Sonntag, 15. März 2020

Tagebücher


Hätte ich doch nur Tagebuch geführt. Dann hätte ich für meine hier vorliegenden Lebenserinnerungen nicht so mühsam in meinem Gedächtnis nach halbwegs belastbaren Daten und Fakten buddeln müssen. Auch ein penibel archivierter Briefwechsel (am besten mit bedeutenden Personen der Zeitgeschichte) wäre hilfreich gewesen. Aber zum Sammeln fehlt mir das Talent und ich korrespondiere kaum – weil ich nicht gern schreibe, schreibt Hannes Wader in seiner Autobiographie Trotz Alledem: Mein Leben. Auch wenn er nicht gern schreibt, sind es beinahe sechshundert Seiten Text geworden. Im Gegensatz zu Hannes Wader schreibe ich gern, ich habe auch jahrezehntelang Tagebücher vollgeschrieben. Und über Tagebücher möchte ich heute einige Zeilen schreiben. Nicht dass meine Tagebücher wirklich interessant wären, und bei einem Diary Slam will ich auch nicht auftreten.

Die Gabi hat mir im letzten Jahr ein Buch von Meike Winnemuth geschenkt. Die kennt sie, sie war mit ihr auf einer Schule und sieht sie manchmal bei Klassentreffen wieder. Gabi war überrascht, dass ich Meike Winnemuth schon kannte. Ich lese sie ständig. Meike Winnemuth schreibt zwar nicht immer über Mode, aber sie hat einmal ein witziges modisches Experiment gemacht: sie hat ein Jahr lang dieses kleine Blaue getragen. Und in ihrem Blog darüber geschrieben. Ich in meinem auch. Meike Winnemuth hat eine Kolumne im Stern, die lese ich immer, und so habe ich natürlich auch gelesen, was sie über Tagebücher geschrieben hat.

In ihrer Kolumne zitiert Winnemuth Joan Didion, weil 1968 in deren Buch Slouching Towards Bethlehem (der Link führt zu einem Volltext! Unglaublich, dass es so etwas gibt) dieser wunderbare Essay On Keeping a Notebook stand. Ich mag die amerikanische Schriftstellerin sehr, ich glaube, dass man das in dem langen Post Joan Didion merken kann. Ich wollte, ich könnte so schreiben wie sie. Oder so wie Adam Gopnik. Ich bemühe mich immer, aber irgendwie habe ich auch meinen ganz eigenen Stil, das merke ich, wenn ich in meine alten Tagebücher schaue. Leider gibt es dieses witzige gadget bei der FAZ nicht mehr, bei dem man unter der Überschrift Ich schreibe wie Texte eingeben konnte, um zu erfahren, wer man stilistisch war. Bei beinahe jedem Text, den ich eingab, schrieb ich wie Theodor Fontane.

Tagebücher haben mit unserem Ich zu tun, dem Ich, das man einmal war: ... our notebooks give us away, for however dutifully we record what we see around us, the common denominator of all we see is always, transparently, shamelessly, the implacable “I.” We are not talking here about the kind of notebook that is patently for public consumption, a structural conceit for binding together a series of graceful pensées; we are talking about something private, about bits of the mind’s string too short to use, an indiscriminate and erratic assemblage with meaning only for its maker.

Meine Tagebücher aus den Sixties sind wieder aufgetaucht, sie waren zehn Jahre lang verschwunden. Als ich vor elf Jahren meine Bremensien schrieb, habe ich sie manchmal benutzt. Danach habe ich sie in eine Plastiktüte gepackt und sie in die Butzekammer getan. Als ich den schönen großen Flachbildschirm kaufte, wanderte der alte voluminöse Bildschirm in die Butzekammer, und die Plastiktüte mit den Tagebüchern musste weichen. Bekam einen neuen Platz in einem Schrank und wurde dort vergessen.

