Den höchsten Berg unserer Gegend, der nicht unverdienterweise der windige genannt wird, habe ich gestern bestiegen, lediglich aus Verlangen, die namhafte Höhe des Ortes kennenzulernen.
Jener Berg, weit und breit sichtbar, stund mir fast allzeit vor Augen, allmählich ward mein Verlangen ungestüm, und ich schritt zur Ausführung... schreibt Petrarca am 27. April 1336. Heute vor 675 Jahren soll er auf den Mont Ventoux geklettert sein. Es gab natürlich noch keine Armbanduhren, sonst würde natürlich die ➱Firma Rolex damit Reklame machen, dass Petrarca auf dem Mont Ventoux eine Rolex am Arm hatte wie Edmund Hillary auf dem ➱Mount Everest. Ich kann mich noch genau an die Werbeanzeigen vom Sherpa Tenzing Norgay mit einer goldenen Rolex am Arm erinnern. Aber die Geschichte darf Rolex ja nicht mehr erzählen. Weil sie nicht wahr ist. Die goldene Rolex hat er erst hinterher bekommen.
Ob es wirklich wahr ist, dass Petrarca oben auf dem Berg war, ist auch nicht so ganz klar, manche behaupten, dass der Beginn des Alpinismus lediglich in der Phantasie des Dichters stattfand. Und dass der berühmte Brief an den Augustinermönch Dionigi di Borgo San Sepolcro nicht direkt nach der Besteigung geschrieben wurde sondern ein Jahrzehnt später. Denn der Brief klingt doch arg nach einer literarischen Inszenierung. Vor allem wenn Petrarca auf dem Gipfel die Confessiones des Augustin aus der Tasche hervorzieht:
Zur Rechten aber waren die Berge der lyonischen Provinz, zur Linken der Meerbusen und die etliche Tagereisen entfernten Gewässer von Aigues-Mortes aufs deutlichste sichtbar; die Rhone selbst strömte vor unsern Augen. Wie ich nun dies im einzelnen bewunderte und bald mich nach irdischen Dingen erkundigte, bald nach Vorbild des Leibes auch den Geist in höhere Sphären versetzen wollte, kam mir zu Sinn, das Buch der Bekenntnisse des Augustinus aufzuschlagen, um zu lesen, was mir entgegentreten würde. Mein Bruder, erwartungsvoll, etwas von Augustinus zu vernehmen, stund mit gespannter Aufmerksamkeit - ich rufe Gott an und ihn selber, der bei mir war -, wie ich die Augen auf das Blatt senkte, stund geschrieben: Da gehen die Menschen, die Höhen der Berge zu bewundern und die Fluten des Meeres, die Strömungen der Flüsse, des Ozeans Umkreis und der Gestirne Bahnen, und verlieren dabei sich selber.
Die Bewunderung der Natur als ästhetisches Erlebnis ist noch nicht angesagt, für Petrarca gibt es in seinem Brief an seinen Beichtvater (und dieser Brief ist ja auch eine Art Beichte) oben auf dem Berg ein quasi-religiöses Erlebnis. Wenn schon nicht die Bibel, dann muss Augustinus gelesen werden. Die gefühlvolle Begeisterung für die Bergwelt, kommt erst vierhundert Jahre später, wenn die Engländer auf ihrer ➱Grand Tour die Alpen zum Pflichtprogramm machen. Und für die deutsche Literatur, wenn Wilhelm Heinse (der erste deutsche Italienreisende der wirklich Augen für die Schönheit der Landschaft hat) auf dem Gotthard auch ein quasi-religiöses Erlebnis hat: da ward alles still, bis auf ein Geräusch ferner Katarakten, und mich wehte heilig leis in der Dunkelheit zwischen feuchten Felsen eine Stimme wie von einem Geist an - Was staunst Du, Schüchterner, kleines Geschöpf! Und dann spricht der Berggeist zu ihm: Ich bin der Anfang und das Ende. Erkenn in mir die Natur in ihrer unverhüllten Gestalt, zu hehr und mächtig und heilig, um von euch Kleinen zu euren Bedürfnissen eingerichtet, verkünstelt und verstellt zu werden. Jedes Element ist ewig wie die Welt, und alles andere wird und ist und vergeht: aber die Arten der Elemente und die verschiedenen Formen, wozu sie anwachsen, sind unzählbar. Nun geh hin, dir ist das Evangelium gepredigt! Heinse ist ja immer sehr emphatisch.
