Sonntag, 5. Mai 2024

Chorprobe

Die schöne Buchhändlerin hatte, wie viele ihrer Freundinnen, den Chor nicht aufgegeben. Sie war nach dem Abitur dabeigeblieben, weil sie sich mit dem Chorleiter, der ihr Englischlehrer gewesen war, so gut verstand. Manche ihrer Freundinnen waren im Chor geblieben, weil der als ein Eheanbahnungsinstitut galt, aber das war ihre Sache nicht. Es war zwar etwas langweilig, jedes Jahr Weihnachten im Dom der Stadt Bachs Kantaten und das Weihnachtsoratorium singen zu müssen, aber es war natürlich auch eine Ehre, dort singen zu dürfen. Bach hatten sie immer im Repertoire. Andere Chöre waren glücklich, wenn sie Im schönsten Wiesengrunde, An der Saale hellem Strande oder Wer recht in Freuden wandern will hinkriegten. Sie alle hatten neben dem Englischen Fremdsprachen am Lyceum gehabt, manche Französisch, andere Latein. Das half ihnen natürlich auch, Texte aus fremden Sprachen anzugehen, zum Beispiel so etwas:

Dio del cielo,
Signore delle cime,
un nostro amico
hai chiesto alla montagna.
Ma ti preghiamo:
su nel Paradiso
lascialo andare
per le tue montagne.

Das Lied von Giuseppe De Marzi war gerade aus Italien nach Deutschland gekommen. Das konnten die Waldundwiesenchöre natürlich nicht. Es kam jetzt viel an internationaler Musik in das Repertoire der Chöre, in denen zu lange nur Deutsches gewesen war. Ihr Chorleiter hatte es immer gefördert, dass etwas Neues in das Repertoire des Chors kam. Der Chor war für seine Auftritte begehrt, aber der Chorleiter war der Meinung, dass man nicht allen Wünschen nachkommen sollte. Also, den Wunsch nach Seemannsliedern beim Hafenfest, den hatte er abgelehnt. Und dem Pastor hatte er gesagt, dass der Chor keinesfalls am Volkstrauertag Ich hatt' einen Kameraden singen würde. Geistliche Lieder in der Kirche: ja. Aber dies nicht.

Der Chorleiter Dr Friedrich Allmers war schon ein älterer Herr, er sollte eigentlich längst im Ruhestand sein. Aber die Schulleitung beließ ihn in dieser Stellung, weil niemand so gut mit dem Chor umgehen konnte wie er. Und weil er das Klavier besorgt hatte, das in der Aula stand. Das alte hätte kein Klavierstimmer der Welt mehr hingekriegt. Es war dann als Kriegsschaden ausgesondert worden, und das war es auch gewesen. Die amerikanischen Besatzer hatten es furchtbar misshandelt. Dr Friedrich Allmers wusste nicht nur, wie er preiswert an ein erstklassiges Klavier kam, er hatte auch gute Beziehungen zu der Musikwelt. Und sein Chor hatte einen guten Namen. Schließlich war man schon mehrfach im Radio gewesen und hatte bei einem Festival einen dritten Platz errungen. Und es liefen da Verhandlungen für eine Langspielplatte mit alten europäischen Volksliedern, aber die waren ins Stocken geraten. Geplante Titel wie Nimm sie bei der schneeweißen Hand und Lison dormait schienen dem Plattenverlag nicht unbedingt Publikumsrenner zu werden.

Die schöne Buchhändlerin sang gerne. Unter der Dusche und im Auto. Und natürlich im Chor. Das Schöne im Chor war das Gemeinschaftserlebnis. Sie ließ sich von der Musik treiben, war glücklich dabei zu sein. So gut sie sang, zu einer Solistin hätte es bei ihr nicht gereicht. Außer unter der Dusche oder im Auto. Das wusste sie. Es reichte ihr aber, dabei zu sein. Manche ihrer Freundinnen sangen im Chor der Oper mit, da war sie auch einmal bei der Aufführung von Bizets Carmen mit im Chor gewesen. Das Kostüm, das man ihr angedreht hatte, hatte nicht richtig gepasst, es zwickte und zwackte bei jeder Bewegung. Sie hatte es mit nach Hause nehmen und ändern wollen, sie war gut mit Nadel und Faden. Aber das durfte sie nicht. Das ist Eigentum der Oper, das geht nicht aus dem Haus, bekam sie gesagt. Sie hatte sich im Chor der Zigarettenarbeiterinnen bei den Aufführungen unwohl und unglücklich gefühlt. Vielleicht hätte sie die Zigarette, die sie nur in der Hand halten sollte, wirklich rauchen sollen. Glücklicherweise wurde die Oper nach drei Aufführungen abgesetzt, weil zwei der Solistinnen erkrankten und der Sänger des Don José einen Autounfall hatte.

