Dienstag, 22. Juni 2021

der dunkelblaue Bentley

Sie sah ihn vor dem Laden, aber er kam nicht rein. Er redete mit jemandem, sie konnte nicht sehen, mit wem. Sie war gerade dabei, ein Buch für eine Kundin in Geschenkpapier einzuwickeln. Mit wem redete er da nur? War das eine Frau? Die schöne Buchhändllerin wurde ein wenig unruhig. Aber sie konnte nicht zur Tür gehen und auf die Straße hinausschauen, weil da schon wieder ein Kunde ein gerade gekauftes Buch in Geschenkpapier eingewickelt haben wollte. Das war ein billiger Simmel Roman, aber Geschenkpapier musste sein, und er verlangte auch noch das beste Geschenkpapier. Sie kannte diesen Kunden, sie mochte ihn ganz und gar nicht. Sie bewunderte nur, dass er immer blau-weiß gestreifte Hemden trug. So etwas hatte sie ihrem Ex auch mal kaufen wollen, gab es aber nirgends. Der Mann mit dem Simmel Roman war der Chefarzt vom Krankenhaus, seinen Porsche hatte er draußen im Halteverbot geparkt. Das hatte sie gesehen, als sie aus dem Fenster geguckt hatte. Er hatte tausenderlei Liebesaffairen, letztens hatte sich eine Schwesternschülerin aus Liebeskummer von dem neugebauten Hochhaus unten im Ort gestürzt. War sofort tot. Sie packte den Simmel ein. Er wollte dann partout noch eine Quittung haben, auf der Praxisbedarf stehen sollte. Sie wollte etwas sagen, aber sie sah, dass ihr Chef ihr verzweifelte Blicke zuwarf. Sie blieb höflich. Immer nur lächeln, das war es, worauf es im Beruf ankommt. Als sie aus dem Fenster guckte, war der Renault Händler verschwunden.

Als er am  Freitagnachmittag zu Tee kam, fragte sie ihn, warum er sie am Mittwoch nicht im Laden besucht hätte. Wollte ich schon, sagte er, aber der Typ ließ mich nicht los. Er wollte mir den Bentley von seinem Opa verkaufen. Er löffelte sich zwei Stück Kandiszucker in seinen Tee. Er hasste Kandiszucker, aber sie bestand darauf, dass Ostfriesentee mit Kandiszucker getrunken wurde. Was ist ein Bentley? fragte sie. Er erklärte ihr, dass das ein Rolls-Royce mit einem anderen Kühlergrill sei. Einen Rolls-Royce hatte sie schon einmal gesehen, als sie ihren Cousin in Hamburg besuchte. Der hatte ihr mal bei einem Spaziergang rund um den Feenteich gezeigt, wo die Hamburger Millionäre wohnten. Kaufst Du den Bentley? fragte sie ihn. Ich weiß es nicht, sagte er. Der Typ will zehntausend Mark haben, das wäre für einen Rolls ein Schnäppchenpreis. Aber der Motor ist kaputt, ich weiß nicht, ob ich Ersatzteile bekomme. Die Firma Rolls-Royce wird mich nicht beliefern. Ich guck' mir den Wagen erstmal an, ich hab' den Garagenschlüssel bekommen. Und dann fügte er hinzu: Wie wäre es, wenn Du mitkommst? Ich hole Dich morgen um drei ab. Sie konnte nicht nein sagen, wann machten sie schon mal etwas zusammen?

Er war am Sonnabend pünktlich vor ihrem Haus, mit einem Auto, das sie noch nie gesehen hatte. Das ist der neueste Peugeot, sagte er. Ein Firmenwagen, die wollen ins Geschäft kommen. Sie bieten mir die Peugeot Vertretung an, aber ich weiß nicht, ob ich das annehme. Ich weiß auch nicht, ob sich Peugeots hier gut verkaufen. Und er fügte hinzu: en France, ce serait une tout autre affaire. Sie hörte es gern, wenn er Französisch sprach. Der große Peugeot gefiel ihr, er roch noch ganz neu, und man saß sehr bequem darin. Ob er sie wohl mal ans Steuer lassen würde? Unterwegs erzählte er ihr alles über den alten Kattendieck, dem der dunkelblaue Bentley gehört hatte. Werftbesitzer, in der Nachkriegszeit groß im Geschäft, jetzt liefen die Geschäfte nicht mehr so gut. Nur die Aufträge der Bundesmarine hatten die Werft vor der Pleite gerettet. Kattendieck war im letzten Jahr gestorben, seine Tochter hatte den Bentley nie gemocht. Und ihre Kinder durften ihn nicht fahren, sie hatten auch keinen Führerschein. Denn der Kattendieck hatte damals, als sich sein Schwiegersohn mit dem Ferrari totgefahren hatte, ins Testament geschrieben, dass seine Enkel nichts von dem Erbe sehen würden, wenn sie jemals einen Führerschein machten. So stand der dunkelblaue Bentley jetzt ungenutzt in der Garage. Das wäre eine Geschichte für einen Simmel Roman, dachte sie sich. Ohne den Renault Händler zu fragen, hatte sie sich mit dem elektrischen Zigarettenanzünder des Peugeots eine Ziggi angesteckt. Er hatte offenbar nichts dagegen.

Der Weg zu Kattendieks Villa war nicht weit, es lohnte nicht, eine zweite Zigarette anzuzünden. Eine weiße Villa, ein gepflegter grüner Rasen, ein geharkter Kiesweg. Sie nahm den Rasen als Weg zum Haus, der Kiesweg wäre tödlich für ihre Füße gewesen, weil sie die flachen Ballerinas mit den dünnen Sohlen trug. Er ging natürlich auf dem Kiesweg, er hatte einen Blaumann und einen Werkzeugkoffer dabei. Sie war hier noch nie gewesen, aber sie wusste sofort, wo sie war. Dies war die Welt eines Romans, der sich in den letzten Jahren in der Buchhandlung gut verkauft hatte. Kein Simmel. Eine Liebesgeschichte in Briefen aus dem Jahre 1900, herzzerreissend. Während sie noch in der Mitte des Rasens einen Blick zu den benachbarten Villen warf, hatte er die Garage aufgeschlossen und das Licht angemacht. Er schloß den Bentley auf und öffnete die Motorhaube. Komm, rief er ihr zu, kannst mal in einem Bentley sitzen.

Als er ihr die Tür vom Bentley aufhielt, sagte er: Aber hier drinnen rauchst Du nicht. Sie wäre nicht auf die Idee gekommen. Sie rollte sich auf dem weichen Ledersitz zusammen und betastete das Wurzelholz des Armaturenbretts. Zog die Ballerinas aus. Ob sie wohl die Füße auf das Armaturenbrett legen durfte? Sie ließ es, dies war nicht ihr Auto. Dies war nicht ihre Welt. Ob hier jemals jemand Sex im Auto gehabt hatte? Sie begann leise zu singen:

Daisy, Daisy, give me you answer true.
I'm half-crazy all for the love of you.
It won't be a stylish marriage,
I can't afford a carriage;
But you'll look sweet
Upon the seat
Of a bicycle built for two.


Das Lied kam in dem Roman der alten Dame vor, die die Liebe ihres Lebens in einen Briefroman geschrieben hatte. Vielleicht hatte die sogar in dieser Villa gewohnt. Die schöne Buchhändlerin fand es beruhigend, dass es auch schon damals in dem unbeschwerten Leben der weißen Villenwelt Liebesleid und Unglück gegeben hat. Das hatte auch die Autorin gewusst, der im Laufe eines Jahrhunderts nicht nur der englische Geliebte, sondern auch Ehemann und Kinder weggestorben waren. Deshalb hatte sie dem Roman wohl ein Gedicht von Lamartine vorangestellt:

Le livre de la vie est le livre suprême
Qu’on ne peut ni relire, ni fermer à son choix.
La fatal feuillet se tourne de lui-même
Et le passage adoré ne se lit pas deux foix. 

Die Motorhaube des Bentley fiel mit einem leisen Plopp zu, er hatte offenbar genug gesehen, er hatte nicht mal seinen Blaumann angezogen. Da kann ich nichts machen, sagte er, ich muss den Wagen in der Werkstatt haben. Ich hole ihn am nächsten Wochenende mit einem Abschleppwagen. Mit einem Abschleppwagen wird er den ganzen Kiesweg und den halben Rasen ruinieren, dachte sie sich. Wie willst Du mit einem Abschleppwagen den Kiesweg hochfahren? fragte sie. Gar nicht, sagte er, ich bringe ein halbes Dutzend starke Männer mit, und wir rollen den Bentley zur Straße. Du könntest mitkommen und am Steuer sitzen. Die Vorstellung gefiel ihr, am Steuer eines Bentleys zu sitzen und von starken Männern geschoben zu werden.

Und was machen wir jetzt? fragte er, als sie wieder im Peugeot saßen. Wir fahren aufs Land, sagte sie. Zum Tanzen. - Tanzen? fragte er, wo sollen wir an einem Sonnabendnachmittag tanzen? Sie lächelte ihn an. Fahr erstmal aus diesem Millionärsghetto raus, auf die Bundesstraße. Und dann folgst Du einfach meinen Anweisungen. Das Leben gefiel ihr. Anweisungen geben. Dann den ganzen Abend tanzen. Und vielleicht noch mehr. Und am nächsten Wochenende am Steuer eines dunkelblauen Bentleys sitzen und von starken Männern geschoben werden.


Es gibt in diesem Blog schon drei Erzählungen mit der schönen Buchhändlerin: Sommerurlaub, Rendezvous und Autorenlesung. Dies ist die vierte Geschichte, die Leser verlangen immer mehr.

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