Denn in dieser Zeit ist die Verherrlichung der Bergwelt nicht jedermanns Sache. Goethe spricht von seinen unnützen Reisen in die Schweiz und mäkelt über diese Zickzackkämme, die widerwärtigen Felswände, diese ungestalteten Gebirgspyramiden, welche die schönsten Weltbreiten mit den Schrecknissen des Nordpols bedecken, wie sollte ein Menschenfreund sie preisen? Goethe und Heinse haben sich gekannt, zuerst waren sie sich sehr sympathisch. Aber später war (zum Beispiel in Dichtung und Wahrheit) Heinse unserem Olympier keiner Erwähnung mehr wert. Nur eine gehässige Bemerkung über den Künstlerroman Ardinghello, den Heinse als Ergebnis des Italienaufenthaltes geschrieben hat, findet sich noch bei Goethe: Nach meiner Rückkunft aus Italien, wo ich mich zu größerer Bestimmtheit und Reinheit in allen Kunstfächern auszubilden gesucht hatte, unbekümmert was während der Zeit in Deutschland vorgegangen, fand ich neuere und ältere Dichterwerke in großem Ansehen, von ausgebreiteter Wirkung, leider solche die mich äußerst anwiderten, ich nenne nur Heinse's 'Ardinghello' und Schiller 'Räuber'. Jener war mir verhaßt, weil er Sinnlichkeit und abstruse Denkweise durch bildende Kunst zu veredeln und aufzustutzen unternahm. Ist wahrscheinlich nur Neid, weil Goethe seine Italienische Reise erst dreißig Jahre später fertig kriegt.
Diese negative Sicht der Natur durch Goethe in seinem Spätwerk (aus dem stammt das obige Zitat von den Zickzackkämmen und widerwärtigen Felswänden) hat eine lange Tradition, denn die Naturschönheiten sind lange verteufelt worden, die Natur ist eine feindliche Natur. Spätestens seit Luther behauptet hat, dass die Natur durch den Sündenfall mit ins Verderben gezogen wurde. Und so konnte am Anfang des 17. Jahrhunderts der Bischof von Gloucester, Godfrey Goodman, in seinem Buch mit dem vielsagenden Titel The Fall of Man, or the Corruption of Nature argumentieren, dass unwirtliche Gegenden, vor allem die Berge, nichts als eine Mahnung an den Sündenfall seien. Ähnliches liest man schon bei John Donne in The Anatomy of the World, wo Berge und Täler als warts and pock-holes in the face of the earth bezeichnet werden.
Das Erklimmen der Berge ist seit Jahrhunderten beschrieben worden, aber diejenigen, die in Briefen darüber schreiben wie John of Salisbury über den Großen Sankt Bernard Pass (on the one hand looking up to the heaven of the mountain; on the other shuddering at the hell of the valleys) ersteigen die Berge nicht zum Vergnügen. Die Alpen sind nun mal im Weg, wenn man zum Papst gerufen wird. Das berühmte Hospiz da oben gibt es schon, die Bernhardiner kommen allerdings erst ein paar Jahrhunderte später. Aber im Gegensatz zu John of Salisbury besteigt Petrarca Den höchsten Berg unserer Gegend ... lediglich aus Verlangen, die namhafte Höhe des Ortes kennenzulernen. Wenn er denn jemals oben war.
Wir sollten einen Augenblick an einen Philosophen und Wissenschaftler denken, der in diesem Zusammenhang seltener erwähnt wird, nämlich an Jean Buridan. Ja, richtig, der Buridan von Buridans Esel. Der ist nämlich auch auf dem Mont Ventoux gewesen, noch vor Petrarcas angeblicher Besteigung. Hat den Berg sogar noch vermessen. Aber über den redet kaum jemand, weil jede Kulturgeschichte dem Francesco Petrarca die Bergbesteigung zuschreibt. Und sofort eine Veränderung der Naturauffassung konstatiert. Und was ist mit dem Erzbischof Anno von Köln einige Jahrhunderte früher, der im Alter gerne auf Berge kletterte? Das steht so vor hundert Jahren in der 86-seitigen Dissertation Über Naturgefühl in Deutschland im 10. und 11. Jahrhundert von Gertrud Stockmayer (eine der ersten Studentinnen in Tübingen). Zwischen Anno von Köln und den Herren Lionel Terray und Luis Trenker liegt beinahe ein Jahrtausend literarischer Gipfelbewältigung. Die Stimme von ➱Petrarca ist nur eine unter vielen, seine Liebessonette sind wohl wichtiger als sein hochliterarischer Brief.
