Freitag, 28. Februar 2020

Dümmer=Sex


Aber vom gelbgrünen Deich der erste Anblick des Sees: hellblau und zitternd vor Frische; im Südwesten sah man kein Ufer, Dallada, dallada. 1953 hätte ich Arno Schmidt am Dümmer See sehen können, aber ich wusste damals weder, wer Arno Schmidt war, noch wie er aussah. Ich fand den Dümmer See toll, weil er so flach war, ich konnte da an keiner Stelle ertrinken. Mein kleiner Bruder schon, aber auf den passten meine Eltern auf. Einmal haben wir sogar ein Paddelboot geliehen, da bin ich mit meinem Vater gepaddelt. Arno Schmidt hat sich auch ein Paddelboot geliehen, das können wir auf diesem Photo sehen. Er hat das Paddelboot auch in seinen Roman Seelandschaft mit Pocahontas geschrieben.

Auf dieser Zeichnung ist in der Mitte des Sees auch ein kleines Paddelboot zu sehen. Über ihm steht riesengroß eine nackte schmalbrüstige Frau, die mit der Sonne Yo-Yo spielt. Arno Schmidt hat diese Zeichnung selbst gemacht, vielleicht ist das Ganze ein bisschen pornographisch, das weiß man bei Arno nie so genau. In Schmidts Trommler beim Zaren findet sich auf Seite 360 eine kurze Bemerkung von einem D. Martin Ochs zur Seeelandschaft: Venus in eigener Person hat mehrfach Modell dir gesessen –: / sahst du denn prinzipiell nur die Pudenda von ihr? Es fällt nicht besonders schwer, das Anagramm D. Martin Ochs aufzulösen. Obgleich diese Zeichnung bei der ersten Publikation 1955 im Band 1 der von Alfred Andersch herausgegebenen Zeitschrift Texte und Zeichen des Luchterhand Verlages nicht enthalten war, sahen Staatsanwaltschaft und Kritiker in dem Kurzroman, den Walter Kempowski als Schmidts wohl schönste Liebesgeschichte bezeichnete, nur Schweinkram. Die Staatsanwaltschaft ermittelte jahrelang gegen Schmidt und Andersch wegen Pornographie (und Gotteslästerung), man kann das alles auf hundert Seiten in dem Band In Sachen Arno Schmidt nachlesen.

Karl Korn, Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen schrieb: Aber das Pathos ist weg und geblieben ist nur der Unflat  (Pocahontas = weniger Scham?). Hier wird stilistische Subtilität und Gescheitheit an eine dumme, geile und also provinzielle Affaire verwandt - und drum scheint mir Arno Schmidt gar nicht so himmelweit fern und überlegen dem, was er so ungemein zu verachten vorgibt, nämlich einer recht billigen Existenz, in der es unter fadenscheinigen Vorwänden auf nichts weiter als aufs Rammeln ankommt. Irgendwie drängt sich hier als Kalauer der Name des Dümmer Sees als Adjektiv auf, dümmer geht es nicht mehr.

Wir sind im Deutschland von Konrad Adenauer, einem Land das 1952 schon moralisch erschüttert war, als Ulla Jacobsson in dem Film Sie tanzte nur einen Sommer für sechs (Arno Schmidt hätte wahrscheinlich geschrieben: sex) Sekunden nackt war. Und auch zehn Jahre Jahre nach dem Dümmer Urlaub der Schmidts, hatten sich die Moralapostel in Deutschland immer noch nicht beruhigt, da kam nämlich Ingmar Bergmans Film Das Schweigen in die Kinos. Es wäre jetzt schön, wenn Sie mal eben die Posts Schwedinnen  und Schweigen lesen würden. Arno Schmidt reagierte in Goethe und Einer seiner Bewunderer 1957 auf die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft und läßt seinen Erzähler im Gespräch mit Goethe sagen: Wenn Sie heute schrieben: hier an dieser Stelle: den ,Werther‘; die Epigramme und Elegien; Prometheus auf Italienischer Reise: Sie stünden längst vor Gericht! Als Defaitist; als Erotiker; wegen Gotteslästerung; Beleidigung politischer Persönlichkeiten!

