Donnerstag, 15. April 2010

Nationalstolz


1969 hat John Updike in der englischen Zeitschrift New Statesman ein Gedicht veröffentlicht, das er Minority Report betitelte (den Spielfilm dieses Namens mit Tom Cruise gab es noch nicht, sonst hätte sich Updike das mit dem Titel vielleicht noch mal überlegt).

Minority Report

My beloved land
here I sit in London,
overlooking Regent's Park 
                                                            }  both green
overlooking my  new Citroen
exiled by success of sorts.
I listen to Mozart
in my English suit and weep.
remembering a Swedish film.

But it is you,
really you I think of:
your nothing streetcorners
your ugly eateries
your dear barbarities
and vacant lots
(Br'er Rabbit demonstrated:
freedom is made of brambles).

They say over here you are choking
to death on your cities and slaves,
but they have never smelled dry grass,
smoked Kools in a drugstore,
or pronounced a flat 'a', and honest 'r'.
Don't read your reviews,
A✭M✭E✭R✭I✭C✭A
you are the only land.

Geistreich, witzig, Vintage Updike. Viele wissen nicht, dass er auch noch gedichtet hat, acht Bände voller Gedichte. Und dazu die Romane, beinahe so viel wie Charles Dickens. Und dann die Essays, wirklich schlaues Zeug. Und auch noch Kinderbücher. Wann hat John Updike geschlafen, hatte er noch ein wirkliches Leben, außer dass er sein eigener Schreibsklave war? Aber den Nobelpreis, den hat er nie gekriegt. Dafür aber eine literarische Liebeserklärung eines Schriftstellerkollegen, die es in der Welt der Literatur kein zweites Mal gibt: Nicholson Bakers U and I: A True Story. Eigentlich ist das Buch mehr wert als ein Nobelpreis.

Updike hat im New Statesman sein Gedicht mit zahlreichen Anmerkungen versehen, fünfmal so lang wie das Gedicht. Das haben vor ihm schon andere gemacht, Edgar Allan Poe hat zu seinem Gedicht The Raven einen langen theoretischen Essay geschrieben. Diese Anmerkungen sind manchmal überflüssig, wie der Name des Schneiders seines neuen Anzugs (Cyril A. Castle), manchmal informativ. Der Film, der ihn zum Weinen bringt ist ➱Elvira Madigan, das Klavierkonzert ist Mozarts Nummer 21, das auch den Soundtrack zu dem Film lieferte. Hieß daraufhin in Amerika nur noch das Elvira Madigan Konzert, als hätte Mozart das für die dänische Seiltänzerin geschrieben. Manche der Anmerkungen sind lange Liebeserklärungen an sein Heimatland, dessen nothing streetcorners, ugly eateries, dear barbarities und vacant lots der Dichter offensichtlich vermisst. Schon ein Jahrhundert vorher hat ein amerikanischer Maler in Europa ähnliche Gefühle und sehnt sich angesichts der Schönheit der Alpen nach den  Straßenschildern der Bronx. Amerikaner haben es gern einfach.

Aber viel erstaunlicher als diese Liebe zu den kleinen Häßlichkeiten des amerikanischen Alltags ist das, was nicht in dem Gedicht steht. Martin Luther King und Bobby Kennedy sind gerade erschossen worden, der Vietnamkrieg ist auf dem Höhepunkt, davon lesen wir hier nichts. Betrachtungen eines Unpolitischen. Aber dies ist natürlich auch ein politisches Gedicht. Indem es das ausblendet, was man in Europa als Amerikas wirkliche Probleme empfindet. Täuschen wir uns nicht: der Mann, der in seinen Romanen den amerikanischen Alltag der fünfziger und sechziger Jahre so minutiös beschreibt und sein Amerika seziert, ist in seinem Herzen im Kalten Krieg steckengeblieben. Ihm käme es nicht in den Sinn wie seine Dichterkollege Robert Lowell einen prominenten Platz in der Friedensbewegung einzunehmen, bei einer Demonstration in Washington wie Lowell vor Hunderttausenden Gedichte vorzulesen. Oder ein Gedicht wie For the Union Dead zu schreiben. Sein Minority Report ist ein Etikettenschwindel, in Wirklichkeit sollte es wohl besser Majority Report heißen. Die Zeilen don't read your reviews, America, you are the only land sehen bei Updike nur wie Ironie aus. Sie sind eher etwas wie ➱Stephen Decaturs berühmter Satz right or wrong, my country.

Updike ist wie Br'er Rabbit, diese berühmte trickster Figur aus den Volkserzählungen der Afroamerikaner. Wenn der Fuchs ihn gefangen hat, sagt ihm Br'er Rabbit: bitte, bitte lieber Fuchs, du kannst alles mit mir machen, was du willst. Aber schmeiß mich nicht in das Gestrüpp, davor habe ich Angst. Freedom is made of brambles. Updike ist der trickster im Gestrüpp der Freiheit, er entkommt immer. Er legt sich ungern fest. Er hat Jahre nach Minority Report einen langen Essay namens On not being a Dove geschrieben, eine Art Gegenstück zu Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen. Nein, a dove möchte Updike nicht sein, ein richtiger hawk aber auch nicht. Irgendetwas dazwischen, eine Religion, die egotheism heißt, das wäre schon das richtige für John Updike, der jeden Sonntag in die Kirche gegangen ist. Updike schreibt nicht wie ➱Theodor Körner für den Krieg, er schreibt aber auch nicht wie Robert Lowell, Norman Mailer und Gore Vidal dagegen.

Er ist lieber unauffällig. Eine Studentin hat mir einmal erzählt, dass sie in den Semesterferien in einem kleinen Hotel an der Nordseeküste gejobbt hat. An ihrem ersten Arbeitstag sagte die Wirtin zu ihr: Und jetzt bringst du Herrn Uppdieke seinen Tee auf die Veranda. Sie hat den Tee beinahe verschüttet, als sie auf der Veranda erkannte, wer der Herr Uppdieke wirklich war. Er fällt eben nicht auf.

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1 Kommentar:

  1. Was für ein schönes, freundliches, liebevolles Gedicht, zu dem die Überschrift "Nationalstolz" doch so gar nicht passen mag. Ob Updike uns Deutsche wohl um das Wort "Heimat" beneidet hat?
    Und herzlichen Dank für die Vorstellung von Updike als Lyriker, natürlich!

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