Freitag, 23. März 2012

Henri Beyle


Volterranos 'Sybillen' haben mir vielleicht die heftigste Freude eingeflößt, die mir die Malerei je bereitet hat. Ich befand mich schon bei dem Gedanken, in Florenz zu sein, und durch die Nähe der großen Männer, deren Gräber ich gesehen hatte, in einer Art Ekstase. Ich war in die Betrachtung edelster Schönheit versunken, die ich ganz dicht vor mir sah und gleichsam berühren konnte. Meine Erregung war an dem Punkt angelangt, wo sich die himmlischen Gefühle, die uns die Kunst einflößt, mit den menschlichen Leidenschaften vereinen. Als ich Santa Croce verließ, hatte ich starkes Herzklopfen; in Berlin nennt man das einen Nervenanfall; ich war bis zum Äußersten erschöpft und fürchtete umzufallen. Der Schreiber dieser Zeilen, ein Franzose namens Marie-Henri Beyle, der sich als Autor Stendhal (manchmal de Stendhal) nennt, kann nicht wissen, dass dieser Text hier eines Tages in die Medizingeschichte wandert. Die Überwältigung durch den genius loci bis zum Schwinden der Sinne hat heute den schönen Namen Stendhal-Syndrom.

Der Anblick von Moskau, wohin er seinem Kaiser gefolgt war, hat bei ihm übrigens keine ähnlichen Empfindungen hervorgerufen. Da ist er, auf jeden Fall auf dem Papier, ganz kalt: Wir verließen die vom schönsten Feuer der Welt erleuchtete Stadt; das Feuer bildete eine ungeheure Pyramide, gleich den Gebeten der Gläubigen: die Grundfläche war auf der Erde und die Spitze im Himmel. Der Mond schien, glaube ich, über dem Feuer. Das war ein großartiges Schauspiel, aber man hätte allein sein müssen, um es anzusehen, oder umgeben von geistreichen Menschen. Das Traurige an dem Russlandfeldzug war, dass ich ihn mit Leuten machte, die das Kolosseum und das Meer von Neapel im Wert herabgesetzt hätten. Ja, diese coolness, diese desinvolture. 

Die Gebildeten unter den Feuilletonisten haben bei Stendhals Beschreibung vom brennenden Moskau gleich ein Zitat von Ernst Jünger zur Hand. Sie ahnen es schon, die Sache, wo er bei einem Fliegerangriff auf dem Dach des Hotel Raphael steht und dann in sein Tagebuch schreibt: Beim zweiten mal, bei Sonnenuntergang, hielt ich ein Glas Burgunder, in dem Erdbeeren schwammen, in der Hand. Die Stadt mit ihren roten Kuppeln und Türmen lag in gewaltiger Schönheit, gleich einem Kelche, der zur tödlichen Befruchtung überflogen wird. Alles war Schauspiel, war reine, vom Schmerz bejahte und überhöhte Macht. Das ist eigentlich schon a bit too much of a good thing.

Ein bisschen Schmierentheater, Pose, Kitsch. Ich habe ➱Jünger gelesen, als ich bei der Bundeswehr war, ich habe mich damals ein wenig an ihm stilisiert. Ich war nicht der einzige Leutnant im Bataillon, der das tat. Denn für uns war diese Attitüde der desinvolture ein Schutzmantel, niemand sieht gerne Menschen sterben. Ich habe genug Manöverunfälle gesehen, ich weiß, wie ➱Blut riecht. Manches verfolgt mich bis heute in meine Träume.

Stendhal ist heute vor 170 Jahren gestorben. Vor einem Jahr hatte ich an seinem Todestag ➱hier schon einmal einen Artikel über ihn stehen, falls Sie den noch nicht kennen sollten, lesen Sie ihn doch einfach. Ich habe den Schriftsteller mit dem Namen einer deutschen Kleinstadt ja schon mehrfach erwähnt, ich wusste nicht so recht, was ich heute noch über ihn sagen sollte. Sollte ich über eine seiner Geliebten schreiben, wie diese Dame? Oder über über das Verhältnis von Dichtung und Wahrheit in seinem Liebesleben?

Natürlich hätte ich auch über den Film De L'Amour von 1965 schreiben können, der schon auf dem Kinoplakat Stendhal zitierte. Ich habe den damals ja nur wegen der schnuckeligen Elsa Martinelli gesehen, heute kann ich das ja sagen. Damals hätte ich natürlich gesagt, dass ich wegen Stendhal in den Film gegangen wäre. Das Schöne am Alter ist, dass man ehrlicher mit sich selbst wird. Na ja, nicht jedermann. Stendhal sicherlich. Und so zitiere ich hier einmal einige Passagen aus seinen letzten Jahren.

Der letzte Satz in seinem Testament lautete Ich habe ein paar hundert Franken Schulden beim Schneider Michel. Sonst schulde ich niemandem etwas. Ja, die Schneider bezahlen die Gentlemen immer zuletzt. Bis auf die Begleichung der Schneiderrechnung hat er seinen Tod in den Jahren zuvor gut vorbereitet. So schreibt er im April 1837: Es regnet in Strömen. Mir fällt ein, daß Jules Janin zu mir gesagt hat: »Ach, welchen schönen Artikel würden wir über Sie schreiben, wenn Sie tot sind!« Um den Phrasenmachern zu entgehen, kommt es mir bei, diesen Artikel selbst zu schreiben. Er ist erst nach meinem Tode zu lesen. Und schon schreibt er mehrere Entwürfe für einen Nachruf.

Einer der in den Jahren 1837 bis 1842 entstandenen Texte heißt Lebensabend, 1838 in Montpellier geschrieben:

Einst, wenn ich allein war, träumte ich von Liebesabenteuern, die mehr zart und romantisch, als schmeichelhaft für die Eigenliebe waren. Seitdem bin ich minder töricht geworden. Nach und nach habe ich gelernt, daß man vor allem die Eigenliebe bestärken und besonders die Leidenschaft, die man etwa empfindet, wie das schlimmste aller Übel verbergen muß. Tiefe schöne Erkenntnis hat mich bei Gelegenheit vielleicht weniger linkisch gemacht, obwohl ich es noch immer sehr bin, aber sie hat mir meine reizenden Träumereien auf Reisen geraubt. Jetzt denke ich an die Kunst und an die Feldzüge Napoleons. Der letzte Gegenstand ist traurig für mich!
   Ich sehe mich in einem Übergangszeitalter, d.h. einem Zeitalter der Mittelmäßigkeit. Kaum wird es halb verflossen sein, so wird die Zeit, die für die Völker so langsam und für den einzelnen Menschen so schnell dahinfließt, mir zum Abtreten winken.
   Ich war weit törichter, aber weit glücklicher, als ich, schon ein großer Junge, der amtliche Schriftstücke unterschrieb, insgeheim stets an Leidenschaften dachte, die ich alsbald zu empfinden und vielleicht einzuflößen glaubte. Die Erinnerung an einen Händedruck des Nachts unter hohen Bäumen versenkte mich stundenlang in Träume. Jetzt habe ich auf eigne Kosten gelernt, daß man, statt Genuß daran zu haben, Vorteil daraus ziehen soll, will man nicht zwei Tage darauf Reue verspüren...
   Ach, fast möchte ich wieder ein Narr und ein Tor dem wirklichen Leben gegenüber sein und wieder in jene holden törichten Träumereien versinken, die gewiß keinem Menschen ein Haar krümmen können!
   Oft verschmähe ich es, eine Liebschaft anzufangen. Ein Nichts genügt, um mir Mißachtung einzuflößen. Ein Jahr darauf mache ich mir Vorwürfe darüber. Aber dies Gefühl ist im Augenblick stärker als ich, und zum Trost für meine unglückliche Neigung, so leicht etwas zu mißachten, was ich hätte lieben sollen, sagt mir die Vernunft (und das ist falsch und ungewiß): Du sollst nicht mehr lieben!
   Solange man imstande ist, ein Weib, das heißt ein durchaus dummes oder heimtückisch verstelltes Geschöpf wegen seines bezaubernden Geistes und seiner Harmlosigkeit zu lieben, solange man eine ganz und gar törichte Illusion hegen kann, so lange kann man lieben. Und das Glück liegt weit mehr im Lieben als im Geliebtwerden.

Wenn Sie die Illustration da oben irritiert, das ist eine von Stendhal angefertigte Liste der Frauen, die er geliebt hat. Erreicht nicht ganz das Format von Leporellos Liste (Ma in Ispagna son già mille e tre), ist aber irgendwie auch witzig.

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