Sonntag, 16. Februar 2020

St Pauli Noir


krimische, stand im Betreff der E-Mail, und dann im Text: simone buchholz kannsde lesen; spielen in HH & HB; saubere schreibe, saubere plots und dito personage. Er schreibt alles klein, habe ich auch mal gemacht, ist aber lange her. Wenn mein Hamburger Freund, der sonst nur hochgeistiges Zeug liest, mir schon einen Krimitip gibt, dann muss ich dem natürlich nachgehen. Ich hatte noch nie etwas von Simone Buchholz gehört, aber das sagt nichts. Als ich letztens im Radio hörte, dass Mary Higgins Clark gestorben war, wusste ich, dass ich zwar den Namen kannte, aber nie einen ihrer Romane gelesen hatte. Wenn Sie den Post Der Sessel vor dem Schrank gelesen haben, dann wissen Sie, weshalb Krimis nicht unbedingt ganz oben auf meiner Leseliste stehen.

Aber der Sache mit Simone Buchholz wollte ich nachgehen, ich kaufte mir bei ebay und Booklooker für relativ wenig Geld ein kleines Paket von ihren Hamburg Krimis zusammen und begann zu lesen. Um mich nach St Pauli entführen zu lassen. Das ist nicht mehr das St Pauli, wo ich in meinem ersten Semester an der Uni Hamburg diese hübsche kleine Nutte traf, wo Tim Mälzer bei Easy Rider Lederjacken verkaufte, nicht das St Pauli von Dieter Wedels Der König von St Pauli. Hier singt Lale Andersen nicht mehr von der roten Laterne von St Pauli und auch Hans Albers' Das Herz von Pauli erklingt hier nicht mehr.

In der Kneipe liegen ein paar letzte Sonnenstrahlen herum. Auf der abgewetzten Holztheke stehen die Gläser von letzter Nacht, in manchen schimmern noch Zitronenschalen, in manchen stehen nur die Pfützen von was auch immer, Hauptsache, der Verstand ist dabei draufgegangen, zumindest für ein paar Stunden. Ich habe Kneiperauch im Auge, oder was für Rauch auch immer. Vielleicht kommt er gar nicht aus der Kneipe, vielleicht kommt er aus meinem Kopf, vielleicht kommt er aus meinem Herzen. Hier redet die Romanfigur einer Frau, die St Pauli Krimis schreibt und die im Augenblick der ganz große Hit ist.

Der Himmel hängt tief, er sieht aus, als müsse er sich sofort hinlegen. Von der Elbe steigt Nebel auf, zäh und gemein wie eine alte Krähe. Ich schlage meinen Mantelkragen hoch, aber es hilft nichts: Die Feuchtigkeit kriecht mir in die Knochen. Mein Kopf tut weh, ich habe zu wenig geschlafen. Es ist Anfang März, es ist erst halb acht, und zu meinen Füßen liegt ein totes Mädchen. Zwei philippinische  Matrosen auf Landgang haben sie gefunden, so fängt der Krimi Revolverherz von Simone Buchholz an. Man kann anders anfangen, also zum Beispiel so:

It was about eleven o’clock in the morning, mid October, with the sun not shining and a look of hard wet rain in the clearness of the foothills. I was wearing my powder-blue suit, with dark blue shirt, tie and display handkerchief, black brogues, black wool socks with dark blue clocks on them. I was neat, clean, shaved and sober, and I didn’t care who knew it. I was everything the well-dressed private detective ought to be. I was calling on four million dollars. Keine Leiche, die zu Füßen des Ich-Erzählers liegt, aber auch ein wenig Wetter. Raymond Chandler geht in The Big Sleep sparsamer damit um, a look of hard wet rain in the clearness of the foothills genügt ihm für den Anfang.

Wetter ist wichtig, in Hamburg oder Los Angeles. Im Krimi wie in jenen Romanen, die zur richtigen Literatur gehören. Das wissen wir nicht erst, seit F.C. Delius seine Dissertation Der Held und sein Wetter geschrieben hat. Simone Buchholz, die seit 2009 Krimis schreibt, räumt dem Hamburger Wetter in ihren Romanen viel Raum ein. Wegen dieses Wetters ist sie auch nach Hamburg gezogen, hat sie gesagt. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich wohl eher nach Los Angeles ziehen, das Schietwedder hier oben kenne ich.

