Im Jahre 1934 bringt die Firma Urofa in Glashütte ein Uhrwerk auf den Markt, das dank der geschickten Vermarktung zu einem kleinen Mythos werden wird. Es hat sogar einen Namen, es heißt Raumnutzwerk. Wenn man schon angeblich ein Volk ohne Raum ist, will man jetzt den Raum in den neuen rechteckigen Uhren richtig nutzen. Heute bekommt das Urofa Kaliber 58 noch das Epitheton legendär verpasst, das lässt kein Ebay-Verkäufer und kein Flohmarkthändler aus. Und es funktioniert immer wieder, ähnlich wie bei dem Begriff Wehrmachtswerk. Das ist nun kein deutsches Werk, sondern das Kaliber 1130 vom Schweizer Anton Schild. Aber es war in den meisten Uhren der Wehrmacht, und deshalb heißt es bei uns Wehrmachtswerk. Es ist schon erstaunlich und auch ein wenig beunruhigend, dass deutsche Uhren nur mit zwei Begriffen aus der Zeit der Nationalsozialisten in Verbindung gebracht werden. Das ist schon etwas anderes, als wenn preiswerte Uhrwerke aus Besançon L'Alouette oder La Melissa heißen. Für das Urofa 58 startet man in Glashütte eine Werbekampagne, wie es sie in Deutschland bis dahin nicht gegeben hat. Für die Illustrationen gewinnt man den bekannten Künstler Wassili Masjutin, der Exilrusse lebt jetzt in Berlin. In schönen Holzschnitten, die vom Bibliographischen Institut in Leipzig gedruckt werden, stellt er die Qualitäten des Uhrwerks aus Glashütte heraus.
Rechteckige Uhren sind jetzt Mode, in der Nachfolge des Art Deco und in dem Stil des amerikanischen Depression Modern kann man sie auf der Leinwand am Arm jedes amerikanischen Filmschauspielers bewundern. Man wird sie auch am Arm aller Nazigrößen bewundern können. Die Werke, die in den schweizer oder den amerikanischen Uhren sind, haben aber nicht einen so schönen Namen wie Raumnutzwerk. Obgleich die, wie zum Beispiel das Gruen Kaliber 123 oder das Hamilton 980 ästhetisch viel schöner und qualitativ viel besser sind. Es kommt offensichtlich nicht darauf an, wenn man eine Legende werden will, dass ein Produkt ästhetisch schön und qualitativ hochwertig ist, es kommt darauf an, dass einen schönen griffigen Namen hat. Die Uhrenfabrik Glashütte hat die Zeichen der Zeit erkannt. Sie kämpft auch gerade um ihr Überleben.
Wenige Jahre zuvor war hier in Glashütte alles pleite. Nur dank des geschickten Handels eines jungen Juristen namens Dr Ernst Kurtz, den die Banken zur Rettung der Glashütter Uhrenindustrie eingesetzt haben, kommt man jetzt aus der Misere. Der hat die Uhrenfabrik (UFAG) und die Uhrenrohwerkefabrik (UROFA) in Glashütte gegründet. Und er setzt auf Armbanduhren, das hat man in Deutschland völlig verschlafen. Denn als das Raumnutzwerk auf den Markt kommt, werden weltweit genau so viele Armbanduhren wie Taschenuhren verkauft. Von da an ist der Siegeszug der Armbanduhr nicht aufzuhalten. Das Raumnutzwerk kommt also genau im richtigen Augenblick. Es wird sich bis zum Kriegsende eine halbe Million mal verkaufen. Und wird wenig später in der DDR als Kaliber GUB 62 noch 200.000 Mal gebaut werden. Dr Kurtz hat das in Trümmern liegende Glashütte bei Kriegende verlassen. Er wird in einem kleinen Kaff bei Delmenhorst namens Ganderkesee noch das letzte Armbanduhrenwerk nach Glashütter Tradition bauen, das Kaliber Kurtz 25, das einzige deutsche Werk, das eine Breguetspirale besitzt (lesen Sie mehr dazu in dem Post Kurtz).
Wenn man sich das legendäre Raumnutzwerk anschaut, fällt auch einem Laien auf, dass es eine sehr grosse Unruhe und ein sehr grosses Federhaus besitzt. Beides Garanten für einen guten Gang, wie es Professor Masjutin in seinen Werbeillustrationen verdeutlicht. Die Unruhe ist 12 Millimeter groß, das reicht schon an die Unruh einer Taschenuhr heran. Aber an dieser Stelle müssen wir doch, bevor wie den deutschen Erfindergeist loben und das Raumnutzwerk weiter verherrlichen, die Frage stellen, die das kleine Ricola Männchen den fetten Finnen in der Sauna stellt. Wer hat's erfunden? Und die Antwort ist natürlich auch hier: die Schweizer.
Wenn man das Revue Thommen Werk 54 betrachtet Revue Thommen cal. 54 wird jedem klar sein, es ist das gleiche Werk. Dieses hier ist allerdings sechs Jahre früher, und es besitzt schon eine Stoßsicherung. Die wirklichen Tüftler sitzen nicht in Glashütte, sie sitzen im schweizerischen Waldenburg. Die Fabrik gehört gehört Reinhard Straumann, der in den dreißiger Jahren die weitreichendsten Erfindungen für die Welt der Uhren überhaupt macht. Er findet die Metalllegierungen, die die Unruhe und die Unruhspirale unabhängig von Temperatur und Magnetismus machen, das ist mehr als man in Glashütte seit den Tagen von Ferdinand Adolph Lange hinbekommen hat. Nebenbei erforscht er auch als erster wissenschaftlich den Skisprung, das tut in Glashütte auch niemand.
Eine Uhr aus Glashütte mit dem Raumnutzwerk kostet in den dreißiger Jahren mit knapp vierzig Reichsmark das Doppelte von dem, was die Konkurrenz aus Pforzheim wie Junghans oder Bidlingmaier für ihre Rechteckuhren verlangt. Man wirbt in Glashütte in Weihnachtsbriefen (die Mit Deutschen Gruß unterschrieben sind) mit der Qualität: Das Werk einer wirklich guten Uhr ist so zuverlässig und solide gebaut, daß man sich nicht ein zweites Mal eine Uhr zu kaufen braucht. Das ist richtig, gut gepflegte Urofa Werke funktionieren heute immer noch. Aber das tun die Uhren von hunderten von schweizer Firmen aus den dreißiger Jahren auch, die aus ihren Uhrwerken keinen nationalen Mythos gebastelt haben.
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