oder Süßstoff herzustellen. 

Der Verlag schrieb dazu: Michael Kleebergs Neuübersetzung tritt mit dem Anspruch an, zum ersten Mal die ganze Vielseitigkeit und den Anspielungsreichtum der Sprache Marcel Prousts zu erfassen. Auch die stilistischen Besonderheiten des Werkes werden genauer wiedergegeben als bisher. Dass dabei die deutsche Sprache bis an ihre Grenzen getrieben wird, so wie Proust es mit der französischen tat, ist die große Leistung. Diese lobhudelnde Werbesprache kommertierte die NZZ mit den Sätzen: Da wird jeder Bogen, den der Text beschreibt, zu einer Ecke, um die der Übersetzer gerade noch kommt. Mehr ist dazu nicht zu sagen. Höchstens noch: 'Bis an ihre Grenzen getrieben' wird jedenfalls die Sprache eines Verlegers, wenn er eine stümperhafte Arbeit - vielleicht ahnungslos, aber er sollte nicht ahnungslos sein - für ein Meisterwerk erklärt

Es war nicht irgendjemand, der Kleebergs Übersetzung, die die Welt eine beglückende Lektüre nannte, vernichtete. Es war der Schweizer Schriftsteller Hanno Helbling, der jahrzehntelang der Feuilletonchef der NZZ war. Vielleicht war die Rezension aber auch nur Konkurrenzneid, denn im Jahr davor hatte Helbling als Übersetzer Albertine: Ein Roman aus der 'Suche nach der verlorenen Zeit' auf den Markt gebracht und 1996 zusammen mit Christina Viragh Der gewendete Tag: Aus der "Suche nach der verlorenen Zeit" in den Vorabdrucken veröffentlicht. Wenn ich  an Keller, Laemmel, Helbling und Viragh denke, habe ich das Gefühl, dass es inzwischen so etwas wie eine Schweizer Proust Mafia gibt.

Für diesen signierten Horst Janssen muss man inzwischen 160 Euro ausgeben, als ich ihn vor Jahrzehnten kaufte, war er billiger. Aber Prousts Recherche ist preisgünstig geworden. Die beiden Bände von Kleeberg kosten zusammen 44€, für 49,95 kann man allerdings schon die ganze Frankfurter Ausgabe im Taschenbuchformat bekommen (98€ broschiert), soll man da für eine Neuübersetzung, über die die FAZ wenig Gutes sagte, soviel Geld ausgeben? Und da wir bei Preisen sind, muss ich den Reclam Verlag erwähnen, der seit vier Jahren den ganzen Proust (plus ein beinahe neunhundertseitiges Handbuch) zu einem Preis von 85€ offeriert. Und das alles in einer ganz neuen Übersetzung. 

Zehn Jahre hat Bernd-Jürgen Fischer an der neuen Übersetzung gearbeitet. Ich habe mir aus Neugier den Band Eine Liebe von Swann gekauft, vier Euro bei ebay, und begann zu lesen. Nach zwanzig Seiten hatte ich genug. Ich dachte mir: irgendwie ist das prollig (wenn ich den Rezensionen bei Perlentaucher glauben darf, bin ich nicht der einzige, dem das nicht gefiel). Ich holte den Band von Eva Rechel-Mertens, fing an zu lesen und war wieder zu Hause. Man merkte, dass Hartung Recht hatte, wenn er sagte: Der reich gegliederte, oft labyrinthische Satz Prousts bleibt mit seiner herrlichen rhythmischen Bewegung erhalten: Erst jetzt wird die Sicherheit und Eleganz der Proustschen Diktion sichtbar. 

Bernd-Jürgen Fischer hat über seine Übersetzung gesagt: mir fehlte ein ganz bestimmter Sprachklang, den ich aus der französischen Übersetzung gehört habe und in der deutschen eben so nicht gefunden hatte. Auf mich hatte Prousts Französisch nüchterner, schärfer konturiert gewirkt. Er nimmt auch keine Rücksicht auf den Leser, der Leser muss sich ihm anpassen und versuchen, ihm zu folgen, während Rechel-Mertens damals in den 50ern, als man dem Leser halt noch nicht so viel zumuten konnte, doch arg viel Öl in das syntaktische Getriebe geträufelt hat, damit er ein bisschen leichter runtergeht. Michael Kleeberg wollte eine ungezuckerte Übersetzung erstellen, die den Fin-de-siècle-Firniss wegschlägt, Fischer setzt auf den Sprachklang, das sagt er auch hier im Interview. Aber wie hört man den Sprachklang?

Er liest sich gut, der erste Band der 'Recherche' in der neuen Übersetzung, wenn man sich ihrem Duktus und Cursus anvertraut und sich auf ihre straff und markant zeichnende Sprache einlässt. Man darf gespannt sein auf die noch folgenden sechs Bände. Wie sich dieser ‚neue‘ Proust gegenüber der bewährten Übersetzung von Rechel-Mertens behaupten wird, wird die Zeit zeigen, und das heißt nicht zuletzt eine jüngere Leserschaft, urteilte Astrid Nettling 2014 im Deutschlandfunk. Da hat die junge Philosophin sicherlich Recht, die Sprache der Übersetzung ist eine Sprache der Generation der Übersetzer. Als Eva Rechel-Mertens bei Curtius promovierte, war Proust gerade drei Jahre tot. Ihr Deutsch ist das Deutsch der Hochsprache des gebildeten Bürgertums, das kann man heute nicht mehr unbedingt voraussetzen.

