Das hat einer schon, lange ist’s her, konstatiert über jene Epoche, die wir heute gerne die klassische nennen – und der das Entstellen der Messestadt Frankfurt beobachtete: „Man begann damals das Gebiet hinter dem Bahnhof zu verändern. Die alten Schreberhäuslein wurden niedergelegt. Verleger hielten mit ihren Bücherständen Einzug. Aber bald herrschte, wo vordem des Lebens Rankenwerk gewuchert, die neue Unübersichtlichkeit des Geistes. Modische Eitelkeit.“ Goethe hieß der Mann. Auf zum Jahrmarkt der Eitelkeiten. So stand es 1985 in der Zeit, in einem Artikel von dem Feuilletonchef Fritz J. Raddatz. Ein Goethe Zitat kommt ja immer gut an, auch wenn sich der Olympier (der heute vor 265 Jahren geboren wurde) hier nur über so triviale Dinge wie den Frankfurter Bahnhof und die Frankfurter Buchmesse ärgert. Wenige Monate vor diesem Artikel hatte sich Fritz J. Raddatz mit dem Zitat Wir hurtigen Verwurstler und Erzeuger der Häppchen-Kultur sehr schön selbst charakterisiert. Die Frankfurter Allgemeine fügte dem wenig später noch den Titel Oberscharlatan des deutschen Feuilletons hinzu.
Denn die Worte Goethes standen nicht bei Goethe, die standen als kleine Satire in der Neuen Zürcher Zeitung. Zu Goethens Zeiten gab es in Frankfurt noch keinen Bahnhof und keine Buchmesse. Raddatz hatte, wieder einmal, nicht ordentlich gelesen. Und dann begann etwas, was man heute einen shitstorm nennt. Und Raddatz flog bei der Zeit raus. Der Gräfin Dönhoff war er ewig böse: Der Rauswurf hat mich sehr gekränkt. Und besonders gekränkt hat mich die Verhaltensweise der Dönhoff, ich fand das denunziatorisch, deutsch-typisch. Sie hat auf Seite eins eine Glosse gegen mich geschrieben, statt sich, wie sich das gehört, vor einen angegriffenen Mitarbeiter zu stellen. Wenig später bezeichnete er sie als die Inge Meysel des Journalismus.
Ja, der Fritz Raddatz, der hat Stil. Er hielt sich für einen Dandy, obwohl er nur ein Geck war. Und er hat in seinen Tagebüchern auch gleich eine Anklage parat: 12. Oktober 1985 – Was ist es nun, was mich so furchtbar verhaßt macht? Es kann ja wohl nicht die ewig vorgehaltene Automarke, die Hemden aus England oder die Bilder an den Wänden eine Ursache sein?“ Kann es sein, daß in diesem Satz der Numerus falsch ist? Und daß er gar kein Fragesatz ist? „Homosexuell, jüdisch-schnell, zu sehr und zu oft Überlegenheit vorführend? Geht es noch selbstgefälliger, noch ➱peinlicher?
Goethe ist nicht unbedingt mein Liebling. In der Schulzeit habe ich mich um diese sogenannten Klassiker (sprich Goethe und Schiller) gedrückt. Und ich las mich - jede Woche mindestens ein Buch - durch die Sammlung der deutschen Klassiker in der Bibliothek des Lehrerzimmers. Dr Hans Ludwig ➱Schaefer, den alle Welt Edu nannte, hatte mir das erlaubt. Die Bibliothek des Lehrerzimmers war ein kleiner Raum, dessen Wände nur aus Bücherregalen bestanden, das einzige Möbelstück war ein mit grünem Wachstuch bezogenes Feldbett, auf dem Schüler nach Ohnmachtsanfällen oder mit Nasenbluten plaziert wurden. Ich hatte den Ehrgeiz, bis zum Abitur durch die Sammlung der Klassiker durch zu sein. Inklusive von Arnims Kronenwächtern. Ich habe es damals geschafft, meinen Plan zu verwirklichen. Unter Auslassung von Goethe und Schiller. Und ohne Ohnmacht und Nasenbluten.
Neben den Büchern aus dem Lehrerzimmer las ich alles, was mein Freund Peter mir empfahl. Ich las auch früh ➱Arno Schmidt (und alles, was er liebte) und ➱Ezra Pound (und alles, was er empfahl). Der Goethepreisträger Arno Schmidt hatte zu Goethe ja ein etwas seltsames Verhältnis (lesen Sie ➱hier mehr), einerseits schätzte er vieles von Goethe, andererseits schrieb er solch wunderbare Bosheiten: Bei Goethe ist der Roman keine Kunstform, sondern eine Rumpelkiste : gewaltsam aneinander gepappte divergente Handlungsfragmente, hineingestreute übel an den Hauptfaden geknüpfte Novellen, Aphorismen, einander widersprechende Erziehungsmaximen, allgemeine Waidsprüchlein (todsicher den ungeeignetsten Personen in den Mund gelegt: was läßt er zum Beispiel das rührende Kind Othilie für onkelhaft weltkundige “Gedankensplitter” in ihr Tagebuch schreiben ! - vom fragwürdigen Wert mancher Bemerkungen noch ganz zu schweigen !) - Das beste Beispiel sind die Wanderjahre : hier hat er so recht die Schubladen ausgekehrt : Quer durch die Eifel sagen wir Soldaten ja, wenn dem Feldkoch wunderliche Eintöpfe entwischt sind.