Ich fand sie durch einen Zufall wieder, fünfzig Jahre Tagebücher. Fünfzig Jahre moi-même. Oder ein anderes Ich. I think we are well-advised to keep on nodding terms with the people we used to be, whether we find them attractive company or not. Otherwise they turn up unannounced and surprise us, come hammering on the mind's door at 4 a.m. of a bad night and demand to know who deserted them, who betrayed them, who is going to make amends. We forget all too soon the things we thought we could never forget. We forget the loves and the betrayals alike, forget what we whispered and what we screamed, forget who we were, hat Joan Didion geschrieben.

Aber es steht nichts über die Ichs drin, die in einer dunklen Nacht fragen könnten who deserted them, who betrayed them, who is going to make amends. Die Tagebücher verzeichnen, was ich gelesen habe, welche Filme ich gesehen habe (wie Truffauts Sie küßten und sie schlugen ihn oder Bergmans Das siebente Siegel), wann ich in der Oper war. Zum Beispiel in Mozarts Zauberflöte, eine Aufführung bei der die Bremer Freimaurerlogen das Theater am Goetheplatz gemietet hatten. Alle Damen im Abendkleid, die Herren im Frack. Sieht man selten. Aufsatzthemen stehen auch im Tagebuch: Deuten Sie die Erscheinungen des Weiblichen in 'Faust' als Symbol! Ich würde ja zu gerne wissen, was ich damals geschrieben habe. Mein damaliger Deutschlehrer war eine Katastrophe, kein abgeschlossenes Studium, aber stolz auf seine Napola; man stellte ja damals bei dem Lehrermangel viele ein, die keine guten Lehrer waren. Aber, wie der Volksmund sagt, schlechte Lehrer sind auch eine gute Schule.

Meine Tagebücher sind Tagebücher für den täglichen Gebrauch. Meine Leseliste für das Jahr 1962 habe ich ja schon einmal in den Blog gestellt, die füllt die ersten Seiten des Tagebuchs. Aber sonst steht da nicht furchtbar viel drin, ich bin nicht der klassische Tagebuchautor, der mit Samuel Pepys oder Ernst Jünger konkurrieren kann. Ich bleibe mal bei dem Jahr 1962, weil das rote Tagebuch für 1962 das erste war, das ich aus der Plastiktüte holte. Dass ich am Donnerstag, dem 27. September in der Komödie am Kurfürstendamm 206 Juliette Gréco gesehen habe, steht im Tagebuch. Aber da steht nur der Name, nicht dass ich hinter dem schönsten Mann Deutschlands, dem wohlondulierten Paul Hubschmid, einem Sitzriesen, saß und nur wenig von Juliette sehen konnte.

Die Schule bietet uns in diesem Jahr eine Studienreise nach KölnMainz und Trier. Es ist ein Experiment, das nicht wiederholt wird. Ich glaube, ich war der einzige, der die geforderte 20-seitige Studienarbeit abgegeben hat. Weshalb ich die Deckengemälde von St Paulin in Trier noch nicht in diesen Blog geschrieben habe, das weiß ich nicht, meine Arbeit habe ich noch. Aber der Höhepunkt der kulturellen Ereignisse des Jahres bleibt doch Juliette. Nicht die Aufführung von Bunbury, or the Importance of Being Earnest (in englischer Sprache), wo ich auf der Bühne stehe. Nicht die Aufführung von Arthur Millers Death of a Salesman in Bremerhaven, zu der wir nachts in Bussen der US Army gebracht werden.

Eine Konstante des Tagebuchs ist jede Woche der Eintrag Jugendheim, das ist unser Malkurs, der hier schon einen Post hat. Wenn ich mein gutes Gedächtnis nicht hätte, könnte ich aus den sparsamen Eintragungen nichts herauslesen. Aber so weiß ich, dass das Wort Strandlust bedeutet, dass ich mir da Adolf von Thadden angehört habe. Der war in unserem Ort, weil ihm der Ziegeleibesitzer Fritze Thielen die NPD finanzierte. Er gab sich moderat, die Wölfe kamen im Schafspelz daher. Er war ziemlich englisch gekleidet. Das hat der Herr Gauland mit ihm gemein. Ein Jahr vorher stand auch schon einmal Strandlust in meinem Tagebuch, das war der Auftritt von Franz-Josef Strauß, der wie ein neuer Nazi auf dem Podium wütete.