Der Himmel hat dieses spezielle, etwas dunkle Herbstblau, das den Winter ankündigt. Das kommt von den Wolken. Die sind schwerer als im Frühling und im Sommer, die haben eine andere Qualität. Mehr Gewicht, mehr Bumms in den Backen. Sie sind eher beige als weiß, und das wirkt sich natürlich auf den Himmel aus. Und auch, wenn die Sonne da ist, hat sie die Dunkelheit immer schon im Gepäck. Der Hamburger Novemberhimmel ist ein aufdringliches Ding in Moll, ein sentimentales, dramatisches Gebilde, aber das darf man nicht so ernst nehmen. Tut der Himmel ja selber nicht. Das ist der Himmel in dem Roman Schwedenbitter, ähnliche Beschreibungen finden wir in beinahe allen neun Romanen, von Revolverherz bis Hotel Cartagena.

Revolverherz ist bei Droemer Knaur erschienen, Hotel Cartagena bei Suhrkamp, seit 2009 haben die eine eigene Krimireihe. Von Droemer Knaur zu Suhrkamp ist sicherlich ein literarischer Aufstieg. Und Suhrkamp ist stolz auf seine Erfolgsautorin, die in Deutschland sicherlich zu Recht alle Krimipreise abgeräumt hat und gerade für den Friedrich Glauser Preis nominiert wurde. Das Internet ist voll mit lobenden Rezensionen. Suhrkamp verkauft die Rechte für Übersetzungen auch gerne an ausländische Verlage. Jeff Noon schrieb im Spectator: Blue Night has a unique style: fragmented, flitting from subject to subject. It flirts with the avant-garde. […] This is a punk rock album translated into a hard-bitten tale of low life scum and a lone officer. Fierce enough to stab the heart.

Die Ich-Erzählerin von Revolverherz ist die Hamburger Staatsanwältin Chastity Riley, ihr Vater war ein amerikanischer Offizier, ihre Mutter eine Deutsche. Ihr Vater ist tot, die Mutter ist schon lange abgehauen. Chastity Riley ist irgendwas Mitte vierzig, und das bleibt sie in den Romanen. Und was sehen Sie, wenn Sie mich anschauen, zum Beispiel? Ich weiß ja nicht, wie lange Sie mir schon zusehen. Vielleicht seit ein paar Jahren. Vielleicht seit ein paar Stunden. Würde mich wirklich interessieren, was Sie sehen, was da für Sie noch zu sehen ist, außer dem etwas comicmäßig geschnittenen Gesicht, den zu großen Lippen, der leicht schiefen Nase und den müden Augen, die immer daherkommen, als wären sie zu stark geschminkt, aber das sind nur die dunklen Ringe, denn ich benutze gar keine Schminke. Was sehen Sie, außer dem großen, ein bisschen knochigen Körper und den langen, rot-braunen Haaren, die fast immer ausehen wie direkt aus der Shampoowerbung?Das ist mir manchmal richtig peinlich, wenn die Leute da verstohlen draufglotzen. Ich kann nichts dafür, dass die Haare sind, wie sie sind. Wenigstens werden sie langsam grau.

Wirklich erwachsen ist sie nicht und wird das wohl nie. Chas Riley hat keine Familie mehr, ihre Familie sind die Kriminalkommissare, mit denen sie zusammenarbeitet. Der Kommissar Faller, den wir uns ungefähr vorstellen können wie Armin Rohde in Nachtschicht, ist für sie ein Vaterersatz. Sie hat einen Lover, der Klatsche heißt und ein Kleinkrimineller ist. Der hat irgendwann eine Kneipe, die Blaue Nacht heißt: Ich glaube, dass Klatsche auch deshalb seine Karriere als Einbrecherkönig an den Nagel gehängt hat, weil ihm spätestens im Knast klar wurde, dass er als Krimineller zwar Tresore knacken darf, aber keine Herzen. Und das macht er doch so gern. Bei mir versucht er's immer noch täglich. Gern würde ich sagen, dass er da auf Granit beißt, das stimmt aber so nicht ganz. Ich bin eher Toastbrot in seinen Händen: etwas zäh, im Ganzen jedoch ziemlich bröckelig. Bevor die Autorin Krimis schrieb, hat sie über Erste Liebe, erster Sex und Orgasmen geschrieben, sie kennt sich da also aus.

