Mittwoch, 28. April 2010

Versroman


Bevor die Engländer im 18. Jahrhundert den Roman erfanden, hat es den schon gegeben, er sah nur etwas anders aus. Kommt im Mittelalter in Versen daher und handelt meistens von König Artus und seinen Rittern und beherrscht die englische, französische und deutsche Literatur. Leider liest heute kaum noch jemand diese Meisterwerke wie Wolfram von Eschenbachs Parzival. Stattdessen lesen viele Menschen heute traurige Abfallprodukte der Arthurian Romance, einen Sagen- und Mythenmix mit einem Schuss fantasy. Seit den Mists of Avalon ist da ja ein riesiger Markt für diesen Mist entstanden.

Etwas vorsichtiger über diesen neuen Mittelalter Boom, aber dennoch sehr entschieden, äußert sich da der beste Kenner der mittelalterlichen Philosophie Kurt Flasch in Das philosophische Denken im Mittelalter. Was für ein Buch! Welche klare, verständliche Sprache! Ungewöhnlich für einen Philosophen. Da ärgert man sich schon, in den sechziger Jahren im Philosophiestudium nur drittklassige Luschen gehört zu haben, also Apel und Weizsäcker mal ausgenommen.

Der spätmittelalterliche Versroman kommt über die Jahrhunderte ein wenig aus der Mode, obgleich er von Zeit zu Zeit wieder auftaucht. Puschkins Eugen Onegin wäre ein Beispiel. Und Les Murrays Fredy Neptune, eins der erstaunlichsten Bücher des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Über den Daumen gepeilt zehntausend Verse lang. Als das Buch 2004 in einer zweisprachigen Ausgabe bei Ammann erschien, war es das kühnste Gedicht des 20. Jahrhunderts, so die FAZ. Die internationale Kritik konnte es kaum fassen, was der glatzköpfige, übergewichtige Australier mit dem kindlichen Lächeln da zustande gebracht hatte. Ein Roman, in dem das ganze Jahrhundert (na ja, etwas genauer die Zeit von 1914 bis 1949) Platz findet. Der Held, ein australischer Seemann deutscher Abkunft, beschreibt hier in der einfachen Sprache des Aussies aus dem Outback, seine Odyssee durch das Jahrhundert in achtzeiligen Strophen.

Das war am Schlachtwursttag
auf unsrer Farm bei Dungog.
Das sind mein Vater Reinhard Böttcher
und meine Mutter Agnes und mein Bruder Frank,
der später starb an Hirnbrand, Meningitis.
Und ich steh hier am Fleischwolf.
Gekochtes Fleisch mit Salz und Petersilie
kam rein und wand sich wieder raus, so fein wie Grütze, für die Weißwurst.

Mit dieser Beschreibung eines Photos beginnt Frederick Boettcher, der bald Fredy Neptune heißen wird, die Geschichte seines Lebens. Ich habe die erste Strophe auf Deutsch zitiert, weil man den Übersetzer Thomas Eichhorn gar nicht genug bewundern kann (er hat auch in den letzten Jahren zwei Übersetzerpreise gewonnen). Obgleich man natürlich im Deutschen diesen Ton des Originals, dieses vernacular, niemals hinbekommen kann. Manchmal klingt es ein wenig nach der Sprache, die Rudyard Kipling in den Barrack-Room Ballads seine Soldaten sprechen lässt, ist aber hier viel authentischer. Murray hat vier Jahre an diesem Buch geschrieben, nachdem er aus einer schweren Depression wieder auftauchte, es ist auch ein Akt der Selbstbefreiung. Am Ende der Geschichte bekommt Fred Neptune alle Gefühle und Empfindungen zurück, die er wegen eines schrecklichen Ereignisses im Ersten Weltkrieg verloren hatte. Neptune ist ein picaro, ein Schlemihl, ein Odysseus, der alles mit ansieht, was das Jahrhundert an Schrecken und Unsinn zu bieten hat. But there's too much in life: you can't describe it ist der letzte Satz des Versromans. Aber Murray, der vor das Buch den Satz To the glory of God gestellt hat, der kann es schon. Mit dem langen Atem eines Erzählers, der niemals Luft zu holen scheint.

Die ersten Gedichte von dem bedeutendsten australischen Dichter der Gegenwart in deutscher Sprache erschienen bei 1996 Hanser. Damals war der Lyrikdoktor Jakob Stephan in der Neuen Rundschau noch etwas skeptisch. Der Lyrikdoktor hat zwischen 1996 und 2000 in dieser Zeitschrift der modernen Lyrik einen Krankenbesuch abgestattet und alles an Ort und Stelle seziert. In Wirklichkeit ist er gar kein pensionierter Mediziner, der bei Bremen wohnt. In Wirklichkeit heißt er Steffen Jacobs und wohnt in Berlin, aber seine Analyse der Gegenwartsdichtung (unter dem Titel Lyrische Visite 2000 bei Haffmanns erschienen) ist schon sehr witzig. Murray hat nach Ein ganz gewöhnlicher Regenbogen den Verlag gewechselt und ist zu Ammann gegangen. Vielleicht weil die in Zürich in der Neptunstrasse sitzen, passend zu Fredy Neptune. Die haben bei Ammann (ebenso wie der österreichische Residenz Verlag) schon ein Näschen für gute Literatur. Der Guardian hat hier einen sehr schönen Artikel, auch wenn der schon einige Jahre alt ist.

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