Samstag, 3. März 2012

Léo Malet


Eigentlich ist der Zivilist Léo Malet durch Zufall nach Sandbostel geraten. Zuerst hatte ihn die französische Polizei wegen eines angeblich surrealistisch-leninistischen Komplotts festgenommen, aber nach kurzer Zeit aus dem Gefängnis entlassen. Beim Versuch, nach Paris zu kommen gerät er in eine deutsche Militärstreife. Ich trug einen hellen Einreiher, den ich mir von einem der besten Schneider in Paris hatte maßschneidern lassen. Er hatte nicht allzu arg unter seinem Aufenthalt im Gefängnis von Rennes gelitten. An den Füßen trug ich wunderschöne Wildlederschuhe in Herbstblattfarbe, eine unglaubliche Farbe, die ich später nie wieder fand. Jacques Prévert hatte sie mir geschenkt, als er eines Tages seine Garderobe sortierte. Herbstblattfarben! Jacques Prévert. Dieser Anzug und Préverts Schuhe landeten mit mir im Stalag. Dort nahm man sie mir ab... Das Ausrufezeichen hinter Herbstblattfarben! hat er wahrscheinlich deshalb gesetzt, weil ihn die Schuhe an Préverts berühmtestes Chanson Les feuilles mortes erinnerte.

Das da oben stand schon einmal ➱hier, als ich über das KZ Sandbostel bei Bremen schrieb, wohin die Deutschen den französischen Schriftsteller Léo Malet verschleppt hatten. Er hat es überlebt, ebenso wie Giovannino Guareschi, der später die Don Camillo-Romane geschrieben hat. Léo Malet, dem sein Freund Jacques Prévert (der auch sein Trauzeuge gewesen ist) den schönen Anzug geschenkt hat, ist in seinem Leben so alles gewesen, was man sein kann. Anarchist, Clochard, Künstler (diese Collage ist von ihm), Filmstatist, Kabarettist und Chansonier, Journalist und Schriftsteller. Er ist heute vor sechzehn Jahren gestorben, kurz vor seinem 87. Geburtstag.

Seine 1990 in Paris erschienene Autobiographie hat den Titel La Vache enragée, sie wurde noch im gleichen Jahr ins Deutsche übersetzt, hatte da den Titel Stoff für viele Leben. Und Stoff für viele Leben hat ihm sein Leben geboten, selbst der Zeit im Gefangenenlager Sandbostel weiß er komische Seiten abzugewinnen. Manchmal hat seine Autobiographie etwas von der Autobiographie von ➱Erwin Blumenfeld. Manchmal auch von Louis-Ferdinand Céline, obgleich der Surrealist und zeitweise Trotzkist Malet mit dem nichts gemein hat. Na ja, außer dem Illustrator. Denn Jacques Tardi hat sowohl Malet als auch Céline illustriert.

Den Originaltitel der Memoiren, La Vache enragée, hätte ein Übersetzer schlecht vermitteln können. Es ist der Name des Kabaretts, in dem der junge Léo Malet aufgetreten ist. Und es ist, wenn Sie mal eben diesen Wikipedia ➱Artikel lesen, ein Stück französischer Kultur. Es hat etwas mit dem Karneval der Boheme zu tun und nichts mit Rinderwahn. manger de la vache enragée heißt im Französischen so viel wie am Hungertuch nagen, Victor Hugo hat das Idiom in Les Misérables populär gemacht. Es gibt in Frankreich einen Karneval seit dem Mittelalter, der ➱Fête du Boeuf Gras heißt, dem setzt die alternative Szene von Montmartre zu Ende des 19. Jahrhunderts dieses Fest der vache enragée entgegen. Und Toulouse-Lautrec zeichnet das erste Plakat. Wenn man Léo Malet liest, erfährt man viel über Frankreich, über ein anderes Frankreich als in den Touristenführern.

Man erfährt auch viel über Paris, weil Malet 1943 beginnt, einen Zyklus von Kriminalromanen zu schreiben, der Les Nouveaux Mystères de Paris heißt. Was natürlich eine Anspielung auf Les Mystères de Paris von Eugène Sue ist. Der Held dieser Romane hat den Namen Nestor Burma. Er kommt wie Malet aus Montpellier, er ist ein Ex-Anarchist wie Malet. Er ist ein bisschen Léo Malet, ein bisschen Philip Marlowe. Ja, man muss es ganz klar sagen: Léo Malet ist Frankreichs Antwort auf ➱Raymond Chandler, und Léo Malet hat den französischen roman noir unbedingt bereichert. Das hier auf dem Photo ist Guy Marchand, der den Privatdetektiv Nestor Burma in einer Vielzahl von Filmen gespielt hat.

Er ist der perfekte Nestor Burma, was auch daran liegen mag, dass der wirkliche Guy Marchand eine ebenso vielfarbige Persönlichkeit ist wie Léo Malet. Nestor Burma begann sein literarisches Leben im Paris der Besatzungszeit, und das Paris der jeweiligen Zeit dringt immer in die Romane ein, von denen jeder einem anderen Stadtteil gewidmet ist. Ein Kritiker hat einmal gesagt, dass man um diese Romane verstehen zu können, in Paris gelebt haben muss. Er hätte auch sagen können, man muss im Paris der vierziger und fünfziger Jahre gelebt haben. Aber natürlich können wir Raymond Chandler lesen, ohne im Los Angeles der vierziger Jahre gelebt zu haben. Und natürlich können wir die Abenteuer von Nestor Burma lesen, ohne Pariser zu sein. Wenn wir sie alle gelesen haben, sind wir ein bisschen zu Parisern geworden.

Die ➱Nestor Burma Romane sind noch erhältlich, auch in englischer oder deutscher Übersetzung. DVDs von den Guy Marchand Filmen auch. Die Autobiographie Stoff für viele Leben ist schon etwas schwerer zu finden, es lohnt sich aber, sie zu finden und sie zu lesen. Man kann die Abenteuer von Nestor Burma und seiner hübschen Sekretärin Hélène natürlich auch als Comic Book von Jacques Tardi lesen, aber das ist nicht ganz dasselbe. Obgleich  Malet die zeichnerische Umsetzung von Tardi gelobt hat: Es ist eine neue Kunst, c`est tres honorable. Tardi ist ein großer décorateur. In seinen Zeichnungen gibt es Atmosphäre. Die geringste, unbedeutendste Landschaft erhält unter seinem Pinsel einen ganz speziellen Charakter, und ich kenne nur Tardi, der so was zu machen versteht. 

Ich bin zwar ein harter Hund, aber einer mit Stil, sagt Burma in einem Roman. Und den Stil hat er (Guy Marchand auch), er ist schon zu einer Kultfigur geworden, auf jeden Fall in Frankreich. In dem Roman Die lange Nacht von Saint von Saint Germain de Prés antwort Burma auf die Frage eines Schriftstellers, was ein Privatdetektiv eigentlich so mache: „Meistens Seitensprünge. Manchmal auch mehr. Am Beginn einer Handlung, weiß man nie, wo es endet.“ Ein bisschen wie die Schriftstellerei? „Nur, dass ein Autor einen sauberen Schluss konstruieren kann. Das Leben konstruiert nichts Sauberes.“ Ja, la vie est dégueulasse. Auf jeden Fall ist das ein Romantitel von Léo Malet.

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