Sonntag, 20. November 2011

Tango


Am 20. November des Jahres 1913 soll der deutsche Kaiser ein Verbot für das Tangotanzen von Offizieren in Uniform erlassen haben (Dieser Tanz führt den deutschen Offizier auf Irrwege). Und im gleichen Jahr hat die Königlich Sächsische Polizeidirektion in Dresden festgestellt: Diese Tänze verletzen das Sittlichkeitsgefühl, weil die Tänzerin dabei häufig die Beine seitwärts abspreizt, sodass man die Unterkleider und die Strümpfe sieht. Das geht ja nun gar nicht, wo bleibt da das decorum? Walzer ist gesellschaftsfähig (war er auch nicht immer), Tango auf keinen Fall. Auf jeden Fall nicht für Wilhelm II. Majestät bevorzugen ja eher Märsche wie Preußens Gloria. Die Oper Der Rosenkavalier verließ er mitten in der Vorstellung, nicht ohne ein Det is keene Musik für mich! von sich zu geben. Der Anlass für das Tangoverbot lag nicht irgendwo in der Gosse - wohin das argentinische Rinnsteinkind nach landläufiger Meinung gehörte - sondern in den feinsten Kreisen. Die Gattin des Präsidenten des preußischen Landtags Hans Axel Tammo Graf von Schwerin-Löwitz hatte in den Räumen des Landtags zu einem Tango-Tee geladen. Shocking. Drüben in Argentinien ist der Tango die Musik der Sehnsucht der kleinen Leute. Und hier gibt es einen Tango-Tee für die wilhelminische Schickeria.

Wilhelm II  hätte vor seinem Verbot mal nach Rom hätte schauen sollen. Da hatte der Papst Pius X zwar zu Anfang des Jahrhunderts den Tango als sündhaft bezeichnet und den katholischen Gläubigen das Tangotanzen verboten. Aber dann soll ein argentinischer Tangotänzer nach Rom gereist sein und dem Papst vorgetanzt haben. Woraufhin der das Tanzverbot zurücknahm. Wir wollen mal hoffen, dass die Geschichte wahr ist. Das Verbot des Tanzens ist so alt wie das Tanzen selbst. Denn Tanzen ist nichts anderes denn eine Bewegung zur Geilheit, ein Spiel, das allen Frommen übel ansteht, vom lebendigen Teufel, Gott zur Schmach, erfunden... Das wüste Umlaufen, das unzüchtige Drehen, Greifen und Maullecken ist Sünde... Sagt Cyriacus Spangenberg in seinem Ehe-Spiegel im Jahre 1578.

Als ich auf der Heeresoffizierschule war, standen Gesellschaftstänze noch auf dem Dienstplan. Es wurde sogar vom Kommandeur der HOS zum Ende des Lehrgangs kontrolliert, ob die Offiziersanwärter tanzen konnten. Natürlich ohne Tango, war wohl zu schwer. Boogie-Woogie durfte getanzt werden, soweit war der Verfall der Sitten schon fortgeschritten. Am Ende des Lehrgangs gab es auch einen kleinen Abschlussball, ich bin sicher, dass sich unser Hörsaaloffizier Haltungsnoten in sein kleines schwarzes Büchlein notierte. Es wurde damals übrigens auch die Beherrschung der französischen Sprache gefordert (Englisch, Sportabzeichen und DLRG Schein waren eh selbstverständlich).

Und dann gab es auf dem Dienstplan noch das korrekte Öffnen von Sektflaschen und den Handkuss. Für den Handkuss bekam ein Lehrgangsteilnehmer einen weißen Baumwollhandschuh angezogen und dann ging das los. Stundenlang Handkuss, bis jeder das im Schlaf beherrschte. All dies zielte auf Formen des Benehmens ab, die für den adligen Offizier des 18. Jahrhunderts selbstverständlich waren und die sich beharrlich (wenn auch erstarrt) über Jahrhunderte gehalten haben. Aber im 18. Jahrhundert gab es natürlich noch keinen Tango. Obgleich es damals (und in allen Jahrhunderten zuvor) auch Tänze gab, die als unschicklich empfunden wurden. Wie die unzüchtige Volta, die zum Lieblingstanz Elizabeth I wurde. In der Kulturgeschichte der Menschheit gehört vieles Unschickliche eine Generation später zur akzeptierten Kultur (natürlich nicht das Benehmen von Ronald Pofalla oder der Betrug von Herrn von und zu ➱Guttenberg). Wenn über den Tango gesagt wird, dass er Bordellmusik sei, kann man das gleiche über den Jazz sagen.