Im Juli 1962 findet sich ein Eintrag, der Rotterdam Ekke Seven Seas lautet, da kam der Ekke aus Amerika zurück. All das, was in diesem Post steht, steht nicht in meinem Tagebuch. Auch nicht der Rest des Tages in Rotterdam oder der Rest des Hollandurlaubs. Nichts von der Fahrt mit dem kaputten Opel von Kapitän Janssen durch Holland in der Nacht. Nichts davon, dass ich am nächsten Morgen im Bus nach Langeoog sitze, und die Ingrid hinter mir sitzt und mit mir flirten will. Von der Ingrid, die heute immer wieder in diesem Blog auftaucht, steht bis auf ihren Geburtstag überhaupt nichts in dem Tagebuch. Das wird sich im Laufe der Jahre ändern, das habe ich schon in dem Tagebuch aus dem Jahre 1968 gesehen. Und ich weiß auch noch genau, dass der kryptische Eintrag eines Straßennamens wie Weizenfurt eine blonde Frau bedeutete, die ungeheuer gut küssen konnte.

Das ist das Eigentümliche an Tagebuchblättern, wenn sie echt sind, dass sie keine Ereignisse enthalten. Sobald die Ereignisse ins Leben eingreifen, verlieren sich Freude, Interesse und Zeit für das Tagebuch, und der Mensch findet die spontane Naivität des Kindes oder des Tieres in seiner Wildnis wieder, hat Frank Wedekind in sein Tagebuch geschrieben. In einem Punkt kann ich das bestätigen. Das wichtigste Ereignis des Jahres 1962 findet sich nicht im Tagebuch: die große Sturmflut im Februar. So sah das bei uns damals am Utkiek aus. Das Ereignis steht 2012 in meinem Post Hochwasser, nicht im Tagebuch. Seltsam.

Fange ich jetzt an, die alten Tagebücher zu lesen? Ich habe ja die letzten zehn Jahre gut ohne die Tagebücher gelebt. Mein Gedächtnis funktioniert noch. Und ich habe Berge von Photos, die die Erinnerung stützen. Maria Popova schreibt ihrem Blog Brain Pickings über Joan Didions Essay: Though the essay was originally written nearly half a century ago, the insights at its heart apply to much of our modern record-keeping, from blogging to Twitter to Instagram. Von Twitter habe ich keine Ahnung, das überlasse ich dem Analphabeten im Weißen Haus, was Instagram ist, weiß ich nicht. Was es bedeutet, ein Blogger zu sein, das habe ich inzwischen begriffen. Ich kann mich nicht mit Maria Popova vergleichen, die angeblich eine Million Leser im Monat hat (hatte Joan Didion je so viele Leser?), ich komme mal gerade auf tausend Leser am Tag.

Es war mir klar, dass ein Blog eine Art Tagebuch ist. Das Portmanteau Wort Blog ist gebildet aus dem b vom web und dem log, das wir auch im Logbuch finden. Bevor das Wort Blog verwendet wurde, redete man vom Weblog, und die ersten dieser Weblogs wurden auch Online-Tagebücher bezeichnet. Irgendwie war mir das klar, denn als ich anfing zu bloggen, habe ich nichts mehr in die Tagebücher geschrieben. Ich glaube, ich packe die jetzt mal wieder weg. Ich weiß jetzt ja, wo sie sind, ich kann immer wieder hineinschauen, wenn mir danach ist. It is a good idea, then, to keep in touch, and I suppose that keeping in touch is what notebooks are all about. And we are all on our own when it comes to keeping those lines open to ourselves: your notebook will never help me, nor mine you.

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