Es war nicht nur die gemeinsame Chorprobe, die sie liebte. Sie gingen hinterher zusammen immer noch in den Fährkrug auf ein Glas Wein. Der Wirt hielt ihnen an den Abenden der Chorproben immer einen Tisch am Fenster frei, sodass sie auf den Fluss schauen konnten. Der Wirt mochte die Sängerinnen, weil sie ihm vor Jahren, als er das Haus gerade übernommen hatte, den ganzen Abend gerettet hatten. Da saß nämlich ein junges Brautpaar einsam im großen Saal, keiner ihrer Gäste war gekommen. Die blonde Braut heulte. Das war zu verstehen. Nach einer halben Stunde kam eine Nachricht, die das Fehlen der Hochzeitsgäste erklärte. Das Ausflugsschiff, mit dem sie kommen wollten, sei im Fluss auf eine Sandbank gelaufen. Es sei niemandem etwas passiert, aber die Hochzeitsgäste müssten noch von Bord gebracht und in einen Bus gesetzt werden. Das könne noch etwas dauern.

Nachdem der Wirt dem Brautpaar die gute Nachricht überbracht hatte, erzählte er es auch den Sängerinnen am Fenster. Und sagte dann plötzlich: Es ist alles so trist und traurig heute, könnten Sie nicht vielleicht etwas singen? Singen, dachte sich die schöne Buchhändlerin, was singt man in einem solchen Fall? Plaisir d'amour ne dure qu'un moment, Chagrin d'amour dure toute la vie? Aber da stand die rothaarige Thea auf und sagte: Mädels: Jungfernkranz. Sie standen auf, gingen durch den leeren Saal, gruppierten sich um den Tisch des Brautpaares, zählten unhörbar eins, zwei, drei und sangen:

Wir winden dir den Jungfernkranz
mit veilchenblauer Seide;
wir führen dich zu Spiel und Tanz,
zu Glück und Liebesfreude!

Sie dachte gerne an diesen Abend zurück, alle dachten gerne an diesen Abend zurück. Zwei von ihren Freundinnen hatten inzwischen geheiratet, und da war sie mit dem Chor natürlich bei den Hochzeiten gewesen. Bei der ersten Hochzeit hatten sie das alte Lied aus dem Lochamer Liederbuch gesungen:

All mein Gedanken, die ich hab', die sind bei dir.
Du auserwählter einz'ger Trost, bleib stets bei mir.
Du, du, du sollst an mich gedenken.
Hätt' ich aller Wünsch Gewalt,
von dir wollt ich nicht wenken
.

Bei der Hochzeit von Birgit wollten sie Wach auf, meins Herzens Schöne von Johann Friedrich Reichardt singen, aber die Birgit wollte lieber das ganz alte Lied wiederhaben, aber nur die zweite Strophe:

Du auserwählter einz'ger Trost, gedenk daran!
Leib und Gut, das sollst du gar zu eigen han.
Dein, dein, dein will ich immer bleiben:
Du gibst Freud und hohen Mut
und kannst mir Leid vertreiben.

Sie waren jetzt beinahe jeden Tag am Proben, es sollte natürlich wieder Bach sein. Dank der guten Beziehungen, die Dr Allmers in der Musikwelt hatte, war der Chor auserwählt, bei einem Bachfestival in Berlin zu singen. Bach hatten sie drauf, es war auch das Schwierigste, was sie konnten. Die Vier letzten Lieder von Richard Strauss hatten sie schon häufiger gesungen. Dr Allmers hatte es mal mit Schönbergs Gurre-Liedern versuchen wollen, aber das war nichts geworden. Das große Ereignis, das vor ihnen stand, hatte eine doppelte Bedeutung, Dr Allmers hatte ihnen gesagt, dass dies sein letzter Auftritt sein würde. Er wolle jetzt endgültig in den Ruhestand gehen. Zu dem Konzert in Berlin ziehe ich aber noch einmal meinen alten Frack an, sagte er. Sie hatten ihn noch nie im Frack gesehen. Die schöne Buchhändlerin dachte sich, dass sie auch ein schönes Kleid anziehen müsste. Sie würde schon etwas im Kleiderschrank finden. Die rothaarige Thea hatte auch schon eine Idee für einen Abschiedsabend für ihren Lehrer, sie würden elisabethanische Lieder von Thomas Campion und John Dowland singen. Jede von ihnen würde auch einen Solopart haben. Die schöne Buchhändlerin hatte sich schon John Dowlands Time stands still gesichert:

Time stands still with gazing on her face.
Stand still and gaze, for minutes, hours and years to her give place.
All other things shall change but she remains the same.
Till heavens changed have their course and Time hath lost his name.
Cupid doth hover up and down, blinded with her fair eyes.
And Fortune captive at her feet contemned and conquered lies.


