Freitag, 27. April 2018

Zweiter Klasse


Das heutige Gedicht stammt aus Jürgen Theobaldys Gedichtband ↝Zweiter Klasse. Die Zeit nannte ihn damals eine der großen Begabungen unter den jüngeren Lyrikern. Für den Titel Zweiter Klasse seines Gedichtbandes hatte Theobaldy im Nachwort eine Erklärung: Diese Gedichte sind für alle, die in den Zügen der Deutschen Bundesbahn zweiter Klasse sitzen, auf den vorderen Plätzen im Kino, für alle, die Stehplatzkarten für die Kurve haben, wo der Abstand zum Spielfeld am weitesten ist. Es sind Gedichte für alle, die mit diesen Unterteilungen nicht einverstanden sind. Ich habe sie geschrieben, wenn ich nicht wußte, was ich sonst tun sollte, oder wenn mir das, was ich stattdessen hätte tun können, nutzlos erschien.

Vielleicht ist das der Nutzen dieser Gedichte. Ich hoffe, sie enthalten keine Geheimnisse und machen nichts geheimnisvoll, was in der Wirklichkeit klar vor Augen liegt, denn damit wären sie überflüssig. Lange genug hat die Meinung geherrscht, das Wesen der Dichtung läge darin, möglichst vage, möglichst vieldeutig zu sein. Dagegen schlage ich vor, von der Mehrdeutigkeit der Sprache auszugehen und in der Dichtung den Versuch zu sehen, Klarheit zu schaffen, den Glanz des einfachen, direkten Ausdrucks. Ob Gedichte überhaupt wichtig sind? Solange sie gelesen werden, sind sie wichtig. Sonst wären sie bloß eine private Angelegenheit, wie Zähne putzen. Für meine Gedichte wünsche ich, daß sie etwas von der Haltbarkeit ihrer einfachen Gegenstände sichtbar machen, daß sie sich und ihnen etwas Dauer verleihen in einer Gesellschaft, die nur noch produziert, um vorzeitig wegzuwerfen, Schuhe, Halteschilder, ein Plakat an einem Bretterzaun. 

Rita Hayworth hat mit diesen Ausführungen nichts zu tun, wir brauchen sie aber gleich für das Gedicht Ausflug ins Kino. ↝Jürgen Theobaldy, der in einem ↝Gedicht mit Goethe Auto fährt, hat sich immer wieder zum Thema Dichter und Dichten geäußert. Ich habe hier eine interessante Seite mit ↝Statements zur Poetik der Gegenwartslyrik. Und ich habe natürlich das Kinogedicht:

Als Kind bin ich oft im Kino 
gewesen, jeden Sonntag um 14 Uhr 
gab es eine »Jugendvorstellung« 
im »Capitol« mit dieser Uhr rechts 
neben der Leinwand, und wir tobten, 
trommelten und pfiffen, wenn 
der Zeiger auf 14.01 Uhr rückte, ohne 
daß der Film begonnen hatte. Dann 
wollte ich erwachsen werden und ging 
am Samstag in die Erwachsenenvorstellung, 
obwohl ich noch nicht sechzehn war. 
In diesem Film sah ich Rita Hayworth 
im Badezuber, nachdem Gary Cooper 
sie vor einem Haufen verrückter Indianer 
gerettet hatte. Ich hätte sie gern 
nackt gesehen, aber ich sah nur 
einen Streifen ihres Büstenhalters. 
Am nächsten Sonntag ging ich wieder 
in die »Jugendvorstellung«, und um 14.01 Uhr 
fing ich an zu toben, zu trommeln 
und zu pfeifen, weil der Film 
noch nicht begonnen hatte.

Mehr Rita Hayworth in den Posts Gilda und Rita Hayworth.

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