Es gibt interessantere Sachen als Goethe in der deutschen Literatur. Manche davon kommen auch in meinem Blog vor. Goethe weniger. Es gibt einen kleinen ➱Post für den Geheimrat. Er taucht natürlich in dem Post ➱Tischbein auf, auch in ➱Germanisten und ➱Schlittschuhlaufen. Ein Post, der übrigens erstaunliche Leserzahlen aufweist, aber wahrscheinlich nicht wegen Goethe. Und die kleine wahre Geschichte, die in ➱Schmutzige Lyrik steht, die empfehle ich heute zur Lektüre. Und falls Sie um Goethe bisher einen Bogen gemacht haben, hätte ich eine Leseempfehlung für Sie: Unser Goethe: Ein Lesebuch, herausgegeben von den Goethe Spezialisten ➱Eckhard Henscheid und F. W. Bernstein.
Und für alle, die Goethe gar nicht mögen, hätte ich noch ein wenig Schmäh von dem Österreicher Thomas Bernhard (aus Auslöschung: Ein Zerfall): Goethe sei der Gebrauchsdeutsche, habe ich zu Gambetti gesagt, sie, die Deutschen, nehmen Goethe ein wie eine Medizin und Glauben an ihre Wirkung, an ihre Heilkraft; Goethe ist im Grunde nichts anderes, als der Heilpraktiker der Deutschen, hatte ich zu Gambetti gesagt, der erste deutsche Geisteshomöopath. Sie nehmen sozusagen Goethe ein und sind gesund. Das ganze deutsche Volk nimmt Goethe ein und fühlt sich gesund. Aber Goethe, habe ich zu Gambetti gesagt, ist ein Scharlatan, wie die Heilpraktiker Scharlatane sind und die Goethesche Dichtung und Philosophie ist die größte Scharlatanerie der Deutschen.
Seien sie vorsichtig, Gambetti habe ich zu diesem gesagt, seien sie vor Goethe auf der Hut. Allen verdirbt er den Magen, nur den Deutschen nicht, sie glauben an Goethe wie an ein Weltwunder. Dabei ist dieses Weltwunder nur ein philiströser Schrebergärtner. Gambetti hatte laut aufgelacht, als ich ihm erklärte, was ein Schrebergarten ist. Das hatte er nicht gewusst. Insgesamt, habe ich zu Gambetti gesagt, ist das Goethesche Werk ein philiströser philosophischer Schrebergarten.
In nichts hat Goethe das Höchste geleistet, sagte ich, in allem nur das Mittelmaß zustande gebracht, er ist nicht der größte Lyriker, er ist nicht der größte Prosaschreiber, habe ich zu Gambetti gesagt, und seine Theaterstücke sind gegen die Stücke Shakespeares beispielsweise so gegeneinander zu stellen, wie ein hochgewachsener Schweizer Sennenhund gegen einen verkümmerten Frankfurter Vorstadtdackel. Faust, habe ich zu Gambetti gesagt, was für ein Größenwahnsinn! Der total missglückte Versuch eines schreibenden größenwahnsinnigen, hatte ich zu Gambetti gesagt, dem die ganze Welt in den Frankfurter Kopf gestiegen ist, Goethe, der größenwahnsinnige Frankfurter und Weimarianer, der größenwahnsinnige Großbürger auf dem Frauenplan.
Goethe, der Kopfverdreher der Deutschen, der sie jetzt schon einhundertfünfzig Jahre auf dem Gewissen hat und zum Narren hält. Goethe ist der Totengräber des Deutschen Geistes, habe ich zu Gambetti gesagt. Wenn wir ihn Voltaire, Descartes, Pascal, entgegensetzen zum Beispiel, habe ich zu Gambetti gesagt, Kant, aber natürlich auch Shakespeare, ist Goethe erschreckend klein. Dichterfürst, was für ein lächerlicher, dazu aber grunddeutscher Begriff, hatte ich zu Gambetti gesagt. Hölderlin ist der große Lyriker, hatte ich zu Gambetti gesagt, Musil ist der große Prosaschreiber und Kleist ist der große Dramatiker. Goethe ist es dreimal nicht.
Obwohl ich mir das Kommentieren aus vernünftigen Gründen doch sehr untersagt habe, hier kann ich nicht anders, Herrn Raddatz und den Geheimen Rat in einem zu erledigen, das war zumindest sehr unterhaltsam, für mich. Ach und zum Österreichischen Schmäh: Musil ist mir zu fremd, dazu mag ich nichts sagen, doch Kleist und Hölderlin, ja, natürlich.
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