Dienstag, 10. Juli 2018
Proust
The past is never dead. It is not even past, hat William Faulkner gesagt. Und seine Romanwelt zeigt, wie Vergangenheit und Gegenwart verknüpft sind. Vergangenheit ist für ihn die Vergangenheit des amerikanischen Südens, häufig mit Schuld verbunden. Das Heraufbeschwören der Vergangenheit ist etwas, was manchen Autoren gelingt, vielen nicht. The past is a foreign country: they do things differently there, sagt L.P. Hartley in seinem Roman The Go-Between, einem Roman, der immer wieder mit Prousts Werk verglichen worden ist. Bei dem die Vergangenheit als etwas Verlorenes ja schon im Titel des Romans steht. Und der uns in dem Kapitel, in dem es um die Madeleine geht, einiges dazu zu sagen hat: Ebenso ist es mit unserer Vergangenheit. Vergebens versuchen wir sie wieder heraufzubeschwören, unser Geist bemüht sich umsonst. Sie verbirgt sich außerhalb seines Machtbereichs und unerkennbar für ihn in irgendeinem stofflichen Gegenstand (oder der Empfindung, die dieser Gegenstand in uns weckt); in welchem, ahnen wir nicht. Ob wir diesem Gegenstand aber vor unserem Tode begegnen oder nie auf ihn stoßen, hängt einzig vom Zufall ab.
Ob es der Geschmack der Madeleine ist, ob die Bäume an der Allee den Erzähler festhalten wollen, ob es das kleine gelbe Mauerstück in einem Bild von Vermeer ist, immer entwirft Proust ästhetisch und atmosphärisch aufgeladene Augenblicke. Denn das Gedächtnis, indem es die Vergangenheit in unveränderter Gestalt in die Gegenwart einführt - so nämlich, wie sie sich in dem Augenblick präsentierte, als sie selber noch Gegenwart war - bringt gerade jene große Dimension der Zeit zum Verschwinden, in der das Leben sich realisiert.
Wir können Prousts Madeleine Erlebnis, das ja mehr ist als Tee und Cookies ist, eine epiphany nennen, James Joyce hat in Dubliners davon überreichen Gebrauch gemacht. Die Autoren des New Journalism wie Joan Didion haben die Erinnerung und die epiphanies wiederentdeckt, von obsessive remembering hat Didion einmal über ihre eigene Technik gesprochen: A place belongs forever to whoever claims it hardest, remembers it most obsessively, wrenches it from itself, shapes it, renders it, loves it so radically that he remakes it in his image. Doch Prousts Entdeckungreise in die Vergangenheit und das eigene Ich ist keine Suche nach einem total recall, denn solche willentlichte Erinnerung erscheint ihm als Verfälschung. Die ars memoriae und ars reminiscentiae, die Frances A. Yates in The Art of Memory darstellt, sind seine Sache nicht, nur die mémoires involontaires gilt es zu suchen: Sehen Sie, der Künstler sollte sich ausschließlich im Bezug auf die unwillkürlichen Erinnerungen den grundlegenden Stoff seines Werkes erarbeiten. Zunächst einmal deshalb, weil dieses sich aus sich selbst bilden. Angezogen durch die Ähnlichkeit einer identischen Minute, haben sie allein das Markenzeichen der Authentizität inne. Und schließlich liefern sie uns die Dinge in einer exakten Dosierung zwischen Erinnerung und Vergessen.
Marcel Proust wurde am 10 Juli 1871 geboren, er ist in diesem Blog ein ständiger Gast. Wenn Sie mehr lesen wollen, dann klicken Sie doch diese Posts an: Combray, Marcel Proust, Spargel, Bilder, Hammershøis Bäume, lettre de lecteur, temps perdu, Tennis, Abendgesellschaft, Schreiben, Anita Albus. In dem Post Temps retrouvé finden Sie eine Besprechung der wichtigsten Literatur zu Proust.
In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, ein Leser nur seiner selbst. Das Werk des Schriftstellers ist dabei lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte erschauen können. Dass der Leser das, was das Buch aussagt, in sich selber erkennt, ist der Beweis für die Wahrheit eben dieses Buches und umgekehrt.
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