In der ➱Tanzstunde der fünfziger Jahre gehörte der Tango selbstverständlich zum Pflichtprogramm, genau wie die Tatsache, dass man mit Schlips und Kragen zum Tanzunterricht kam. Der Besitzer meiner Tanzschule, Nico Arff, hatte ein Holzbein, das ihn beim Tanzen aber nicht behinderte. Er konnte es beim Eins, Zwei, Tangoschritt laut hörbar über das Parkett schleifen lassen, das sah sehr elegant aus. Die Tanzstunde hat sich in den letzten fünfzig Jahren gewandelt. François Knaak und Nico Arff gibt es nicht mehr. Die Standardtänze auch nicht. Die Disco hat das alles überflüssig gemacht. Ich nehme mal an, dass bei der Bundeswehr inzwischen das Üben des Handkusses auch weggefallen ist. Ich sehe heute Bundeswehroffiziere ohne Handschuhe auf den Straßen; wir mussten die schon tragen, wenn sich die Tür des Offizierkasinos hinter uns schloss und wir den Kasernenhof betraten.

Man mag all diese Formen für überflüssig halten, so wie der Neuankömmling im Dschungel von Borneo, der in ➱Somerset Maughams Kurzgeschichte The Outstation von Mr Warburton folgende Lektion erteilt bekommt: When I lived in London I moved in circles in which it would have been just as eccentric not to dress for dinner every night as not to have a bath every morning. When I came to Borneo I saw no reason to discontinue so good a habit. For three years during the war I never saw a white man. I never omitted to dress on a single occasion on which I was well enough to come in to dinner. You have not been very long in this country; believe me, there is no better way to maintain the proper pride which you should have in yourself. When a white man surrenders in the slightest degree to the influences that surround him he very soon loses his self-respect, and when he loses his self-respect you may be quite sure that the natives will soon cease to respect him. Maughams Mr Warburton mag etwas spießig wirken, aber er hat auf einer höheren Ebene Recht mit seiner Beschreibung der white man's burden. Das Empire gründet sich auf die stiff upper lip und auf das Einhalten von Regeln. Warburton ahnt auch, dass sein dinner jacket ihn davor bewahrt, unterzugehen wie der Mr Kurtz in Joseph Conrads Roman Heart of Darkness.

Die Zivilisation ist für die geistigen Nachfolger von Wilhelm II immer dabei zusammenzubrechen, aber es werden andere Dinge als der Tango sein, die den Untergang des Abendlandes herbeiführen. Wilhelm mit seinen hunderten von Uniformen und seiner sinnentleerten Einhaltung von absurden Etiketteregeln hat uns in den Ersten Weltkrieg gebracht. Nicht die saudade, nicht der Tango zu den Klängen des Bandoneons. Denn der Tango ist mehr als ein Tanz. Wie Enrique Santos Discepolo es formulierte, ist er ein trauriges Gefühl, das man tanzen kann.

Ich bin kein Fachmann für den Tango. Jeder Argentinier ist Fachmann. Und wahrscheinlich auch jeder Finne. Dass ich den Erlass seiner Majestät zum Anlass nehme, um über Tango zu schreiben, hat mit diesen Bildern zu tun. Und mit Gerd Newiger, der diese Intarsien-Bilder mit den Tangoszenen gemacht hat und alles über das Bandoneon weiß, weil er diese Instrumente auch repariert.

Da hat der Heinrich Band aus Krefeld, der das Instrument aus der Concertina entwickelt hat, ganz schön was angerichtet. Was wäre Astor Piazolla ohne ihn? Das Bandoneon wurde das Instrument für die argentinischen Tangokapellen. Es wurde aber auch um 1900 zum Instrument von deutschen Arbeitervereinen. Bevor die Nazis an die Macht kamen, gab es in Deutschland noch hunderte von Bandoneon Orchester. Heute sind es nicht mehr so viele. Eher ganz wenige. Aber ich weiß, dass es wenige Kilometer von meinem Heimatort Vegesack entfernt noch einen gibt. Bevor ich Gerd Newiger kennenlernte, wusste ich nichts von vom wichtigsten Musikinstrument des Tangos. Ich weiß, dass die Finnen verrückt nach Tango sind. Die Japaner auch. Die liebten Hans Schmidt-Isserstedt und das NDR Sinfonieorchester, weil er auf seinen Japan-Tourneen immer einen Tango im Programm hatte. Aber ich hatte niemals Astor Piazolla und das Kieler Bandonions Orchester (über das es sogar einen ➱Dokumentarfilm gibt) gedanklich miteinander verbunden. Inzwischen weiß ich mehr. Und wenn Sie auch mehr wissen wollen, dann lesen Sie doch bitte mal eben diese wunderbare ➱Geschichte von Gerd Newiger, die sich auf den Internetseiten von Hans Fander findet. Ich kann die Lektüre der Geschichten auf den Seiten ➱Meine Erzählungen und ➱Andere Geschichten nur wärmstens empfehlen.

Das Ganze fing damit an, dass ich bei Hans Fander (Bild) eingeladen war. Bis auf meinen Studienfreund ➱Hannes Hansen und den Buchhändler und Kieler Kulturpreisträger Eckart Cordes (der in seinem Leben beinahe alle deutschen Autoren in seine Buchhandlung geholt hatte und mit den meisten befreundet ist) kannte ich keinen der Gäste. Aber das sollte sich schnell ändern. Das Gute war: keiner der Gäste kam aus der Universität. Das sind furchtbare Abende mit Hochschullehrern (nur eine Lehrerkollegiums Party ist noch schlimmer - ich weiß, wovon ich rede). Am Anfang bemühen sie sich noch um gepflegte Konversation (the thin layer of civilization), den Rest des Abends schludern sie dann über Kollegen und Studenten. Aber hier war alles anders. Obgleich wir uns nicht kannten, verstanden wir uns sofort. Dafür brauchten wir nicht einmal die vom Gastgeber bereitgestellten alkoholischen Köstlichkeiten.

Es wurde ein wunderbarer Abend. Wir redeten bei Rippchen und Kartoffelsalat über die verhängnisvolle deutsche Marinetradition und deutsche Großadmirale, die lokale Kulturpolitik und komplett unfähige Kulturdezernenten (die vielleicht eher zum Untergang des Abendlands beitragen als der Tango). Über die Einsamkeit des Spaziergängers nachts in amerikanischen Großstädten und im Londoner Hyde Park. Über die Légion Étrangère, in der Hans Fander als junger Mann zur Zeit von ➱Dien Bien Phu gewesen war. Über deutsche Truppenübungsplätze (weil der pensionierte Oberst und ich alle kannten) und den Unterschied im Sozialverhalten von deutschen und englischen Offizieren. Und wir redeten natürlich über Bandoneons und das Kieler Bandonion Orchester, der Regisseur des Dokumentarfilms über das Orchester, Karl Siebig, gehörte auch zu den Gästen. Und ich durfte natürlich die Intarsien-Bilder mit dem Thema ➱Tango von Gerd Newiger bewundern, die an den Wänden hingen (also jene Bilder, die nicht vom Gastgeber selbst gemalt worden waren). Zuerst glaubt man, dass die Personen auf das Holz gemalt sind, aber dann erkennt man, dass es Intarsienarbeiten sind. Da kann man auf fünf Zentimeter herangehen und die dicke Lesebrille aufsetzen, da erkennt man keine Übergänge, so fein sind die gearbeitet.

In drei Wochen gibt es im Rathaus der Stadt Kiel im Rahmen der Veranstaltungen zur Hundertjahrfeier des Rathauses eine Ausstellung Die Kunst der Intarsie. Maritimes Kiel und mehr. Kunstvolle Einlegearbeiten mit Bildern von Gerd Newiger. Die Ausstellung wird am 5. Dezember um 17 Uhr im Foyer des Rathauses von der Stadtpräsidentin Cathy Kietzer eröffnet. Und natürlich gibt es auch Bandoneonmusik, weil Günter Trauer aus Berlin kommt. Bis dahin können sie den ja schon mal auf ➱YouTube hören.


P.S. (6. Dezember 2011) Gerd Newiger, zu dessen Ausstellungseröffnung ich gestern war, schickte mir per Mail ein Gedicht von Julius Cortazar. Das hat ihm seine Tochter Nicole einmal zum Geburtstag geschenkt. Das Gedicht ist so hübsch, das ich es gerne hier zitiere:

Guten Abend, liebes Bandoneon, wie schön,
dass es Dir gut geht und Du in guten Händen
bist... Komm mir nicht mit Schüchternheit,
Meister Blasebalg, lass mich Deine Musik hören;
Ich begleite Dich mit Wein, Tabak und der ganzen
Sehnsucht und Erinnerung, Die Deinen Namen trägt,
 denn Du heißt Ciriaco Ortiz, Federico, Laurenz,
Du heißt Piazzolla, Pichuco... so viele andere
Namen, und diese Nacht heißt Du Juan Jose Mosalini.
Du siehst, ich kenne Dich; atme tief und fang an,
erzähl mir von Buenos Aires, das jetzt so weit weg
ist für mich, erzähl mir von meinem Leben als
kleiner Bub und Junge...
und danke, liebes Bandoneon. 


Und wenn es hier schon Cortazars Buenas noches, che bandoneón gibt, dann sollte natürlich die Aufnahme von J.J. Mosalini ➱hier nicht fehlen.

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