Dass es sich bei dem Roman um ein sprachliches Kunstwerk handelt, interessiert Juristen damals kaum, für sie ist es ein Text, der das Scham- und Sittlichkeitsgefühl gesund empfindender Menschen in geschlechtlicher Hinsicht verletzt. 1999 erschien Klaus Theweleits 'You give me fever': Arno Schmidt "Seelandschaft mit Pocahontas": die Sexualität schreiben nach WW II, es war der vierte Band in Theweleits überwucherndem Pocahontas Projekt. Theweleit sieht in dem Roman den Versuch einer Umwandlung von (Nazi) Gewalt in eine Politik der Körperberührung, die die Körper erhält und verlebendigt, […] statt sich (unaufhörlich) zu töten und abzutöten. Der Matthes & Seitz Verlag greift bei der Beschreibung des Buches, das er im April diesen Jahres neu herausbringt, nicht ganz so hoch: Arno Schmidt. Seelandschaft mit Pocahontas, erwies sich als Text, an dem sich der deutsche Nachkrieg, sein Verhältnis zu »Amerika«, zur Sexualität und zum Umgang mit der sog. Vergangenheit vorzüglich darstellen ließ. Für uns zusätzlich das Vergnügen einer ausgedehnten Kanufahrt - Tour de Dümmer - durch Arno Schmidts literarische Geographien.

Zweimal in ihrem Leben hatten Alice und Arno Schmidt Urlaub gemacht, einmal 1938 eine Woche in England, jetzt fünf Tage am Dümmer. Eigentlich hatte der Arno ihr zum Geburtstag eine Venedigreise schenken wollen, jetzt sind sie am Dümmer. Ist auch Wasser. Pure Zeit- und Geldverschwendung, fand Arno, aber Alices Argument, dass es noch bis zum 30. Juni Rabatte für Flüchtlinge gäbe, gab den Ausschlag. Alice berichtet in ihrem Tagebuch, wie mürrisch und übelgelaunt Arno sich während des gesamten Aufenthalts in Schomakers Pension in Dümmerlohausen aufgeführt habe. Als Basis für den kommenden Roman diente ihm ein Reisetagebuch, das er in den fünf Tagen geführt hatte.

Genauer gesagt war es eine Zettelsammlung, die er später Ernst Krawehl, seinem Lektor beim Stahlberg Verlag schenkte. Von dem ist der Zettelkasten zum Deutschen Literaturarchiv in Marbach gekommen. Im Jahre 2000 wurde das ganze unter dem Titel Arno Schmidts: Seelandschaft mit Pocahontas. Zettel und andere Materialien veröffentlicht. Man wagt nicht, sich vorzustellen, was aus Arno Schmidt geworden wäre, wenn er einen Computer gehabt hätte. Am 23. Juli 1953 beginnt er seinen kleinen Roman zu schreiben, am 13. August ist er fertig, am 24. notiert Alice auf dem Manuskript: 'Poca fertig Reinschrift' Ich les' gleich auf Fehler hin z.3.x durch. Phantastisch! Arno hat noch eine göttliche Stelle mehr hineingebracht. Komm aber nur bis S. 59 (80 hats, würde also Büchelchen für sich!) A. hebt diesmal das ganze Zettelchenmaterial in winzigem Päckel als Ur=MS auf. Good! Als sie mit dem Korrekturlesen fertig war, schrieb sie: Es ist prachtvoll! Ganz wunderbar! Was ein großer Dichter ist doch Arno!

Der Roman hat einen unnachahmlichen Anfang: Rattatá Rattatá Rattatá. / Eine Zeit lang hatten alle Mädchen schwarze Kreise statt der Augen gehabt, mondäne Eulengesichter mit feuerrotem Querschlitz darin : Rattatá. / Weiden im Kylltal. Ein schwarzer Hund schwang drüben die wollenen Arme und drohte unermüdlich einem Rind. Gedanken von allen Seiten : mit Flammen als Gesichtern; in schwarzen Mänteln, unter denen lange weiße Beine gehen; Gedanken wie leere sonnige Liegestühle : rattatá. Ich habe vor Jahren in einem Seminar über Romantheorie meine Studenten mit einem Dutzend Romananfängen traktiert, hiermit konnten sie genau so wenig anfangen wie mit riverrun, past Eve and Adam's, from swerve of shore to bend of bay, brings us by a commodius vicus of recirculation back to Howth Castle and Environs. (das ist der Anfang von James Joyces Finnegan's Wake).

Wenn man weiß, dass der Ich Erzähler des Romans, ein mittelloser Schriftsteller (wie der Autor), gerade in der Bahn sitzt (seinen Flüchtlingsausweis für den Sonderrabbat hat er auch dabei), dann macht das Rattatá Rattatá Rattatá schnell einen Sinn. Der Schriftsteller trifft seinen Freund, einen gut verdienenden Malermeister, am Dümmer. Sie waren beide im Krieg zusammen, der Schrifsteller war Unteroffizier (wie sein alter ego Arno Schmidt). Sie wollen jetzt einige schöne Tage haben, Vernügen mit Frauen haben. Die kommen in Gestalt von zwei Sekretärinnen, Mitte zwanzig. Im Laufe des Romans werden sie die literarischen Namen Pocahontas und Undine bekommen. Eine Sommergeschichte, eine Sommerliebelei, eine kleine Flucht auf Zeit aus der Welt, es gibt kein Happy End. Für die literarischen Vorbilder Pocahontas und Undine auch nicht.

Wenn der Erzähler gleich am Anfang sagt: Die Bibel: iss für mich n unordentliches Buch mit 50.000 Textvarianten. Alt und buntscheckig genug, Liebeslyrik, Anekdoten, das ist der Ana der in der Wüste die warmen Quallen fand, politische Rezeptur, dann war das etwas, was den Staatsanwalt und andere Sittenwächter beschäftigte: Der Schriftsteller Arno Schmidt und der Redakteur und Schriftsteller Alfred Andersch werden angeklagt, zu Saarburg und an anderen Orten, im Jahre 1955, gemeinschaftlich handelnd, in Tateinheit, […] eine unzüchtige Schrift verbreitet zu haben, indem sie in der Zeitschrift 'Texte und Zeichen' einen von dem Angeschuldigten Schmidt geschriebenen Kurzroman 'Seelandschaft mit Pocahontas' veröffentlichten, der Religionsbeschimpfungen und Gotteslästerungen enthält und weiterhin Schilderungen sexuellen Charakters bringt, die geeignet sind, das Scham- und Sittlichkeitsgefühl gesund empfindender Menschen in geschlechtlicher Hinsicht zu verletzen. Dieser ganze, sehr deutsche, Unsinn wird erst ein Ende haben, wenn Hermann Kasack, der Präsident der Deutschen Akademie für Dichtung, sein Gutachten über Schmidts Prosa abgibt.

Sie wollen jetzt sicher wissen, wie es mit den Schilderungen sexuellen Charakters, die geeignet sind, das Scham- und Sittlichkeitsgefühl gesund empfindender Menschen in geschlechtlicher Hinsicht zu verletzen aussieht. Ungefähr so unzüchtig wie diese Nudistin aus den fünfziger Jahren: wir erknöpften uns nochleidlichstraffe Seligkeiten, und unsere Körper schmatzten eine gute Weile miteinander. In dieser sahnigen Nachttorte. Auch ihr Mund schmeckte wieder groß und saftig: wo ihr Haar aufhörte fing Strandhafer an: aber wo war das? Wo ihre Finger endeten begannen Halme: ohne Übergang. Die Stammstücke ihrer Beine; 3 moosige Winken. In unserem Gesichterbündel drehten sich langsam Augen und Flüster. Und dann haben wir mit Kapitel X noch ein ganzes Kapitel Sex zwischen Pocahontas und dem Ich-Erzähler. Das Kapitel ist eine Seite lang. Das ist ungefähr so viel wie die sechs Sekunden Busen von Ulla Jacobsson.

Günter Grass hat Arno Schmidts Seelandschaft mit Pocahontas als seine Lieblingserzählung bezeichnet. Wenn man Arno Schmidt lesen will, dann sollte man mit diesem kurzen Roman anfangen. Man braucht die 328 Seiten Theweleit nicht, um ihn zu verstehen. Wenn Sie ein bisschen Hilfe beim Lesen brauchen sollten, hätte ich hier einen Kommentar zu dem Text. Wenn sie die Seelandschaft nicht lesen wollen, aber auf der nächsten Party fachmännisch darüber parlieren wollen, dann lesen Sie diese Seite. Aber es wäre mir schon lieber, wenn Sie den Text lesen würden.

Und noch mehr AS in den Posts: Arno (Otto) SchmidtArno Schmidt, Arno Schmidts Wohnwagen

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen