Mittwoch, 30. Oktober 2019

Basisformel


Da erfährt jemand ein ganz schreckliches Geheimnis, die ganze Welt ist bedroht. Aber aus irgendeinem Grund kann die Frau, die jetzt die Pläne kennt, nicht einfach zur Polizeiwache um die Ecke gehen. Und die Bösen dieser Welt, heißen sie nun Dr No, Dr Fu Manchu oder Ernest Stavro Blofeld oder wie immer, haben längst einen Profikiller unter Vertrag. Und was nun folgt, ist eine gnadenlose Jagd. Also am letzten Sonnabend zum Beispiel wurde bei ZDFneo Kate Abbott (Milla Jovovich) als Agentin der Homeland Security durch London gehetzt (der Film hieß auch Jagd durch London, im Original Survivor), verfolgt von Pierce Brosnan. Diesmal kein englischer Geheimagent mit einer dreistelligen Nummer, sondern ein böser Profikiller.

Der sprengt ein Restaurant in die Luft, das die Heldin glücklicherweise gerade verlassen hat, der Rest von London bleibt heil. In dem Film London has Fallen, in dem ein heldenhafter Agent den amerikanischen Präsidenten rettet, bleibt nichts von London heil. Natürlich sind wieder böse Verschwörer am Werk. Der Film ist der Höhepunkt des Schwachsinns, den diese Sorte Film erreichen kann. Ignatiy Vishnevetsky schrieb im The A.V. ClubA murky, brain-dead stab-a-thon packed with so many inane chases, laughable special effects, and mismatched stock footage shots that it begs to be made into a drinking game, 'London Has Fallen' is one of those rare films that is good at absolutely nothing. Der A.V. Club ernannte den Film später zum schlechtesten Film des Jahres.

Wir haben Ähnliches schon gesehen, immer wieder, mindestens einmal die Woche im Fernsehen. Die Welt wird immer wieder von einem Helden (oder einer Heldin) gerettet, die numinösen Mächte werden vernichtet. Es ist eine Formel, die auch für alle James Bond Verfilmungen gilt. Northrop Frye hat in seinem Buch Anatomy of Criticism vier Grundmythen der Literatur isoliert, von denen eine die romance ist: The essential element of the plot in romance is adventure, which means that romance is naturally a sequential and processional form, hence we know it better from fiction than from dramaAt its most naive it is an endless form in which a central character who never develops or ages goes through one adventure after another until the author himself collapses. We see this form in comic-strips where the central character persists for years in a state of refrigerated deathlessness. Auf dieser Ebene haben das altenglische Beowulf Lied, Asterix und James Bond die gleiche Struktur.

Arthur Asa Berger führt in seinem Buch Popular Culture Genres: Theories and Texts solche Erzählungen auf die Märchentheorie von Wladimir Jakowlewitsch Propp zurück: There are heroes and heroines, there are villains and villainesses, there is conflict, there are helpers, there are magic agents or powers that the heroes have and that villains have, and so on. Heroes, whether they are knights, cowboys, soldiers, robots, androids, or cyborgs do certain kinds of things (such as rescue damsels in distress and thwart the heinous plans of evil and ruthless villains) and have done these things since we started telling stories. Einen Ritter, der gerade eine damsel in distress rettet, können wir hier sehen. Raymond Chandler hat das Bild in seinen Roman The Big Sleep hineingeschrieben.

Wir lassen die großen Theorien mal eben draußen vor und suchen in der Literatur nach der Formel, in der Flucht und Verfolgung die wichtigste Rolle spielen. Wir finden das als ein wiederkehrendes Motiv in der englischen Gothic Novel, in der immer wieder unschuldige Schönheiten von einem Bösewicht durch Keller und Verliese von Schlössern gejagt werden. Und auch der Bösewicht, der Gothic Villain, ist nicht uninteressant, weil viele der Bösewichte des Thrillers im 20. Jahrhundert Züge des Gothic Villain haben. Zu denen auch die körperliche Deformation gehört, die zum Beispiel einen Dr No auszeichnet.

Mit Sir Walter Scotts Roman Waverley beginnt ein Typ des Romans, den wir die novel of flight and pursuit nennen können. Der Schotte Robert Louis Stevenson wird diese Formel in Romanen wie Kidnapped und Catriona wieder aufnehmen. Dieses Bild gehört natürlich nicht in Scotts Waverley, es ist von F.O.C. Darley, der James Fenimore Coopers Werke illustriert hat. Denn was ist The Last of the Mohicans anderes als eine Variation von Waverley? Eine novel of flight and pursuit mit Indianern anstelle der Schotten.

Dieser Schotte hier hat etwas in der Literatur von flight and pursuit angerichtet. Es ist John Buchan, hier im vollen Staatsornat als Generalgouverneur von Kanada. Er ist gerade Lord Tweedsmuir geworden, das war der Wunsch des englischen Königs gewesen, für den es undenkbar war, dass ein Bürgerlicher eine solche Position besetzt. Zwanzig Jahre zuvor hatte Buchan einen Roman geschrieben, der der Klassiker des Spionageromans des 20. Jahrhunderts geworden ist, und in dem wir alle Ingredienzien finden, die uns in dem Film Jagd durch London und vielen anderen Produktionen wieder begegnen.

Als Buchan 1915 seinen Roman The Thirty-Nine Steps schrieb, ahnte er noch nicht, dass er zwei Jahre später Chef des englischen Geheimdienstes sein würde. Vieles aus dem Roman findet sich auch in dem Thriller The Power-House (1916): You think that a wall as solid as the earth separates civilisation from barbarism. I tell you the division is a thread, a sheet of glassA touch here, a push there, and you bring back the reign of Saturn. Es ist ein Satz, der auch in The Thirty-Nine Steps stehen könnte. The Thirty-Nine Steps enthält eine Widmung an Buchans Freund Thomas Arthur Nelson, den er beim Studium in Oxford kennengelernt hatte, und der als Chef des Thomas Nelson Verlags auch der Verleger von Buchans ist. Buchan wird bis zum Jahre 1929 für den Thomas Nelson Verlag arbeiten.

Die Widmung von The Thirty-Nine Steps hat es in sich: My Dear Tommy, You and I have long cherished an affection for that elemental type of tale which Americans call the 'dime novel' and which we know as the 'shocker'--the romance where the incidents defy the probabilities, and march just inside the borders of the possible. During an illness last winter I exhausted my store of those aids to cheerfulness, and was driven to write one for myself. This little volume is the result, and I should like to put your name on it in memory of our long friendship, in the days when the wildest fictions are so much less improbable than the facts.

Buchans Held Richard Hannay (hier Kenneth More in einer schlechten ✺Filmversion des Romans) ist Schotte wie Buchan, er ist nicht mehr jung, er hat sein Geld in Südafrika gemacht. Jetzt ist er in London und langweilt sich: Here was I, thirty-seven years old, sound in wind and limb,with enough money to have a good time, yawning my head off all day. I had just about settled to clear out and get back to the veld, for I was the best bored man in the United Kingdom. Hannay lernt seinen Nachbarn kennen, einen Amerikaner namens Franklin P. Scudder, der ihm eine wilde Geschichte von einer riesigen Verschwörung erzählt. Hannay hat zuerst seine Zweifel, aber als er Tage später Scudder ermordet in seiner Wohnung findet, weiß er, dass die Geschichte wahr sein muss. Er kann sich nicht an die Polizei wenden, die hält ihn für den Mörder des Amerikaners. Er muss fliehen, verfolgt von den Bösewichten und der Polizei: in all thrillers the hero, whose task it is to protect civilization, must first lose the protection of society. The hunter becomes the hunted, sagt Ralph Harper in The World of the Thriller.

The thrillers are like life...The world has been remade by William Le Queux, lässt Graham Greene eine Romanfigur in seinem Roman The Ministry of Fear sagen, und benennt mit William Le Queux einen Vorläufer von Buchan, ein anderer wäre 'Sapper' mit seinem Helden Bulldog Drummond. Dass der Spionageroman eine Art factifiction ist, also etwas mit der Wirklichkeit der Spionage, dem ältesten (oder dem zweitältesten) Gewerbe der Welt, zu tun hat, macht ihn für viele Leser so reizvoll. Wer Verschwörungstheorien liebt, ist in diesem Genre bestens aufgehoben.

Das ist natürlich nicht Richard Hannay, das ist natürlich Cary Grant in North by Northwest, aber in Buchans Roman findet sich auch eine Szene, wo Hannay in den schottischen Highlands von einem Flugzeug gejagt wird. Alfred Hitchcock hatte alle Romane von John Buchan in seiner Bibliothek, und er hat François Truffaut in dem berühmten Interview gesagt: Buchan was a strong influence a long time before I undertook The Thirty-nine Steps, and some of it is reflected in The Man Who Knew Too Much...

