Samstag, 3. Januar 2015

Anfänge


Was wird er damit machen? Ein schöner Titel, Arno Schmidt benutzte ihn auch für einen Essay. Und nun kann jedermann dieses Medium, in dem ich seit wenigen Minuten angemeldet bin, lesen? Und das alles in wunderschöner Schrift, wie gedruckt. Und man kann die Farbe variieren. Wenn Herman Melville das alles gekannt hätte, dann wäre Moby-Dick nicht in London gedruckt worden, sondern hier. Und seine Schwester, die das Manuskript abschrieb, hätte nicht immer über Hermans Handschrift fluchen müssen. Und Druckfehler, wie soiled fish wären uns auch erspart geblieben. Ich signiere das erstmal Scardanelli, diese elektronische Verführung ist zuviel für mich.

Das schrieb ein Blogger, der sich den Namen Jay gegeben hatte, heute vor fünf Jahren. Die Wahl des Namens hatte natürlich etwas mit Fitzgeralds ➱Jay Gatsby zu tun, andererseits heißt Jay wirklich seit Jahrzehnten für viele seiner Freunde Jay. Die Fußballmannschaft hatte damals damit angefangen, ihn so zu nennen. Dass Jay für die Adresse das ungewöhnliche Wort ➱loomings verwendete, hatte etwas damit zu tun, dass er mit dem Gedanken spielte, nur über Herman Melville zu schreiben.

Ein Gedanke, den er bald aufgab, als er sah, welche Möglichkeiten dieses ihm bis dahin unbekannte Medium offerierte. Dennoch ist viel Melville in diesem Blog, wenn Sie Melville oder Moby-Dick in das Suchfeld eingeben, werden Sie das sehen. Das erste Kapitel von Moby-Dick hat den Titel Loomings. Es ist das Kapitel, in dem der Mann, dessen Namen wir nie erfahren, beschließt, auf einem Walfänger anzuheuern. Und so wie ich mir den Namen Jay gegeben habe, gibt er sich den Namen IshmaelCall me Ishmael, sagt er im ersten Satz. Es ist der kürzeste Satz im Roman. Am Ende des ersten Kapitels heißt es über die Schicksalsgöttinnen:

Though I cannot tell why it was exactly that those stage managers, the Fates, put me down for this shabby part of a whaling voyage, when others were set down for magnificent parts in high tragedies, and short and easy parts in genteel comedies, and jolly parts in farces—though I cannot tell why this was exactly; yet, now that I recall all the circumstances, I think I can see a little into the springs and motives which being cunningly presented to me under various disguises, induced me to set about performing the part I did, besides cajoling me into the delusion that it was a choice resulting from my own unbiased freewill and discriminating judgment. Ich fand dieses cajoling me into the delusion that it was a choice resulting from my own unbiased freewill and discriminating judgment immer wunderbar, denn wahrscheinlich geht es uns allen so, dass wir glauben, wir treffen unsere Entscheidungen aus freiem Willen treffen. Auch demjenigen, der am 3. Januar 2010 als Blogger seine Reise in eine unbekannte Welt begann.

Ich konnte es nicht lassen, im oberen Absatz das furchtbar kitschige Bild von Paul Thumann abzubilden (oder jetzt diesen ➱Chatterton von Henry Wallis). In diesem Blog kommt viel Kitsch vor, sogar der King of Kitsch hat hier schon einen ➱Post. Kitsch kommt, das habe ich nach fünf Jahren langsam gemerkt, immer gut an. Warum sollten sonst so viele Leute Posts wie ➱George Spencer Watson oder ➱Arnold Böcklin lesen? Aber das Leserverhalten kann ich nicht ergründen, da kann ich die Statistikzahlen anstarren, solange ich will. Ist aber immer wieder interessant.