Der Band 1 der Reclam Ausgabe hat einen achtzigseitigen Kommentarteil, darin ist Fischer wirklich groß. Wenn man im Netz liest, was er zu Robert de Montesquiou (hier von Boldini gemalt) zu sagen weiß, dann kann man nur sagen: Chapeau. Martin Mosebach hebt das in seiner Rezension in der FAZ hervor: Mit Vergnügen und Neugier liest man hingegen Bernd-Jürgen Fischers reichen Anmerkungsteil, der das Umfeld der großen Erzählung weit verästelt erschließt; auf diese Abteilung der Neuübersetzung werden auch die Kenner ungern verzichten wollen, allein ihretwegen schon gehört das Buch in die Bibliothek der Proust-Leser. Das gilt auch für sein Handbuch zu Marcel Prousts 'Auf der Suche nach der verlorenen Zeit', das allerdings mehr etwas für Universitätsbibliotheken und Fachgelehrte als für den normalen Leser ist. Der wäre mit dem Kauf von Philippe Michel-Thiriet Das Marcel Proust Lexikon sicher besser bedient.

Die deutschen Proust Übersetzer haben sehr unterschiedliche Biographien. Schottlaender promovierte 1923 in Heidelberg mit einer Arbeit über die Nikomachische Ethik des Aristoteles. Er war noch nie in Frankreich gewesen, hatte aber einen guten Französischlehrer gehabt: Trotz Franzosenhaß wurde  Französisch nach alter Tradition in unserer Schule früh und ausgiebig gelehrt. Eva Rechel-Mertens war fünfundfünfzig, als sie bei Suhrkamp eingestellt wurde, da konnte sie auf eine Übersetzertätigkeit zurückblicken, die bis in die zwanziger Jahre zurückreichte. Michael Kleeberg war vierzig, als er Proust übersetzte. Da hatte er schon viele Texte aus dem Französischen und Englischen übersetzt, ein halbes Dutzend Romane geschrieben und zwölf Jahre in Frankreich gelebt. Bernd-Jürgen Fischer war siebzig als der erste Band seiner Übersetzung erschien. Er war dreizehn Jahre Dozent in der Germanistik, bevor er freier Autor wurde. Michael Kleeberg ist der einzige der Proust Übersetzer, der keinen Doktortitel hat. Vielleicht lieben ihn die Kritiker deshalb nicht:

Es muss irgendwann ein proustisches Konzil von Nicäa stattgefunden haben, bei dem postuliert wurde, dass alle deutsche Proust-Beschäftigung von Ernst Robert Curtius ausgehe, von ihm auf Eva Rechel-Mertens gekommen sei und exklusiv vom Hause Suhrkamp und der Proust-Gesellschaft verwaltet werde. Nun verstand ich, worauf sich das Gerede von 'Wagnis' und 'Nicht einverstanden' bezog. Aufs Prinzip. Nicht wie ich gearbeitet hatte, stand infrage, sondern dass ich mich ohne die Kaution eines der deutschen Starverlage und ohne Mentor aus dem deutschen Proust-Serail (Tadié, mit dem ich mich bei der Arbeit mehrmals ausgetauscht hatte, hätte hier wenig gezählt) an einem vermeintlichen Privateigentum vergriff.

Das hat Kleeberg in der TAZ geschrieben. Das hat mir sehr gut gefallen. Seine Übersetzung, die das Bureau du Livre der Französischen Botschaft in Berlin unterstützt hat, hat mir auch gefallen. Eine Liebe Swanns, die ich mir trotz der schlechten Rezensionen kaufte, hat mich als Lizenzausgabe der Büchergilde Gutenberg fünf Euro bei Booklooker gekostet. Hardcover, noch eingeschweißt, mit einer rätselhaften Umschlaggestaltung von Ines von Ketelhodt, die viel schöner ist als der potthäßliche Umschlag der Originalausgabe. Gut gedruckt, und ein Lesebändchen gibt es auch.

Kleeberg macht Fehler, zum Teil dusselige Fehler, aber Fehler kann man in allen Übersetzungen finden. Kleeberg macht das alles wieder wett, weil er ein guter Erzähler ist. Es liest sich gut, sehr gut, weil alles fließt. Weil ich Fischers und Kleebergs Proust lesen musste, kam ich nicht dazu, Anna Karenina weiterzulesen. Und dann kam dies hier auch noch dazwischen, ein Buchtip von Janni. Alles von Julian Barnes lese ich ja sofort, sein geniales Buch Flaubert's Parrot habe ich schon in dem Post Gustave Flaubert erwähnt. Das Detail eines Gemäldes von John Singer Sargent auf dem Cover des Buches The Man in the Red Coat zeigt den berühmten Dr Samuel Jean Pozzi. Der unter dem Namen Dr Cottard auch in Eine Liebe Swanns vorkommt.

Michael Kleeberg hat seine Übersetzung komplex, hart, manchmal unelegant, aber eindringlich genannt. Er war in der Werbung tätig, er weiß, was Journalisten gerne hören wollen. Ein klein wenig hat er sich gerade an dem Curtius Kartell gerächt: die Neuauflage von Curtius' Essay Marcel Proust bei Schöffling enthält Übersetzungen von Kleeberg. Im Original von 1925 hielt es Curtius nicht für nötig, die zum Teil langen Zitate aus Prousts Werk zu übersetzen. Als Suhrkamp den Text 1952 als Band 28 der Bibliothek Suhrkamp veröffentlichte, waren die Proustschen Zitate von Eva Rechel-Mertens übersetzt worden. In der philologischen Luxusausgabe des Schöffling Verlags kommen Nachwort und die Übersetzungen von Michael Kleeberg. Irgendwann werden die Snobs der Marcel  Proust Gesellschaft ihn schon liebgewinnen.


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