Hitchcock hat The Thirty-Nine Steps verfilmt (hier Robert Donat als Richard Hannay), im selben Jahr, als Buchan Generalgouverneur von Kanada wird. Und es ist nicht nur The Man Who Knew Too Much, in dem man einen Einfluss von John Buchan spürt, es sind auch Filme wie North by Northwest und Saboteur. What I find appealing in Buchan's work is his understatement of highly dramatic ideas, hat Hitchcock gesagt und nimmt sich aus Buchans Roman das Motiv von flight and pursuit, all die episodenhaften Abenteuer, die der Held, der sich vom edwardianischen Gentleman zum Tramp wandelt, bestehen muss.

Was Hitchcock nicht interessiert (hier Richard Powell in seiner sehr stimmigen Verfilmung von The Thirty-Nine Steps), ist die Welt von John Buchan, die Welt der gentlemen und die Ideologie des englischen Empire. Buchan kommt aus der upper middle class und hat in Oxford Klassische Philologie studiert und heiratet in die englische Aristokratie hinein; Hitchcocks Vater war Gemüsehändler, und Hitchcock kann keinen Universitätsabschluss vorweisen. Buchan wird im Rang eines Colonel Direktor des Geheimdienstes und später Generalgouverneur von Kanada, Hitchcock wird Filmregisseur und jagt im Alter Blondinen hinterher. Verschiedener als Buchan und Hitchcock kann man nicht sein, und doch spukt Buchan immer wieder durch Hitchcocks Werk, weil den die romance where the incidents defy the probabilities nicht loslässt.

Richard Hannay rettet England natürlich im letzten Augenblick, damals bedeutet England noch etwas mehr als heute. Den Engländern gehört nicht mehr die ganze Welt, aber das Rule Britannia wird für einen großen Teil der Welt gelten. Für John Buchan wäre es unvorstellbar gewesen zu glauben, dass eine Flitzpiepe wie Boris Johnson englischer Premierminister wird.

Buchan wird noch vier weitere Richard Hannay Romane schreiben (und heute schreibt ein Mann namens Robert J. Harris noch Richard Hannay Romane), er ist ein Serienheld wie James Bond. Am Ende von The Thirty-Nine Steps geht Hannay als Captain zur Armee, in Mr Standfast ist er schon General. Wir finden in dem Roman Sätze, die wie ein Glaubensbekenntnis Buchans klingen: In that moment I had a kind of revelation. I had a vision of what I had been fighting for, what we were all fighting for. It was peace, deep and holy and ancient, peace older than the oldest wars, peace which would endure when all our swords were hammered into ploughshares. It was more; for in that hour England first took hold of me... I understood what a precious thing this little England was, how old and kindly and comforting, how wholly worth striving for. The freedom of an acre of her soil was cheaply bought by the blood of the best of us.

Es klingt ein wenig nach Shakespeares This precious stone set in the silver sea, aber man nimmt Buchan das ab, er hat so einen Hang zum Mystischen. Die englischen Soldaten, die schon während des Krieges an der Front The Thirty-Nine Steps lasen (It is just the kind of fiction for here, schrieb ein Offizier aus Frankreich an Buchan), werden solche Worte gerne vernommen haben. Man hat sich immer wieder schwergetan, John Buchan einzuordnen. Der schottische Schriftsteller und Jazzkritiker Brian Morton (Mitherausgeber des Penguin Guide to Jazz on CD) hat über ihn gesagt: Taken together, the Hannay novels say much about Scotland and Scottishness, our place in it and beyond it, who we are, what we dream of, and what we ultimately aspire to.

Verschwörungen, flight and pursuit, ein Abenteuer nach dem anderen, es bleibt immer dieselbe Geschichte, the romance where the incidents defy the probabilities. Es kommt nur darauf an, wer sie erzählt und wie sie erzählt wird. Und das kann John Buchan wie kaum ein anderer. The Thirty-Nine Steps war in über hundert Jahren niemals out of print. Weil wir es immer wieder lesen wollen: And that helps to define a point for us about Buchan's own work: he was an admirable stylist. ... but it is obvious that to his gifts we must add—what again is something not very common—the sheer faculty of telling a story. John Buchan was a Tusitala in his own right. He loved the story for its own sake—an accent perhaps insufficiently regarded at the moment, which is yet a lasting thing and will see out the more temporary moods of literary fashion. He certainly understood suspense, the art of excitement, the thrilling quality of his master, Stevenson, in such stories as 'The Thirty-Nine Steps'.


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