Die zehn Zeilen des Posts ➱Literatur (noch mit Randausgleich geschrieben, später ging ich zum Flattersatz über) waren meine ersten Schritte in der schönen neuen Welt der blogosphere. Ich bekam schnell die fünfzehn Minuten Berühmtheit, von denen Andy Warhol gesprochen hatte (➱Horst Janssens Der Andy war hohl darf an dieser Stelle nicht fehlen). Was mich bis heute erstaunt. Denn wir müssen bedenken, dass ich einen Tag zuvor überhaupt noch nicht wusste, was ein Blog war. Fünf Jahre nach meinem ersten Post bin ich natürlich schlauer. Ist das heute ein Tag, um ein Resümee zu ziehen? Ich weiß nicht, es gab hier schon zu viele Jubiläen in letzter Zeit: anderthalb Millionen Leser, der tausendfünfhundertste Post. Und Sätze wie Ruhig und wunschlos blicke auch ich von der spätherbstlichen Hochebene meines Lebensabends ins lichte Tal meiner Jugend nieder, kriege ich sowieso nicht hin. Der Satz findet sich in einer Biographie des Bremer Bürgermeisters Johann Smidt, geschrieben von seiner Enkelin Bernhardine Schulze-Smidt. Wenn man Bernhardine heißt, dann muss man so schreiben. Das ist so ähnlich wie bei dem Namen ➱Eufemia.

Ich war von meiner ersten Publikation im Internet so berauscht, dass ich ihr noch in der selben Nacht die Posts ➱Poem und ➱Jazz folgen ließ. Und am nächsten Tag: ➱Tiefen, ➱Kopenhagen und ➱I skovens dybe stille ro. Alles noch ohne Bilder. Bilder konnte ich noch nicht. Ich konnte eh nichts als schreiben. Diese Posts waren auch noch sehr kurz. Ja, das gab es in diesem Blog einmal. Ich hatte (und habe) kein Konzept, keinen Plan, all dies war Zufall. Oder die delusion that it was a choice resulting from my own unbiased freewill and discriminating judgment. Es ist eine kuriose Sammlung, aber es war meine eigene Sammlung, meine Handschrift. Meine Stimme.

Das Schöne an einem Blog ist ja, dass man hemmungslos subjektiv sein darf (was Wissenschaftler nicht dürfen), dass man seinen spleen nicht rechtfertigen muss. Ich brauchte nicht zu See zu fahren, wie Ishmael: Some years ago—never mind how long precisely—having little or no money in my purse, and nothing particular to interest me on shore, I thought I would sail about a little and see the watery part of the world. It is a way I have of driving off the spleen and regulating the circulation. Whenever I find myself growing grim about the mouth; whenever it is a damp, drizzly November in my soul; whenever I find myself involuntarily pausing before coffin warehouses, and bringing up the rear of every funeral I meet; and especially whenever my hypos get such an upper hand of me, that it requires a strong moral principle to prevent me from deliberately stepping into the street, and methodically knocking people's hats off—then, I account it high time to get to sea as soon as I can. Bevor der damp, drizzly November meine Seele erreicht (und ich weiß, wovon der Erzähler redet), sitze ich an meinem Computer. Konsequent. Jeden Morgen um acht. Ich halte mich da an Thomas Mann, der Unser täglich Blatt gieb uns heute! gesagt hat.

Alles was ich schrieb, war neu. Auch für mich. Nur ein halbes Dutzend Posts sind zuvor in Zeitschriften, Büchern oder Lexika publiziert worden. Mit dem Post ➱Kleider machen Leute am 7. Januar gewann ich die Herzen einer neuen Lesergruppe. Kaum war ich auf der Welt, war ich der darling des Dandy Clubs. Die an der Mode interessierten Leser verlangten immer mehr von diesen kleinen Artikeln. Ich habe diese Posts (166 sind es insgesamt) inzwischen auch in einem kleinen eigenen Blog versammelt, der den Namen ➱kleiderschrank (mit dem Untertitel fashion & culture) hat. Und da gibt es sogar manchmal auch Damenmode (wie in den Posts ➱Jil Sander, ➱Mary Quant, ➱Dior, ➱Coco Chanel, ➱Haute Couture, ➱Breakfast at Tiffany's oder ➱Charles Frederick Worth).

Ich habe einmal zurückgeblättert und nachgeschaut, womit ich jedes Jahr im Blog begonnen habe. Stieß dabei auf den Post vom ersten Januar 2011, den ich überhaupt nicht mehr kannte. Und fand im letzten Absatz die programmatische Ankündigung: ich schreibe weiter wie bisher. Werde ich tun, mir fällt auch nichts Besseres ein. Und ich stelle den Text vom Jahresanfang des Jahres 2011 noch einmal hier ein. Neu in dem Text sind nur die Links, die auf Posts verweisen, die mittlerweile in diesem Blog erschienen sind.