Zwei Jahrhunderte nach Petrarca schreibt der Schweizer Arzt und Naturforscher Conrad Gesner ohne jedes literarisierende Brimborium in einem Brief an den hochberühmten Herrn Jakob Vogel: Ich habe mir vorgenommen fortan, so lange mir Gott das Leben gibt, jährlich mehrere oder wenigstens einen Berg zu besteigen, wenn die Pflanzen im Blüte sind, teils um diese kennenzulernen, teils um den Körper auf eine ehrenwerte Weise zu üben und den Geist zu ergötzen. Denn welche Lust ist es, und, nicht wahr, welches Vergnügen für den ergriffen Geist, die gewaltige Masse der Gebirge wie Schauspiel zu bewundern und das Haupt gleichsam in die Wolken zu erheben. Ich weiß nicht, wie es zugeht, dass diese unbegreiflichen Höhen das Gemüt erschüttert und hingerissen wird zur Betrachtung des erhabenen Baumeisters.
Ein Berggedicht habe ich auch noch. Geschrieben von ➱Emily Dickinson, bei der ich nie weiß, ob sie eine bedeutende Dichterin oder nur eine dichtende Hausfrau ist. Aber auf einen Berg ist sie nie geklettert.
Die Bewunderung der Natur als ästhetisches Erlebnis ist noch nicht angesagt, für Petrarca gibt es in seinem Brief an seinen Beichtvater (und dieser Brief ist ja auch eine Art Beichte) oben auf dem Berg ein quasi-religiöses Erlebnis. Wenn schon nicht die Bibel, dann muss Augustinus gelesen werden. Die gefühlvolle Begeisterung für die Bergwelt, kommt erst vierhundert Jahre später, wenn die Engländer auf ihrer ➱Grand Tour die Alpen zum Pflichtprogramm machen. Und für die deutsche Literatur, wenn Wilhelm Heinse (der erste deutsche Italienreisende der wirklich Augen für die Schönheit der Landschaft hat) auf dem Gotthard auch ein quasi-religiöses Erlebnis hat: da ward alles still, bis auf ein Geräusch ferner Katarakten, und mich wehte heilig leis in der Dunkelheit zwischen feuchten Felsen eine Stimme wie von einem Geist an - Was staunst Du, Schüchterner, kleines Geschöpf! Und dann spricht der Berggeist zu ihm: Ich bin der Anfang und das Ende. Erkenn in mir die Natur in ihrer unverhüllten Gestalt, zu hehr und mächtig und heilig, um von euch Kleinen zu euren Bedürfnissen eingerichtet, verkünstelt und verstellt zu werden. Jedes Element ist ewig wie die Welt, und alles andere wird und ist und vergeht: aber die Arten der Elemente und die verschiedenen Formen, wozu sie anwachsen, sind unzählbar. Nun geh hin, dir ist das Evangelium gepredigt! Heinse ist ja immer sehr emphatisch.
Denn in dieser Zeit ist die Verherrlichung der Bergwelt nicht jedermanns Sache. Goethe spricht von seinen unnützen Reisen in die Schweiz und mäkelt über diese Zickzackkämme, die widerwärtigen Felswände, diese ungestalteten Gebirgspyramiden, welche die schönsten Weltbreiten mit den Schrecknissen des Nordpols bedecken, wie sollte ein Menschenfreund sie preisen? Goethe und Heinse haben sich gekannt, zuerst waren sie sich sehr sympathisch. Aber später war (zum Beispiel in Dichtung und Wahrheit) Heinse unserem Olympier keiner Erwähnung mehr wert. Nur eine gehässige Bemerkung über den Künstlerroman Ardinghello, den Heinse als Ergebnis des Italienaufenthaltes geschrieben hat, findet sich noch bei Goethe: Nach meiner Rückkunft aus Italien, wo ich mich zu größerer Bestimmtheit und Reinheit in allen Kunstfächern auszubilden gesucht hatte, unbekümmert was während der Zeit in Deutschland vorgegangen, fand ich neuere und ältere Dichterwerke in großem Ansehen, von ausgebreiteter Wirkung, leider solche die mich äußerst anwiderten, ich nenne nur Heinse's 'Ardinghello' und Schiller 'Räuber'. Jener war mir verhaßt, weil er Sinnlichkeit und abstruse Denkweise durch bildende Kunst zu veredeln und aufzustutzen unternahm. Ist wahrscheinlich nur Neid, weil Goethe seine Italienische Reise erst dreißig Jahre später fertig kriegt.