Es wurde gemunkelt, dass für die Soloparts des Konzerts in Berlin berühmte Leute kommen sollten, das blieb aber erstmal noch geheim. Das muss doch rauszukriegen sein, dachte sie. Und rief aus der Buchhandlung die Konzertdirektion an. Fragte, ob sie vielleicht einige Plakate und Handzettel für die Buchhandlung bekommen könnte, damit man hier ein wenig Werbung machen könnte. Die Sekretärin hörte sich das an, dachte einen Augenblick nach und sagte dann: Können wir machen, schicke ich Ihnen mit der Post. Als das Päckchen in der Buchhandlung ankam, packte sie es sofort aus und hängt eins der Plakate an die Tür der Buchhandlung. Auf dem Plakat stand ganz groß der Name des Solisten, es war der Tenor Rodolpho Martini. Der war nun wirklich berühmt, beinahe weltberühmt. Sie besaß sogar zwei Langspielplatten von ihm.

Als sie am Abend des Konzerts aus dem kleinen Bus der Firma Elbach kletterten, mit dem sie immer zu den Konzerten gefahren waren, sahen sie alle festlich und präsentabel aus. Selbst die rothaarige Thea, die sonst immer in Hosen herumlief, hatte ein Kleid angezogen; hellgrün, das passte gut zu ihren roten Haaren. Dr Allmers trug, wie er es gesagt hatte, seinen alten Frack. Er hatte es sogar geschafft, die weiße Schleife richtig zu binden. Die schöne Buchhändlerin trug das Seidenkleid, helles Lavendelblau, mit den ganz schmalen Trägern, die das Kleid aussehen ließen, als sei es schulterfrei. Sie hatte es sich vor Jahren in Frankreich gekauft, als da eine kleine Boutique einen Ausverkauf machte. Sie hatte es noch nie angehabt. Nur in den letzten Tagen zu Hause zum Einsingen, sie wollte wissen, wie man sich darin fühlte und bewegte. So etwas wie damals bei der Carmen sollte ihr nicht noch einmal passieren. Sie alle ließen ihre Mäntel im Bus, es war ein schöner Sommerabend. Ihre Noten nahmen sie natürlich mit, als sie in den Konzertsaal gingen. Obgleich sie die eigentlich nicht brauchten.

Der Saal sei gut gefüllt, hatte man ihnen gesagt. Sie warteten erst einmal in dem ziemlich luxuriösen Umkleideraum, sie waren ja erst im zweiten Teil des Konzerts dran. Es gab davor eine Pause von fünfzehn Minuten. Sie dachte, sie könnte in der Pause mal eben den Renault Händler anrufen, den sie zwei Tage lang nicht gesehen hatte. Aber die Telephonzelle vor dem Konzertgebäude war besetzt. Ein großer Mann stand da drin. Und telephonierte und telephonierte. Endlich war er fertig, sie hätte fluchen können, aber er hielt ihr höflich die Tür auf. Sie huschte an dem Mann vorbei, riß den Hörer vom Haken und wählte die Nummer des Renault Händlers, doch der war offenbar nicht zu Hause. Sie hängte den Hörer wieder ein. Irgendwie hätte sie jetzt weinen können. 

Als sie aus der Telephonzelle kam, stand der Mann, der eben telephoniert hatte, immer noch da. Im Licht der Telephonzelle sah sie jetzt, dass der Mann einen Frack trug. Es war Rodolpho Martini. Sie war beinahe starr vor Schreck, was sollte sie jetzt sagen? Es tut mir leid, dass ich so lange telephoniert habe, sagte er, aber ich musste dringend mit meinem Agenten wegen eines Konzerts sprechen. Sie verzieh ihm auf der Stelle alles, was sie eben noch gegen ihn gehabt hatte. Ich muss jetzt schnell in die Konzerthalle zurück, sagte sie. Gewiss, sagt er und guckte sie lange an. Sie sind eine von den Sopranstimmen aus dem Chor von Dr Allmers, sagte er. Dass er das bemerkt hatte, dachte sie mit Erstaunen. Jetzt hatte sie es nicht mehr eilig. Er offenbar auch nicht. Das ist ein sehr schönes Kleid, das sie tragen, sagte er. Bevor sie etwas sagen konnte, nahm er ihren Arm und sagte: Kommen Sie. Ohne uns beide werden die nicht anfangen. Würden ihre Freundinnen ihr glauben, wenn sie diese Geschichte erzählte? Hätte sie ihn um ein Autogramm bitten sollen? Nein, sie wusste, ihr würde diese Erinnerung genügen.


Es gibt in diesem Blog schon vier Erzählungen mit der schönen Buchhändlerin: Sommerurlaub, RendezvousAutorenlesung und der dunkelblaue Bentley. Dies ist die fünfte Geschichte.

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