Samstag, 20. Juni 2020

Strassenphotographie


Als ich dies Photo zum erstenmal sah, fragte ich mich, ob es wirklich echt war. Also wirklich auf der Straße gesehen und sofort photographiert, keine Inszenierung. Inzwischen weiß ich, dass der Photograph Robert Doisneau zwei Schauspielschüler dafür bezahlt hat, das junge Liebespaar zu spielen. Das Bild war nicht in einer Minute fertig, die Inszenierung hat einen halben Tag gedauert. Er hat das jahrzehntelang geleugnet, musste es eines Tages aber vor Gericht eingestehen.

Die junge Frau auf dem Photo hieß Françoise Bornet, ihre Karriere als Filmschauspielerin war nicht unbedingt großartig. Der vielleicht wichtigste Film, in dem sie eine kleine Nebenrolle hatte, war Die großen Familien, ein Film, der von Jean Gabin lebt. Hier posiert sie ein halbes Jahrhundert später mit dem Photo vor dem Pariser Rathaus. Das Photo, das sie pressewirksam hochhält, ist ein Originalabzug, den sie zur Auktion bringt. Es wird für 155.000 Euro verkauft.

Nicht so berühmt wie das Photo von Doisneau ist dies Photo zweier Liebenden auf der Plattfom eines Busses auf der Avenue Franklin Roosevelt aus derselben Zeit geworden. Es stammt von dem Holländer Nico Jesse, der sich in den fünfziger Jahren auch durch Paris photographierte. Er war eigentlich Arzt, hatte aber schon während seines Medizinstudiums in den dreißiger Jahren Photographien zu Ausstellungen geschickt. In den 1940er Jahren hatte er das von den Nazis besetzte Utrecht photographiert, das Buch erschien 1950 unter dem Titel Zó is Utrecht. Es machte ihn noch nicht berühmt, berühmt wurde er vier Jahre später durch das Photobuch Vrouwen van Parijs, das er zusammen mit André Maurois gemacht hatte.

Es erschien gleichzeitig in deutscher, französischer, schwedischer und englischer Übersetzung, ein erster europäischer Bestseller der Nachkriegszeit. Nico Jesse schloss seine Arztpraxis und wurde Berufsphotograph. Ich habe die deutsche Ausgabe gerade beim Aufräumen wiedergefunden, sie hat mich im Antiquariat Eschenburg mal eine Mark gekostet. Bei ebay und Amazon wollen Händler dafür inzwischen mehr als fünfzig Euro haben. Die deutsche Ausgabe erschien bei Christian Wegner in Hamburg in der Übersetzung von Gerda von Uslar, die auch Marguerite Duras und Alain Robbe-Grillet übersetzt hat.

Juliette Gréco ist mit diesem Photo aus dem Jahre 1952 auch in dem Buch (mehr Juliette gibt es in dem Post Abendlied, der zur Zeit ein Besteller ist), aber das soll nicht heißen, dass nur Prominente und Filmschönheiten in Frauen in Paris sind. Nico Jesse photographiert auch die Arbeiterinnen der Renault Werke in Billancourt, Verkäuferinnen, Näherinnen und immer wieder die Concierge, eine Institution der Bourgeoisie. Maurois hat in dem Buch zu der Pariser Concierge mehr zu sagen als zu Juliette Gréco (obgleich das, was er zu Juliette sagt, auch sehr nett ist).

Straßenphotographie ist inzwischen eine eigene Gattung der Photographie geworden. Wahrscheinlich hat sie mit Eugène Atget, den man den Balzac der Kamera genannt hat, angefangen. Paris is the city of the flâneur. Its streets and boulevards invite perambulation. Its arrondissements are filled with hidden beauty that trigger involuntary memory. Atget was a flâneur, who wandered the city waiting for his 'madeleine moment' to photograph. A chance encounter with a prostitute idling by her front door; a hawker selling wares from a cart; a maitre d‘s blurred face at the door of a restaurant; a shop window filled with mannequins; or the empty cobbled street still warm with the impression of activity, heißt es auf einer schönen Seite zu Eugène Atget im Internet.

Was die Straßenphotographie betrifft, so gibt es in diesem Blog natürlich einen Post zu Robert Frank, und der Engländer Roger Mayne (der eine gute Seite im Internet hat) wird in dem Post Sedanplatz erwähnt. So etwas Ähnliches wie auf diesem Bild (das Photo ist von Frank Horvat) hätte ich auch gerne photographiert. Ich hatte mich vorsichtig in die Mitte einer Kreuzung zweier Boulevards begeben, war ein wenig in die Knie gegangen, um die heranrauschenden Autos einzufangen, als ich einen gellenden Pfiff hörte. Ich drehte mich um und sah einen Flic mit weißem Gürtel, der mir einige Bösartigkeiten zurief. Ich habe nicht alles verstanden, mein Französisch war noch nicht so gut. Ich war sechzehn und photographierte mit meiner Werra durch Paris.

Autos in Paris zu photographieren, ist die eine Sache, Menschen in Paris abzulichten ist eine andere. Indianer haben geglaubt, dass Photographen ihre Seele stehlen würden, wenn sie sie ablichteten. Wir haben eine Scheu davor, fremde Menschen zu photographieren. Nicht die Japaner, die mit ihren Handys sinnlos alles und alle auf den Straßen photographieren. Aber ich. Dies Photo von der Garde Républicaine kann jeder Berufsphotograph machen. Aber ich hätte ein Bild machen können, das es nirgend in der Bilderflut von Google gibt. Ich saß in der Métro und mir gegenüber saß ein Gardesoldat. Es war der 14. Juli, er wollte sicherlich zu einer Parade. Er saß stocksteif da, damit seine weißen Reithosen keine Falten bekamen. Den hochpolierten silbernen Helm hielt er mit beiden Händen fest. Ich habe nicht gewagt, ihn zu photographieren, obgleich ich mit meinem kleinen Ikophot Belichtungsmesser schon die richtige Belichtungszeit herausgefunden hatte.

Ich weiß nicht, warum Nico Jesse heute so gut wie vergessen ist, seine Bücher Frauen in Paris oder Paris in the '60s (als deutscher Titel Sehnsucht nach Paris mit 500 Photos und einem Text von seiner dritten Frau Ute Vallance) verkauften sich gut. Er hatte einen Vertrag mit Sigbert Mohn und photographierte sich durch Europas Metropolen: Menschen in London (aus dem diesem Bild stammt), Menschen in Berlin, Menschen in Rom erschienen alle bei Bertelsmann. Dann gab er die Strassenphotographie auf und wurde Werksarzt bei einer Fleischkonservenfirma, für die er auch die Werbung machte. Zum Ende seines Lebens war er erstaunlicherweise pleite, lagerte seine Photoausrüstung ein und arbeitete für eine Versicherung. Bon vivant achter de camera ist der Titel eines niederländischen Buches über Nico Jesse, vielleicht war er zu sehr Bonvivant.

Vielleicht hat er auch zuviel photographiert. Robert Frank hat von 1955 bis 1957 beinahe 28.000 Aufnahmen quer durch Amerika gemacht, aber für seinen Bildband The Americans nahm er nur 83 dieser Bilder. Nico Jesse ist in Museen vertreten, das MoMa hat Bilder von ihm, und als 1955 die Ausstellung The Family of Man eröffnet wurde, gehörte Jesse auch zu den Photographen, die hier ausstellten. Edward Steichen hatte ihn persönlich eingeladen. Ein Handabzug eines Photos von Jesse bringt heute bei Auktionen vielleicht mal 500 Euro, nicht die 155.000 Euros von Doisneaus Kussszene. Die Ausstellung Family of Man brachte eine Ideologie mit sich: Photos sollten eine Bedeutung haben. Nico Jesses Photos hatten keine tiefgehende symbolische Bedeutung, sie waren Ausschnitte aus dem Leben.

Wie die Menschen in London aussahen, das wusste ich genau. Dank Nico Jesse. Dieser Gentleman ist seit 1959 in meinem Bildergedächtnis gespeichert, weil ich das Buch besitze. Ich habe das schon in dem Post Otto Flake gesagt, dass meine Mutter sich in den fünfziger Jahren eine Mitgliedschaft im Bertelsmann Buchclub hatte aufschwatzen lassen. Wenn ihr bei den Bestellungen nichts einfiel, pickte ich mir die Photobände heraus. Die stehen heute immer noch bei mir im Regal.

You know, doctors work a lot with prescriptions: it seems to us that Nico Jesse works according to the famous example of Goethe’s theatre director: 'Greift nur hinein ins volle Menschenleben! Und wo ihr’s packt, da ist’s interessant'. With his camera, Nico Jesse takes life by the horns. And the result is: life. Against all the academic rules of photographic technique, he can afford to take blurry, moving shots. The final result is not bad photography, but rather increased life. From the perspective of art, professional photographers are technically inclined and can usually be quite annoying. As such, they are likely to make all kinds of derogatory remarks when it comes to Jesse’s photos. Yet none of them can deny that he approaches his subjects in a grandiose way, that he knows how to capture life at its most interesting moments and that this life is always captivating, hat sein Freund Paul Citroen (den Nico Jesse hier 1971 gemalt hat) über ihn gesagt.

Nico Jesse griff hinein ins volle Menschenleben. Die Menschen, die er mit seiner Leica photographierte, hatten den Eindruck, als würden sie ihn schon ewig kennen, hat ein Freund über ihn gesagt. Das hier sind keine Bordsteinschwalben, das sind junge Frauen, die an einem Montagmorgen zur Académie de la Grande Chaumière (wo Walter Sickert einmal Lehrer war) gekommen sind. Montags ist Modellmarkt für Aktmodelle. Aktmodell zu sein ist in Paris ein Beruf wie jeder andere, versichert uns André Maurois im Textteil zu Frauen in Paris. Die jungen Frauen sehen völlig normal aus, sie haben noch nichts von den Frauen an sich, die sich bei Heidi Klum bewerben, um Superstars zu werden. Sie hätten bei Heidi Klum auch keine Chance.

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