Vor einigen Jahren half ich auf einem Parkplatz in einer norddeutschen Großstadt einer mir unbekannten Dame der besseren Gesellschaft, mehrere Gepäckstücke in ihren Daimler zu wuchten, man hat ja diese gute Erziehung zum Ritterlichen. Die Dame bestand darauf, mir zum Dank meinen Parkschein zu bezahlen und sagte dann plötzlich im Gespräch: Sie sind nicht von hier. Ich war ein wenig verblüfft und sagte ihr, dass ich aus Bremen komme. Sie sind auch nicht aus Bremen, Sie kommen woanders her, ich höre das an ihrer Sprache. Nun war ich völlig erstaunt, auch ein wenig verärgert, dass man meine bremische Herkunft anzweifelte (denn das ist ja irgendwie das Schlimmste, das man einem Bremer antun kann). 

Aber vielleicht war hier jemand, der wie Professor Henry Sweet (den ➱Shaw in Pygmalion als Henry Higgins verewigen sollte) die Gabe hatte, jemandem auf den Kilometer genau zu sagen, woher er kam. Ostercappeln, sagte die Dame. Das erstaunte mich, ich bot der Dame ein halbes Dutzend Ortsnamen zwischen Preußisch Oldendorf und Bad Rothenfelde an, wo Verwandte aus den Familien meiner Großeltern wohnten. Ich sehe, wir verstehen uns, sagte die Dame, man kann seiner Herkunft nicht entkommen. Ich denke noch immer leicht amüsiert an dieses Erlebnis, offensichtlich gibt es in meinem Akzent, der je nach Stimmungslage sehr, sehr bremisch sein kann, noch sprachliche Reste aus der Kindheit, als wir aus dem zerbombten Bremen zu den Verwandten längs des ➱Wiehengebirges geflohen waren.

Der Autor von Wir alle spielen Theater hat uns versichert, dass wir alle verschiedene Rollenrepertoires beherrschen. Und meistens kommen mit diesen Repertoires auch noch verschiedene Akzente. Ich kann neben meinem steifen (mit betontem -st) Bremisch noch mit einem anderen deutschen Akzent aufwarten. Irgendjemand auf der Hardthöhe hatte in den Anfangstagen der ➱Bundeswehr die Idee, die Division, in der ich war, zur Hälfte aus quirligen Rheinländern und zur anderen Hälfte aus sturen Norddeutschen zusammenzusetzen. Man war in Bonn davon überzeugt, dass das eine gute Mischung sei. Und ich hatte noch einige Jahre Schwierigkeiten, meinen Jürgen von Manger Akzent wieder loszuwerden.

Färbt unser Sprechstil auf das Schreiben ab? Manchmal, eher häufig, spreche ich wie Jan Fedder oder Tim Mälzer (die ich auch in ihrem Sprechen uneingeschränkt bewundere) -  aber schreibe ich auch so? In den Weihnachtstagen schickte mir ein Freund diese Adresse. Da kann man bei der FAZ seinen Stil testen lassen, kriegt dafür sogar ein Zertifikat: Ich schreibe wie XYZ. Ich habe aus meinem Blog etwas kopiert und erfuhr, dass ich wie Friederike Mayröcker schreibe. Nahm einen anderen Text - und davon gibt es ja bei mir im Blog genug - und da schrieb ich wie Melinda Nadj Abonji. Musste erst nachgucken, wer das überhaupt war, aber dann fiel mir ein, dass ich sie einmal auf 3sat gesehen hatte. Dritter Versuch. Diesmal war ich Kurt Tucholsky. Dagegen ist nichts zu sagen. Und als ich eben den Anfang dieses Textes eingab, schrieb ich laut FAZ Stiltest wie ➱Theodor Fontane. Das gefällt mir.

Ich nehme ja auch jeden Namen, solange mir dieser Test auf wissenschaftlicher Basis nicht erzählt, ich schriebe wie Renate Meinhof von der Süddeutschen. Ich würde gerne wie Simon Schama schreiben, und ich muss natürlich zugeben, dass mehr als fünfzig Jahre regelmäßiger Lektüre von Observer oder Sunday Times irgendwo Spuren hinterlassen. Ich bewundere ➱Tom Wolfe, aber es hätte keinen Sinn, ihn nachahmen zu wollen. Ich finde es sehr gut, wie ➱Günter de Bruyn schreibt - aber damit sind wir letztlich wieder bei Fontane, denn er wird im Alter Fontane im Stil immer ähnlicher.