Neben der bröckeligen Toastbrotbeziehung, die für einige Romane dauert, wird Chas Riley auch noch etwas mit dem Kommissar Bülent Inceman anfangen. Auch der Hauptkommissar Ivo Stepanovic ist hinter ihr her. Und sie hat auch nichts gegen eine Zufallsbekanntschaft aus einer Bar: Am Himmel steht der Mond, von dem sie heute Morgen im Radio erzählt haben. Er ist riesig, und er ist rot, er spricht von Nähe und Entfernung zugleich, und er scheint mit aller Kraft auf diesen Fußboden, auf dem ich noch nie lag und vermutlich auch nicht nochmal liegen werde. Der Mond zieht mich zu sich hoch, ich ziehe den Mann zu mir runter. Seine Hand unter meinem Rücken und meine Hand in seinem Nacken reichen uns als Startsignal, Flug zum Mond und zurück. Achtung, wir fliegen und sind da, es geht fast so schnell, wie wir getrunken haben. Klamotten aus wäre wirklich ein übertriebener Aufwand gewesen. Später liegen wir halb nebeneinander, halb aufeinander  und rauchen Zigaretten. Vielleicht hätte ich ihn doch fragen sollen, wie er heißt.

Während es für Chandlers Philip Marlowe keine Frauen gibt, hat diese weibliche Version eines tough guy hero also durchaus Sex. In jedem Roman. Sie bekommt daneben von der Autorin all die Attribute zugeschrieben, die die Helden der hard-boiled novel der dreißiger Jahre auszeichneten, die schnoddrige lakonische Redeweise, den Alkohol, die Zigaretten. Und deshalb hat Suhrkamp den Satz von William Ryan If Philip Marlowe and Bernie Gunther got together in a Hamburg speakeasy and had a literary love child, then that might just explain Chastity Riley – Simone Buchholz's tough, acerbic and utterly engaging central character auf den Buchdeckel gedruckt.

Es sagt sich ja viel und schnell in der Welt der Werbung. Wir sollten etwas vorsichtig sein, wenn wir solche Verwandtschaften konstruieren. Chandler und Hammett waren beide Soldaten im Ersten Weltkrieg gewesen, hatten einen Beruf gehabt und etwas vom Leben in der Weltwirtschaftskrise und der Great Depression mitbekommen, bevor sie zu schreiben begannen. Simone Buchholz hatte ein abgebrochenes Studium der Literatur und Philosophie hinter sich, hat zehn Jahre gekellnert und war fünfzehn Jahre als Journalistin gearbeitet, das ist etwas anderes. Ich will nicht auf die Lebenserfahrung hinaus, sondern auf die Zeit. Chandler und Hammett schreiben in einer Zeit, als eine neue Form des American English praktisch auf der Straße liegt.

Wenn man sich die englische Übersetzung Blue Night anschaut, merkt man schnell, dass der Roman alles von seiner Originalität verliert. Klingt nur noch wie schlechter Chandler: The engine coughs one last time, harrumphs like an old man under a dark sky, and floods. I get out of the car, sit down on the rust-gilded bonnet and feel the thick, cold air on my face. Cigarette. But first smoke the fog dry. Raymond Chandler hat in seinem Essay The Simple Art of Murder gesagt, dass die Sprache der hard-boiled novel eigentlich gar nicht die Erfindung von Dashiell Hammett ist: I believe this style, which does not belong to Hammett or to anybody, but is the American language (and not even exclusively that any more), can say things he did not know how to say, or feel the need of saying. In his hands it had no overtones, left no echo, evoked no image beyond a distant hill. Es schreiben ja damals viele so, nicht nur Hammett, Chandler und Hemingway. Das sind auch noch John O'Hara, James Mallahan Cain, Horace McCoy und der Mann, der das Drehbuch zu Out of the Past geschrieben hat.

Unsere taffe Chas Riley ist immer am Rauchen. Und Husten: Das ist kein Anfängerhusten. Alle paar Minuten kommt ein hässlicher alter Hofhund aus meinen Lungen gekrochen, und der rasselt beim Bellen ziemlich übel mit der Kette. Ich sollte im Bett liegen und eine Tasse Tee trinken, statt hier in HSV-Land rumzustehen und zwei alten Rednecks auf ihre zerschmetterten Köpfe zu kucken. Ich halte mir den Unterarm vor den Mund. Da ist er wieder. Der Hustenhund. 'Sie sind krank', sagt der Calabretta und nimmt mir die Zigarette weg. 'Sie sollten endlich zum Arzt gehen', sagt der Brückner. Er versucht, sehr streng zu kucken, als er das sagt. Geradezu gescheitelt. Huh, gleich hab ich Angst. 'Sie will das nicht hören', sagt der Schulle, 'und das ist eine Frechheit. Ich hab auch schon die Pest am Hals.' Er fasst sich an den Kehlkopf und macht Altmännergeräusche. Jaja, denke ich und huste zu Ende. Es schmeckt ein bisschen nach Blut. Als der harte Hund meine Stimme wieder freigibt, sage ich: Ihr könnt euch ja über mich beschweren. Kann ich meine Zigarette wiederhaben?' 'Nein', faucht der Calabretta.

Was diese Frau in einem Roman an Ziggis und an Alkohol vernichtet, würde einen normalen Menschen umbringen, es ist vielleicht etwas zu viel des Guten, was die Autorin ihrer Heldin von Roman zu Roman zumutet. Würde Violetta Valéry so viel rauchen, sie würde den ersten Akt von La Traviata nicht überleben. In Chandlers Roman The Big Sleep wird das Wort Zigarette achtundsechzig Mal erwähnt, lange Passagen mit dem Hustenhund hat er nicht nötig. Bei ihm stehen Sätze wie: I sat there and poisoned myself with cigarette smoke and listened to the rain and thought about it. Das sind Sätze, die im Gedächtnis bleiben.

Ich habe das Gefühl, dass in dem ganzen Gelaber um uns herum sehr viel ersäuft. Wenn man will, dass die Leute einem zuhören, muss man so schreiben, dass sie beim Lesen stolpern, hat Simone Buchholz gesagt. Und das tut sie, wir stolpern immer wieder über ungewöhnliche Formulierungen. Sätze, die manchmal nur Sinn machen, wenn man einen anderen Roman der Autorin kennt. Ein Satz wie die Nachbarwohnung zerkratzt mir das Gesicht, als ich an ihr vorbeigehe, macht nur Sinn, wenn man weiß, dass in dieser Nachbarwohnung einst ihr Lover Klatsche wohnte. Und ein Kapiteltitel wie Geblitzdingst verlangt vom Leser, dass er den Film Men in Black gesehen hat.

Neun Romane in elf Jahren, Sjöwall Wahlöö (bei denen sich Buchholz dieses Element der Polizeitruppe borgt) hatten da schon zehn Romane fertig, aber die schrieben zu zweit. Neun Romane, von Revolverherz bis Hotel Cartagena, die man durchaus alle lesen kann, sind eine schöne Leistung. Ich wünschte mir, es wären ein paar weniger Romane gewesen und dass ihr ein strenger, nörgeliger Verlagslektor von Zeit zu Zeit auf die Finger klopfen würde bei diesem Zuviel an stilitischen Einfällen. So wie Maxwell Perkins Ernest Hemingway, F. Scott Fitzgerald und Thomas Wolfe auf die Finger geklopft hatte oder wie Albert Erskine, der William Faulkner betreute. Doch welcher Verlag hat heute noch einen Lektor? Es ist mein eigenes Problem, dass ich Romane immer so lese, als wäre ich der Verlagslektor und hätte meinen Rotstift dabei.

Aber ich will die Romane von Simone Buchholz nicht schlechtmachen, vielleicht ist sie wirklich das Beste, was die deutsche Krimiszene zur Zeit hat. Es war entspannend, während ich die Günderrode, Ossian, Hölderlin und Heidegger las, mal so etwas zu lesen. To accept a mediocre form and make something like literature out of it is in itself rather an accomplishment, hat Raymond Chandler einmal gesagt, Simone Buchholz ist auf dem besten Weg to make something like literature out of it.

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