Sonntag, 7. Juni 2020

die Jungfer Lotte


Am 7. Juni 1843 ist der dreiundsiebzigjährige Dichter Friedrich Hölderlin in Tübingen gestorben. Charlotte Zimmer, die Lotte oder Lottle genannt wurde, war dabei. Nach dem Tod Hölderlins schreibt sie an seinen Halbruder Karl GokHochzuverehrender Herr Hofrath Ich nehme mir die Ehre Ihnen die sehr traurige Botschaft zu ertheilen von dem sanften Hinscheiden Ihres geliebten Herrn Bruders, seit einige Tage hatte Er einen Chartharr und wir bemerkten eine besondere Schwäche an Ihn wo ich dann zu Profeßor Gmelin ging u Er eine Arznei bekam spielte diesen Abend noch und aß in unserem Zimmer zu Nacht, nun ging er ins Bett, mußte aber wieder aufstehen und sagte zu mir, er könne vor Bangigkeit nicht im Bett bleiben, nun sprach ich ihm doch zu und ging nicht von der Seite. Er nahm kurz einige Minuten noch Arznei es wurde ihm aber immer banger ein Haußherr war auch bey Ihm u ein anderer Herr welcher Ihm gewacht hätte mit mir nun verschied Er aber so sanft ohne noch einen besondern Todeskampf zu bekommen meine Mutter war auch bey Ihm, an das Sterben dachte freilich kein Mensch von uns. Die Bestürzung ist nun so groß, daß mirs übers Weinen hinaus ist, und dennoch dem lieben Vater im Himmel tausendmal danken muß, daß Er kein Lager hatte, und unter tausend Menschen wenige so sanft sterben, wie Ihr geliebter Herr Bruder starb.

Die Lotte hatte ihn die letzten Jahre gepflegt. Als sie 1813 geboren wurde, war der kranke Dichter schon seit sechs Jahren in der Pflege ihrer Eltern. Der Schreinermeister Ernst Zimmer und seine Familie sind nicht reich, Hölderlin ist nicht arm. Da ist das Erbe von den Eltern Hölderlins und eine kleine Rente vom würtembergischen Hof. Verwaltet wird das von Hölderlins Vormund, dem Oberamtspfleger Israel Gottfried Burk, dem die Zimmers alles auf Heller und Pfenning abrechnen müssen. Er verreißt auch viel am Bettgewand, weil Er so unruhig schlaft, schreiben die Zimmer, das Bettgewand muss zum Beweis an den Vormund geschickt werden. Alles muss abgerechnet und belegt werden, ob es neue Hemden, Hosenträger oder ein Viertele Wein sind. Israel Gottfried Burk macht mit dem Vermögen von Hölderlin gute Geldgeschäfte, indem er den Nürtinger Bauern Darlehen zu fünf Prozent gewährt. Die letzte Ausgabe vor den Beerdigungskosten sind 24 Kreuzer  für den Schwamm, mit dem Hölderlins Leiche gewaschen wurde.

Mittags liest Er gewöhnlich in seinem Hyperion, u. Abends läuft er im Haus oder Gärtle spazieren, hat Lotte Zimmer im Sommer 1840 geschrieben. Gibt es irgendetwas zwischen dem Mädchen und Hölderlin? Wir wissen es nicht. Er träumt immer noch von seiner Diotima, wenn er wieder einmal nach Frankfurt zu seiner Diotima will, nimmt ihm Lottes Vater die Stiefel weg. Da bleibt ihm nur das Gärtle und der Hyperion: Wenn euer Garten so voll Blumen ist, warum erfreut ihr Othem mich nicht auch? – Wenn ihr so voll der Gottheit seid, so reicht sie mir zu trinken. An Festen darbt ja niemand, auch der Ärmste nicht. Aber Einer nur hat seine Feste unter euch; das ist der Tod. Not und Angst und Nacht sind eure Herren. Die sondern euch, die treiben euch mit Schlägen an einander. Den Hunger nennt ihr Liebe, und wo ihr nichts mehr seht, da wohnen eure Götter. Götter und Liebe? O die Poeten haben recht, es ist nichts so klein und wenig, woran man sich nicht begeistern könnte. So dacht ich. Wie das alles in mich kam, begreif ich noch nicht. Versteht er das noch, was er da geschrieben hat?

Der Schreinermeister Ernst Zimmer hatte in seiner Jugend den Hyperion gelesen, er bewunderte den Dichter, und bevor Hölderlin in seine Obhut kam, hatte er ihn in der Psychiatrie besucht. Wenn er ihm auch die Stiefel wegnimmt und ihm mal eine scheuert, wenn Hölderlin zu sehr tobt, der kranke Dichter weiß, dass er bei ihm gut aufgehoben ist. Er darf auch auf dem Klavier spielen, dass Zimmer für seinen Sohn gekauft hat. Wenn er Besuch hat, improvisiert er gerne phantastische Melodien: Während des Spielens sieht der Wahnsinnige oft bei einer rührenden oder kunstvoller ausgeführten Stelle mit seinen schwimmenden blicken die Gäste lange an u. fährt dann wieder in den gewöhnlichen, oft etwas krampfhaften Bewegungen unbekümmert um die Anwesenden fort. Schreibt Christoph Theodor Schwab (der Sohn von Gustav Schwab), der Hölderlin dazu gebracht hat, wieder Gedichte zu schreiben. Er wird auch die Grabrede auf den Dichter halten.

Für Ernst Zimmer hatte Hölderlin auch Gedichte geschrieben, wie dieses, das den Titel An Zimmern hat:

Von einem Menschen sag ich, wenn der ist gut
Und weise, was bedarf er? Ist irgend eins,
Das einer Seele gnüget? ist ein Halm, ist
Eine gereifteste Reb' auf Erden

Gewachsen, die ihn nähre? Der Sinn ist des
Also. Ein Freund ist oft die Geliebte, viel
Die Kunst. O Teurer, dir sag ich die Wahrheit.
Dädalus Geist und des Walds ist deiner.

Für Lotte, die er manchmal die heiligste Jungfer Lotte nennt, hat er keine Gedichte geschrieben. Aber sie ist nicht vergessen. Die Hölderlin Forschung kennt sie aus den Pflegschaftsakten. In den 1990er Jahren hat man Akten entdeckt, die man bisher nicht kannte. Das Ganze ist gesammelt in Gregor Wittkops Hölderlin. Der Pflegsohn. Texte und Dokumente 1806 - 1843; und Gregor Wittkop hat 1997 zusammen Angelika Overath bei der Friedenauer Presse ein kleines Bändchen mit dem Titel Von der Realität des Lebens: Hir das Blatt herausgebracht, in dem Lotte Zimmer zu Wort kommt.

In Tübingen gibt es seit 2006 ein Lotte Zimmer Haus für Menschen mit psychischen Erkrankungen, und seit 2011 ein Lotte Denkmal. Das Karl Corino in seinem Artikel Warum weder Hölderlin noch Lotte Zimmer dieses Denkmal verdienen ganz fürchterlich findet: 'Für Lotte' ist in das Denkmal zu ehren sollendem Gedenken eingeritzt. Aber solche drei Meter hohen Denkmale sind oft, wie Robert Musil sagt, von 'ganz ausgesuchter Bosheit'. Da man den zu verewigenden Menschen 'im Leben nicht mehr schaden kann, stürzt man sie gleichsam mit einem Gedenkstein um den Hals ins Meer des Vergessens'. Man kann wenig dazu sagen, die Abbildungen im Netz geben kaum etwas her.

Vielleicht wäre das beste Denkmal für Lotte ein hölzener Tisch. Im Mai 1859 notiert der Theologiestudent Ernst Friedrich Wyneken, der zur Miete in dem Zimmer wohnt, in dem Hölderlin lebte, in seinem Tübinger Tagebuch: Um 7 1/4 Uhr erzählte mir Jungfer Loddle, daß ich ja den Tisch vor meinem Sopha solle in Ehren halten da habe der Dichter Hölderlin mit d. Hand geschlagen, wenn er Streit gehabt - mit seinen Gedanken! Sei gest. 1843 und habe in ihrem Hause gewohnt. Und wenn sie fortziehen müsse - sie nähme den Tisch mit! Sie wird das Hölderlinstischle mitnehmen, wenn sie fortzieht, sie kann das Haus der Eltern nicht halten. Wenn sie beinahe mittellos 1879 in Tübingen stirbt, hat sie den Tisch immer noch. Er ist immer noch im Familienbesitz.


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