Ich habe eben noch drei verschiedene Texte aus diesem Blog in den wissenschaftlichen FAZ Stiltester eingegeben und erfahren, ich schreibe wie 1) Heinrich Heine 2) Friedrich Nietzsche 3) Thomas Bernhard. Ja, ich bin schon ein Chamäleon. Und dann habe ich den wirklich echten Test gemacht, ich habe einen Text von Heine genommen. Und wie schreibt er? Darauf kommen Sie nie. Heinrich Heine schreibt wie Friedrich Nietzsche. Ich glaube, das wäre Harry jetzt peinlich. Und dann ritt mich der Teufel, und ich tippte einen Text von ➱Brigitte Kronauer in das Eingabefeld. Und erfuhr, dass sie wie Georg Klein schreibt. Ich weiß zwar nicht, wer das ist, aber es ist bestimmt komisch.

Erfunden hat das Ganze ein siebenundzwanzigjähriger Russe aus Montenegro namens Dmitry Chestnykh. Zuerst gab es das nur auf Englisch. Die Seite wurde über Nacht Kult, und viele machten damit die seltsamsten Erlebnisse: I entered a passage from the NIV translation of the Bible and got Kurt Vonnegut. Holy Cat's Cradle! Und die kanadische Schrifstellerin ➱Margaret Atwood, die ich einmal getroffen habe und von der ich ein schönes Photo gemacht habe, bekannte auf Twitter: According to the I Write Like analysis, I write like... Ta da! Stephen King! Who knew? Ich habe eben bei der absolut sicheren und unbestechlichen Messmethode einen Text von Stephen King eingegeben. Und siehe da, er schreibt nicht wie Margaret Atwood, er schreibt wie ➱Artur Schnitzler. Also ich habe das Spiel ein Stündchen lang mit deutschen und englischen Texten getrieben. Nie identifizierte das Stilerkennungsprogramm den Autor. Außer in einem Fall. Als ich eine im Internet zugängliche Leseprobe von Tellkamps Der Turm eingab, sagte das Programm: Sie schreiben wie Uwe Tellkamp.

Die Lehre für mich aus diesem elektronischen Trivial Pursuit war: ich schreibe weiter wie bisher. Auch wenn ich in diesem neuen Jahr etwas langsamer schreiben werde. Vielleicht nicht mehr jeden Tag, wie manche Leser es jetzt schon gewohnt sind. Vielleicht manchmal etwas anspruchsvoller im Stil, um gleich in den ersten Zeilen dieser Niederschrift zu beweisen oder darzutun, daß ich noch zu den Gebildeten mich zählen darf. Nach dem Stiltester der FAZ ist das von Theodor Fontane, haarscharf daneben, aber auch vorbei. Wir wissen natürlich, dass es der erste Satz des wunderbaren Romans Stopfkuchen von ➱Wilhelm Raabe ist.

Das Schreiben fällt mir leicht, Schwierigkeiten habe ich nur mit der neuen Rechtschreibung. Ich mache immer wieder Fehler, aber ich habe mein eigenes Korrekturprogramm. Besser als das eines jeden Computers. Kann man nicht herunterladen oder kaufen. Das Programm heißt Georg (Sie sehen ihn auf dem Photo unten rechts stilecht im ➱Morning Coat), der findet beinahe jeden Tippfehler. Dafür gebührt ihm großer Dank. Ich finde zwar auch jeden Fehler, aber nur in den Manuskripten von anderen Leuten. Ich habe für viele Freunde und Kollegen die Korrekturen für ihre Bücher und Aufsätze gelesen. Aber bei eigenen Texten bin ich blind. Da hilft es auch nicht, dass ich das ➱T-Shirt anziehe, das mir ➱Heidi mal geschenkt hat. Da steht in großen Buchstaben drauf: Ich kann lesen. Vielleicht hätte sie mir besser ein Shirt geschenkt, das den Aufdruck hat: Ich kann fehlerfrei schreiben.

Von der Heidi habe ich auch diese schöne Karte bekommen, die den Post ➱Jean-Pierre Desclozeaux ziert. Ja, das bin ich. Der Herr weiter oben in dem blauen Anzug mit den weißen Karos und der im weißen Anzug, das bin ich natürlich auch. Der auf den Photos sowieso.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen