Mittwoch, 5. April 2023

Nachtgedanken


Stirb, prophetischer Greis, stirb! – denn dein Palmenzweig
Sproßte lang schon empor; daß sie dir rinne, steht
Schon die freudige Thräne
In dem Auge der Himmlischen.

Du verweilst noch? und hast hoch an die Wolken hin
Schon dein Denkmal gebaut! Denn die geheiligten,
Ernsten, festlichen Nächte
Wacht der Freigeist mit dir, und fühlts,

Daß dein tiefer Gesang drohend des Weltgerichts
Prophezeiung ihm singt! Fühlts, was die Weisheit will,
Wenn sie von der Posaune
Spricht, der Todtenerweckerin!

Stirb! du hast mich gelehrt, daß mir der Name Tod
Wie der Jubel ertönt, den ein Gerechter singt:
Aber bleibe mein Lehrer,
Stirb, und werde mein Genius!


Wir sind im Zeitalter der Empfindsamkeit, dies hier dichtet der junge Klopstock. Der Mann, den er hier besingt, stirbt noch nicht, der wird noch bis zum 5. April 1765 leben. Er heißt Edward Young und hat ein Werk geschrieben, das James Boswell als a mass of the grandest and richest poetry that human genius has ever produced bezeichnete. Der Meinung sind in Europa viele, die The Complaint: or, Night-Thoughts on Life, Death, & Immortality gelesen haben. Goethe hat gesagt, dass er Englisch gelernt habe, um die Night-Thoughts zu lesen. Noch in Hölderlins Nachtgesänge (zu denen auch Hälfte des Lebens gehört) wirken sie nach. In Novalis’ Hymnen an die Nacht auch. Neun Nächte, zehntausend Zeilen Blankvers auf vierhundert Seiten, das muss man erst einmal lesen. Klopstock bemühte sich Englisch zu lernen, um die Night-Thoughts lesen zu können. Und um einen Brief an Young schreiben zu können. Vieles hatten ihm Freunde übersetzt. Für Klopstock bleibt Young der Größte: Youngs Nächte sind vielleicht das einzige Werk der höhern Poesie, welches verdiente, gar keine Fehler zu haben. Wenn wir ihm nehmen, was er als Christ sagt, so bleibt uns Sokrates übrig. Aber wie weit ist der Christ über Sokrates erhaben!

Ich habe für Sie hier das Original und hier beim Projekt Gutenberg eine deutsche Übersetzung. Das ist die Übersetzung aus dem Jahre 1825 des Grafen von Bentzel Sternau, der die Blankverse beibehalten hat (Im Versmaas der Urschrift übersetzt). Es ist nicht die Übersetzung von Johann Arnold Ebert, die im 18. Jahrhundert in Deutschland Furore gemacht hat. Zu dieser Übersetzung gibt es hier eine schöne Seite. Die leider den Nachteil hat, dass die Links, die zum Original führen sollten, ins Nichts führen. Aber ich kann Ihnen den dritten Band, der mit der siebten Nacht beginnt, hier anbieten, da bekommt man einen Eindruck vom Werk.

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