Montag, 23. Januar 2023

Die Kartause von Parma


Heute vor zweihundertvierzig Jahren wurde Marie-Henri Beyle geboren, der sich als Schriftsteller Stendhal nannte. Der große Egoist, dem wir Sätze wie chacun pour soi dans ce désert d'égoïsme qu'on appelle la vie verdanken, war schon häufig in diesem Blog. Vor zwölf Jahren habe ich in dem Post Stendhal über den Roman Die Kartause von Parma geschrieben: Die Waterloo Szene des Romans (hier eine Leseprobe der neuesten Übersetzung) ist am 17. Mai 1839 im Constitutionnel sozusagen als Kostprobe des Romans veröffentlicht worden, am gleichen Tag erschien der Roman. Stendhal hat die Kartause von Parma in knapp zwei Monaten geschrieben, wie in einem Rausch, fünfzehn Stunden am Tag. Und dazu sagt er noch: Während ich die 'Kartause' schrieb, habe ich jeden Morgen, um den Ton zu stimmen, zwei, drei Seiten im Bürgerlichen Gesetzbuch gelesen. Ich wollte immer natürlich sein. Hatte je zuvor ein französischer Schriftsteller gesagt, dass das Stilideal des Französischen der Code Civil ist? 

Stendhal schickte eins der ersten Exemplare an Balzac, den König der Romandichter unseres Jahrhunderts. Balzac hat im September 1840 in seiner Revue Parisienne einen langen Essay über die Kartause von Parma geschrieben, der einem beinahe die Lektüre des Romans erspart. Wann erzählt schon einmal ein Schriftsteller den Roman eines Kollegen mit seinen Worten nach? Stendhal hat sich herzlich für diese Reklame bedankt. Der Balzac Essay ist der neuesten deutschen Übersetzung der Kartause von Elisabeth Edl (Hanser Verlag 2007, dtv 2009) beigegeben, womit das Buch auf die stattliche Länge von 998 Seiten kommt. Meine schöne alte Propyläen Ausgabe von 1921 mit dem roten Lederrücken, die mir Harald Eschenburg (senior) einst verkaufte, bringt es nur auf 570 Seiten. Der Roman ist auch in der Hanser Ausgabe nicht länger, aber es gibt einen 340-seitigen Anhang über den sich jeder Philologe freut. Vielleicht auch mancher Leser, der zu den happy few gehört, denen Stendhal den Roman widmete. 

Das kann ich alles so stehen lassen, aber ich möchte doch etwas hinzufügen, über die Nachworte der Stendhal Übersetzungen des Hanser Verlags, über den Hanser Verlag und seine Übersetzer. Der Münchener Verlag ist in diesem Jahrhundert durch eine Vielzahl von Neuübersetzungen hervorgetreten, die die Kritiker begeistert haben. Barbara Conrads Übersetzung von Krieg und Frieden und Rosemarie Tietzes Übersetzung von Anna Karenina sind von der Kritik ausführlich gewürdigt worden. Und auch in diesem Blog tauchen diese Übersetzungen auf. Aber bei Hanser gibt es noch viel mehr an neuübersetzter Weltliteratur. Die Moby-Dick Übersetzung von Matthias Jendis, die Daniel Göske herausgegeben hat, muss auch genannt werden. Daniel Göske hat für Hanser Joseph Conrads Shadow Line übersetzt. Und er hat gerade zusammen mit Maren Ermisch Fontanes Ein Sommer in London für den Aufbau Verlag fertiggestellt. Der Band der Großen Brandenburger Ausgabe erschien im Dezember. Hat jetzt nichts mit dem Hanser Verlag zu tun, aber ich musste das mal eben erwähnen, da ich Daniel Göske kenne, und Maren Ermisch mal meine Studentin war. Ich habe aus Elisabeth Edls Übersetzung der Kartause einiges in dem Post Kanonengedröhn zitiert. Ich glaube, dass die Leistungen der beiden Tolstoi Übersetzerinnen größer waren als die Stendhal Übersetzungen von Edl, die werbemäßig davon profitierte, dass ihr Ehemann Verlagslektor bei Hanser war.
 
Mein erstes Buch von Stendhal war 1962 Lucien Leuwen, übersetzt von Walter Widmer. Kostete in der Reihe Exempla Classica des Fischer Verlags damals 4,80 DM. Ich hatte den Plan, alle hundert Bände der Reihe Exempla Classica zu lesen, weil ich mit einundzwanzig die Weltliteratur gelesen haben wollte. Das ist mir nicht ganz gelungen, aber ich war nah dran. Fischer hatte für jeden Band der Reihe einen renommierten Fachwissenschaftler gewonnen, der ein Nachwort zu dem Roman schrieb. Für diesen Band hat das Fritz Schalk getan. Der Einzelband von Fischers Exempla Classica kostete damals 2,40 DM, ein Großband 3,60 und ein Doppelband 4,80. Fünfundzwanzig Bände erschienen pro Jahr, in vier Jahren hatte man die Meisterwerke der abendländischen Literatur komplett. Die Bände enthielten ein Nachwort, Anmerkungen und eine kleine Bibliographie, dafür hatte der Gesamtherausgeber Walter Killy gesorgt. Was im Rückblick zu kleinen Kuriositäten führte: Cervantes' Exemplarische Novellen wurden von dem Widerstandskämpfer Werner Krauss herausgegeben, Schillers Gedichte (Band 89) von dem Nazi Benno von Wiese

Was mich besonders interessierte, war natürlich die englische Literatur; und so lernte ich durch die Nachworte den Anglistikprofessor Rudolf Sühnel kennen, obwohl die Universität noch in weiter Ferne lag. Weil ich sein Nachwort zu Jane Austens Emma gelesen hatte. Und natürlich das zu Joseph Conrads Die Schattenlinie. Und zu Thackerays Die Geschichte des Henry Esmond

In der Reihe Rowohlts Klassiker der Literatur und der Wissenschaft versuchte man, mit diesem wissenschaftlichen Anspruch mitzuhalten. Thackerays Vanity Fair wurde dort von Mira Koffka übersetzt, das Nachwort schrieb Fritz Wölcken, der durch sein Buch über den Krimi berühmt geworden war. Und der Band von Coopers Die Ansiedler an den Quellen des Susquehanna hatte ein Nachwort von dem berühmten Amerikanisten Hans-Joachim Lang, der nach vielen Jahren endlich einen Wikipedia Eintrag hat. Rowohlt hatte auch einen Roman von Stendhal im Programm. Das war Die Kartause von Parma in der Übersetzung von Walter Widmer, mit einem Essay Zum Verständnis des Werkes und einer Bibliographie von Rudolf Baehr. Walter Widmers Sohn, der Schriftsteller Urs Widmer, hat in einer Rezension gesagt, dass Elisabeth Edl die bisherige Referenz-Übersetzung seines Vaters übertroffen habe:  Es ist in der Tat faszinierend und lehrreich zu sehen, wie eine Übersetzung, die einmal die Leser und Leserinnen durchaus entzückt hat, alt werden kann. Denn Elisabeth Edl tut eigentlich nichts anderes, als Stendhal unvoreingenommen und genau zu lesen. Sie hat ein wunderbar sicheres Gespür für seine Lakonie und gerät nie in Versuchung - wie dies meinem Vater immer wieder geschah -, Stendhal sozusagen nach oben zu schreiben. Ihn 'besser' zu machen, 'schöner', oder scheinbar unvollständige Satztrümmer stillschweigend zu ergänzen.

In gewisser Weise setzt der Hanser Verlag mit seinen Nachworten zu Die Kartause von Parma und Rot und Schwarz das fort, was Fischer und Rowohlt in den sechziger Jahren begonnen hatten. Romane mit einem Nachwort sind eine schöne Sache, auch wenn es nicht unbedingt 340 Seiten lang sein muss, wie das Nachwort der Hanser Ausgabe der Kartause. Das in manchen Teilen im übrigen wortgleich ist mit Edls Nachwort zu Stendhals Rot und Schwarz. Es ist immer gut, wenn man etwas recyclen kann, ich mache das auch. Beim Projekt Gutenberg kann man Die Kartause von Parma in der Übersetzung von Dr Arthur Schurig lesen. Die Übersetzung ist hundert Jahre älter als die von Elisabth Edl, aber man kann sie immer noch lesen. Dies gelbe Zeug hier braucht man dafür nicht unbedingt.



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen