Dienstag, 20. April 2021

alles dahin


Ein Freund schickte mir ein Gedicht von Craig Morgan Teicher, das gerade im New Yorker veröffentlicht worden war. Den New Yorker hatte ich früher auch mal jahrzehntelang im Abo. Als ich an der Uni aufhörte, habe ich ganze Stapel davon an Studenten verschenkt. Und dass ich Adam Gopnik schätze, kann man hier schon lesen. Der Dichter Craig Morgan Teicher machte mit dem Gedicht Werbung für sich selbst, auf seiner Homepage kann man lesen: My poem Peers, is in 'The New Yorker' this week. It’s the first poem in Welcome to Sonnetville, New Jersey, so if you read it now, you're already two pages into the book! Das Buch Welcome to Sonnetville, New Jersey erschien gleichzeitig in dem BOA Verlag am 6. April. Und ich habe das Gedicht Peers mit einigen Tagen Verspätung hier auch:

I’m thinking of you beautiful
and young, of me young

and confused and maybe
beautiful. There were lots of us—

these were our twenties, when,
post-9/11, we were about to

inherit the world, and we had no idea
what to do with it. And look

what we did, and we didn’t.
And now look at us, and it.

We turned away for a blip, started
whispering, kissing, had kids,

bought houses, changed bulbs,
submitted claims, changed channels,

FaceTimed, streamed, upgraded,
were two-day-shipped to, and midway

through our prime earning years
we look up again, decades groggy,

decades late. Forgive us, we thought—
but now it doesn’t matter. These are our

outcomes, consequences, faults,
forties, when the hourglass

is beeping and bleak and people
like us have memories like this

and wonder if the beauty that’s left
is really still beautiful, if it was.

Das beklagen Dichter immer wieder, bei François Villon heißt das griffig: où sont les neiges d'antan. In der Mail fand ich nicht nur das Gedicht, es stand auch dabei: der kennt seinen walther, schaetz ich mal: Owê war sint verswunden alliu mîniu jâr! ist mir mîn leben getroumet, oder ist ez wâr? Mein Freund schreibt alles klein, tat ich auch mal, habe ich im Post Nachbild gestanden. Aber der Hinweis auf Walther von der Vogelweide hatte es in sich, klein geschrieben oder nicht. Wenn wir uns einmal den Anfang des Gedichts von Walther von der Vogelweide anschauen, dann gibt es da durchaus Gemeinsamkeiten:

Owê war sint verswunden alliu mîniu jâr!
ist mir mîn leben getroumet, oder ist ez wâr?
daz ich je wânde ez wære, was daz allez iht?
dar nâch hân ich geslâfen und enweiz es niht.
nû bin ich erwachet, und ist mir unbekant
daz mir hie vor was kündic als mîn ander hant.
liut unde lant, dârinne ich von kinde bin erzogen,
die sint mir worden frömde reht als ez sî gelogen.
die mîne gespilen wâren, die sint træge unt alt.
vereitet is daz velt, verhouwen ist der walt:
wan daz daz wazzer fliuzet als ez wîlent flôz,
für wâr mîn ungelücke wande ich wurde grôz.
mich grüezet maneger trâge, der mich bekande ê wol.
diu welt ist allenthalben ungenâden vol.
als ich gedenke an manegen wünneclîchen tac,
die mir sint enpfallen als in daz mer ein slac,
iemer mêre ouwê.

Falls Sie nicht Germanistik studiert haben und einen benoteten Schein eines Mitttelhochdeutsch
Seminars besitzen, habe ich die Klage auf das Verschwinden der schönen Zeit auch noch auf Neuhochdeutsch in der Übersetzung von Richard Zoozmann aus dem Jahre 1907:

O Weh! Wohin entschwunden ist mir doch Jahr um Jahr?
War nur ein Traum mein Leben? Ach, oder ist es wahr?
Was ich als wirklich wähnte, wars nur ein Traumgesicht?
So hätt ich denn geschlafen und wüßt es selber nicht?
Nun bin ich wach geworden und mir blieb unbekannt,
Was mir zuvor vertraut war wie diese jener Hand.
Und Leut und Land, darin ich von Kindheit an erzogen,
Sind mir so fremd geworden, als war es schier erlogen.
Die mir Gespielen waren, sind heute träg und alt,
Umbrochen ist der Acker, geforstet ist der Wald.
Wenn nicht genau wie einstmals noch heut das Wasser flösse,
Fürwahr, ich wähnte wirklich, daß Unglück mich umschlösse.
Mich grüßet lauwarm mancher, der sonst mich gut gekannt,
Die Welt ist voller Ungnad und fiel aus Rand und Band.
Mit Schmerz denk ich an manchen so wonnevollen Tag,
Der spurlos mir zerronnen als wie ins Meer ein Schlag:
Für Ewigkeit, o weh!

Und dann habe ich noch etwas Interessantes, eine englische Übersetzung von dem renommierten Übersetzer John Irons:

Alas what has become of all my years now past!
has my life been a dream, or real from first to last?
that formerly imagined, was it really so?
I have slept since then and I really do not know.
now I have awakened to find all that I knew
as closely as my own hand seems strange and untrue.
the folk and land to which since boyhood I’ve close ties
feel now so unfamiliar as were they but lies.
those who were my playmates are lethargic and old.
the fields destroyed by fire, the woods all felled and sold:
Had not the river flowed where long since it did before,
my misery indeed I believe had pained me sore.
I get but distant greeting from those who knew me well.
and everywhere the world is a thankless place to dwell.
and when I recollect many blissful days of yore,
they’ve vanished as in water the marks left by an oar,
ever more alas.

Zwischen dem Gedicht von Craig Morgan Teicher und dem von Walther von der Vogelweide liegen beinahe achthundert Jahre. Man kann Walther und all die anderen Minnesänger heute noch immer lesen, ob man den amerikanischen Dichter in achthundert Jahren noch liest, das weiß ich nicht.

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