Diese negative Sicht der Natur durch Goethe in seinem Spätwerk (aus dem stammt das obige Zitat von den Zickzackkämmen und widerwärtigen Felswänden) hat eine lange Tradition, denn die Naturschönheiten sind lange verteufelt worden, die Natur ist eine feindliche Natur. Spätestens seit Luther behauptet hat, dass die Natur durch den Sündenfall mit ins Verderben gezogen wurde. Und so konnte am Anfang des 17. Jahrhunderts der Bischof von Gloucester, Godfrey Goodman, in seinem Buch mit dem vielsagenden Titel The Fall of Man, or the Corruption of Nature argumentieren, dass unwirtliche Gegenden, vor allem die Berge, nichts als eine Mahnung an den Sündenfall seien. Ähnliches liest man schon bei John Donne in The Anatomy of the World, wo Berge und Täler als warts and pock-holes in the face of the earth bezeichnet werden.
Das Erklimmen der Berge ist seit Jahrhunderten beschrieben worden, aber diejenigen, die in Briefen darüber schreiben wie John of Salisbury über den Großen Sankt Bernard Pass (on the one hand looking up to the heaven of the mountain; on the other shuddering at the hell of the valleys) ersteigen die Berge nicht zum Vergnügen. Die Alpen sind nun mal im Weg, wenn man zum Papst gerufen wird. Das berühmte Hospiz da oben gibt es schon, die Bernhardiner kommen allerdings erst ein paar Jahrhunderte später. Aber im Gegensatz zu John of Salisbury besteigt Petrarca Den höchsten Berg unserer Gegend ... lediglich aus Verlangen, die namhafte Höhe des Ortes kennenzulernen. Wenn er denn jemals oben war.
Wir sollten einen Augenblick an einen Philosophen und Wissenschaftler denken, der in diesem Zusammenhang seltener erwähnt wird, nämlich an Jean Buridan. Ja, richtig, der Buridan von Buridans Esel. Der ist nämlich auch auf dem Mont Ventoux gewesen, noch vor Petrarcas angeblicher Besteigung. Hat den Berg sogar noch vermessen. Aber über den redet kaum jemand, weil jede Kulturgeschichte dem Francesco Petrarca die Bergbesteigung zuschreibt. Und sofort eine Veränderung der Naturauffassung konstatiert. Und was ist mit dem Erzbischof Anno von Köln einige Jahrhunderte früher, der im Alter gerne auf Berge kletterte? Das steht so vor hundert Jahren in der 86-seitigen Dissertation Über Naturgefühl in Deutschland im 10. und 11. Jahrhundert von Gertrud Stockmayer (eine der ersten Studentinnen in Tübingen). Zwischen Anno von Köln und den Herren Lionel Terray und Luis Trenker liegt beinahe ein Jahrtausend literarischer Gipfelbewältigung. Die Stimme von ➱Petrarca ist nur eine unter vielen, seine Liebessonette sind wohl wichtiger als sein hochliterarischer Brief.
Zwei Jahrhunderte nach Petrarca schreibt der Schweizer Arzt und Naturforscher Conrad Gesner ohne jedes literarisierende Brimborium in einem Brief an den hochberühmten Herrn Jakob Vogel: Ich habe mir vorgenommen fortan, so lange mir Gott das Leben gibt, jährlich mehrere oder wenigstens einen Berg zu besteigen, wenn die Pflanzen im Blüte sind, teils um diese kennenzulernen, teils um den Körper auf eine ehrenwerte Weise zu üben und den Geist zu ergötzen. Denn welche Lust ist es, und, nicht wahr, welches Vergnügen für den ergriffen Geist, die gewaltige Masse der Gebirge wie Schauspiel zu bewundern und das Haupt gleichsam in die Wolken zu erheben. Ich weiß nicht, wie es zugeht, dass diese unbegreiflichen Höhen das Gemüt erschüttert und hingerissen wird zur Betrachtung des erhabenen Baumeisters.
Ein Berggedicht habe ich auch noch. Geschrieben von ➱Emily Dickinson, bei der ich nie weiß, ob sie eine bedeutende Dichterin oder nur eine dichtende Hausfrau ist. Aber auf einen Berg ist sie nie geklettert.
In his tremendous Chair --
His observation omnifold,
His inquest, everywhere --
The Seasons played around his knees
Like Children round a sire --
Grandfather of the Days is
He Of Dawn, the Ancestor --
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