Donnerstag, 10. November 2011

Otto Flake


Meine Mutter hatte sich in den fünfziger Jahren (wie so viele Deutsche) ein Abonnement vom Bertelsmann Lesering aufschwatzen lassen. So schlecht war dieser Buchclub aber gar nicht, ich verdanke ihm eine Vielzahl von Leseerlebnissen. Unter anderem verdanke ich ihm Otto Flake, der damals so eine Art Hausautor von Bertelsmann zu sein schien. Von ihm las ich zuerst Die Monthiver Mädchen und Hortense. An die anderthalbtausend Seiten von dem Fortunat habe ich mich erst viel später gewagt. Ich wusste nichts über das Leben von Otto Flake. Ich wusste nicht, dass die Bücher bei Bertelsmann dem Autor nach einem halben Jahrhundert Schriftstellerleben eine völlig neue Karriere und Millionenauflagen beschert hatten.

Denn bevor er von zwei jungen Männern namens Rolf Hochhuth und Karl Ludwig Leonhardt, die für Bertelsmann arbeiteten, entdeckt wurde, war Flake völlig vergessen. Verarmt, krank. Keiner seiner Verleger wollte noch ein Buch von ihm neu herausbringen. Aber jetzt geschieht so etwas wie ein Wunder: Die Monthiver Mädchen, Hortense und Schloß Ortenau werden zu Bestsellern mit Millionenauflage. Bertelsmann Cheflektor Karl Ludwig Leonhardt wird noch Geschäftsführer von Rütten & Loening (und ein bedeutender Sammler erotischer Literatur), und Rolf Hochhuth wird Rolf Hochhuth. So finanziell schön das alles für Otto Flake ist, er muss auch feststellen, dass Sigbert Mohn nicht alles druckt, was dem Schriftsteller lieb und teuer ist. Aber Auflagezahlen sind nicht alles: angesichts dieser Zahlen konnte ich mich für einen Mann des Erfolges halten. Aber die Wirkung in die Nation hinein? Hundertmal im Jahr fiel mir auf, daß ich überhaupt keine Rolle spielte, keine Beachtung fand, keine Stellung einnahm. Es bedeutete nicht viel, ein deutscher Autor zu sein. Das steht in dem 1963 geschriebenen Das letzte Kapitel, das später der Autobiographie Es wird Abend beigefügt wurde.

Der vielleicht wichtigste Roman Flakes, der Fortunat, wird von der Begeisterungswelle für Flake in den fünfziger Jahren nicht mitgetragen. Vielleicht liegt es daran, dass er so lang ist. Zwei Bücher, insgesamt anderthalbtausend Seiten und je nach Ausgabe bis zu anderthalb Kilo schwer. Fortunat ist bei Fischer erschienen, dem Verlag, dem Flake lange treu geblieben ist. Er hatte 1933 auch das Gelöbnis treuester Gefolgschaft unterschrieben, aber nur weil Samuel Fischer ihn darum gebeten hatte. Er wollte damit Fischers Verlag schützen, mit den Nazis hatte er nichts im Sinn. Dabei hätten die den blonden Hünen aus Lothringen gerne als Vorzeigegermanen gehabt. Flake ist auch zur Beerdigung Samuel Fischers gekommen, er war einer der wenigen Autoren des Fischer Verlages, der am 18. Oktober 1934 den Weg zum jüdischen Friedhof in Weißensee gefunden hatte. Die Reichskulturkammer schickte keinen Vertreter, der Börsenverein auch nicht.

Es ist ein gewaltiges Zeit- und Sittenbild, das Flake da während des Zweiten Weltkrieges schreibt.  Ein kultureller europäischer Ideenteppich, gewoben von einem Intellektuellen, der seine Heimat Frankreich und seine Heimat Deutschland miteinander zu verbinden versuchte. Dieser Roman ist seine innere Emigration: Vierzehn Monate vor dem Ausbruch des Krieges begonnen, hat er mich bis zum Ende des Jahres 1943 beschäftigt und mir erlaubt, dies Zeit des Unglücks der Völker als eine Klausur anzusehen, auf die eine Arbeit von solcher Breite drängt. Der Roman ist eine fiktive Biographie des Jacques Fortuné Kestenholz, Sohn eines badischen Bauernmädchens und eines russischen Adligen in französischen Diensten. Unser Held wird ein Jahrhundert durchleben, und der Autor wird ihn viele berühmte Leute kennenlernen lassen. Es ist ein Bildungsroman in einem doppelten Sinne: auch der Leser geht gebildet aus dieser Lektüre hervor. Flake hat diesen während der Zeit des Nationalsozialismus geschriebenen Roman als einen europäischen Gegenentwurf konzipiert und das geistvolle 19. Jahrhundert gegen diese geistlose Zeit gestellt. Da wir in Deutschland schon wieder einmal in einer relativ ärmlichen Zeit leben, wäre die Lektüre dieses riesigen Bilderbogens doch ein Vademecum. Gut, man kann heute Geschichten von tintenherzigen Feuchtgebieten lesen, aber das ist nichts gegen das Leseerlebnis dieses Romans.

Waterloo war geschlagen. Es dauerte geraume Zeit, bis die Nachricht in die äußerste Ecke des Elsaß drang. Hüningen deckte dort den Übergang bei Basel. 
   Die Feste stammte wie Neubreisach und Kehl aus den Tagen, als Ludwig der Vierzehnte sich am Rhein festsetzte. Jetzt wurde sie von zwei Pelotons, einer Handvoll Zöllner und einem Haudegen von Kommandant gehalten. Der Belagerer dieses Barbanègre war Erzherzog Johann. Er sicherte für alle Fälle die Rückzugslinie nach München, das Millionenheer der Österreicher und Russen stand tief in Frankreich. 
   Als Hauptquartier diente dem Erzherzog das alte Basel. Es verpflegte überdies sein Heer und lieh ihm Waffenhilfe. Barbanègre hätte mehr als einen Grund gehabt, die Stadt aufs Korn zu nehmen. Mit Mauern, Türmen, Wällen spiegelte sie sich im resedafarbenen Strom. Der Franzose schonte sie und wußte, weshalb er es so hielt: Beliefern mußte sie auch ihn. 
   Wenn dem Baron des Kaiserreiches die Vorräte ausgingen, pochte er mit ein paar trefflich berechneten Kugeln an ein Tor. Die Handelsherren wurden alsbald beim Erzherzog vorstellig, schickten einen Unterhändler nach Hüningen und vernahmen, was dort benötigt wurde, Tuch oder Leder, Brot oder Wein. Sie beschafften es, dann durfte der Erzherzog wieder schießen. Warum auch nicht, man hatte Zeit, und die Entscheidung fiel weit von hier. 
   Der Kaiser also war schon an Bord der englischen Fregatte; doch über Hüningen flatterte seine Fahne noch, im Talwind des Rheines und in einer Buschlandschaft, die an die immergrüne Macchia Korsikas erinnerte. Am stolzesten, empfand der Kommandant, wenn der Wind aus dem Westen kam und die Fahne nach Osten drehte, zum Tal der Wiese, zum Feldberg hin. Dann war er überzeugt, daß die Adler seines Herrn den Schwarzwald noch einmal überflögen. 
   Die Botschaft aus Belgien traf bei Freund und Feind gleichzeitig ein. Der Erzherzog erhielt sie amtlich in richtiger Form, der Baron unter der Hand in falscher, als Kunde von einem Sieg des Korsen. Und beide Männer setzten fest, das Ereignis sei zu feiern...

1946 schrieb Otto Flake im Nachwort zu Fortunat: Ich gebe mich anmaßend der Meinung hin, daß man ihn in dreißig Jahren den klassischen Roman der neuen Vernünftigkeit nennen wird. Leider nicht, dreißig Jahre später hatte man ihn vergessen.

Otto Flake ist heute vor achtundvierzig Jahren in Baden-Baden gestorben. Da gibt es auch noch eine Otto Flake Straße. Seine Autobiographie Es wird Abend ist im Handel noch lieferbar. Ansonsten ist beinahe alles vergriffen, man kann seine Bücher aber noch antiquarisch finden (eine Flake-Gesamtausgabe gibt es leider nicht). Die Lektüre lohnt sich unbedingt, fangen Sie doch einfach mit dem Fortunat an: Waterloo war geschlagen. Es dauerte geraume Zeit, bis die Nachricht in die äußerste Ecke des Elsaß drang....

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen