Sonntag, 8. Januar 2023

C'est à Hambourg


Ich wäre beinahe mal Rowohlt Autor geworden. Dem Lektor gefiel mein Manuskript, er wusste nur nicht, in welcher Reihe des Verlags er es unterbringen sollte. Während wir Briefe wechselten, erhielt ich plötzlich von einem ganz anderen Verlag ein Angebot. Sie offerierten mir, mein Manuskript noch im selben Jahr in ihrer neuen wissenschaftlichen Reihe als Buch herauszubringen. Ich nahm das Angebot an, so etwas bekommt man nicht jeden Tag. Verabschiedete mich aber noch brieflich von dem netten Rowohlt Lektor. Nicht so nette Erinnerungen an den Rowohlt Verlag hatte ein junger Schriftsteller namens Karl Mickinn, der nach einer Woche sein Romanmanuskript vom Cheflektor Fritz J. Raddatz zurückbekommen hatte. Ja, das ist Raddatz hier, noch ohne seinen Bart. Raddatz ist schon mehrfach in diesem Blog erwähnt worden (zum Beispiel in den Posts Goethe und Albert Vigoleis Thelen), aber noch nie ist etwas Nettes über ihn gesagt worden. Ich muss da noch eben etwas zitieren, was hier schon vor zwölf Jahren stand:

Aber wundert es einen bei jemandem, der wegen eines gefälschten Goethe Zitats bei der Zeit rausgeflogen ist? Und wie schrieb damals noch Karasek so schön über Raddatz? Da Raddatz ein eitler, lauter, in Beleidigungen schnatternder Gesellschaftsmensch war, der sich so anhörte, wie Willi, der Freund der Biene Maja, freute sich das halbe Feuilleton-Deutschland über seinen Sturz in die Lächerlichkeit. Er, der jedem besserwisserisch dessen Unbildung vorwarf, war also selbst hereingefallen. Er war dabei aber nur ein notorischer Wiederholungstäter, der mit seinen fatalen Falschzitaten offenbar einem geheimen Selbstzerstörungstrieb gehorchte.
     Der Engländer würde sagen: The pot calling the kettle black. Ja, da haben sich zwei gefunden. Beides Dünnbrettbohrer, aber beide mit riesigem Ego.

Raddatz teilte Karl Mickinn mit, er könne nur davon abraten, das Werk in Deutschland zu veröffentlichen. Mickinn nahm das als einen guten Ratschlag, er ging nach Paris, wo er mal kurz studiert hatte, und offerierte das inzwischen durch die renommierte Übersetzerin Gisèle Bernier (die Isaac Bashevis Singer ins Französische gebracht hatte) übersetzte Manuskript dem berühmten Maurice Nadeau. Der das Buch sofort in seiner Reihe Les Lettres Nouvelles seines Verlags Denoël in einer Auflage von dreitausend Exemplaren druckte. Der Titel des Buches war C'est à Hambourg, Titel eines Chansons von Edith Piaf. Der Titel war richtig gewählt, denn von Hamburg handelt der Roman: 24 heures dans les quartiers chauds de Hambourg en 1958 sur fond de 'miracle économique'. Der Roman versetzt uns vierundzwanzig Stunden lang (Joyces Ulysses war da wohl ein Vorbild für den Autor) in ein quirliges Spätsommer-Hamburg. Nicht an die Elbchaussee, eher in die Rotlichtviertel. Das war es, was Raddatz nicht gefallen hatte, ein Buch pickepackevoll mit dem Schmutz der Hansestadt im Jahre 1958. Marvelous dirty stuff wird es in einem englischen Journal heißen. Dagegen sind die St Pauli Romane von Simone Buchholz harmlos. Die Kritiker der führenden Pariser Zeitungen waren von C'est à Hambourg begeistert. Für sie war Karl Mickinn ein Name, der den Namen von Johnson, Grass und Enzensberger hinzugefügt werden müsse.

So etwas ähnliches musste Walther H. Schünemann im Bremen auch wohl gedacht haben. Er bot Mickinn sofort einen Vertrag an, weil er doch diese etwas exzentrische Reihe City Buch hatte. Da war gerade zum erstenmal in deutscher Sprache Jean-Pierre Rochés Jules und Jim erschienen (das als Lizenzausgabe auch zu Rowohlt wanderte), und dann gab es Jean-Louis Rieupeyrouts Le Western, Ou le cinéma américain par excellence und Co­mics wie Jean-Claude Fo­rests Bar­ba­rella und Guy Peellaerts Jodelle. Oder Octave Mirbeaus Le Jardin des supplices mit zwanzig Zeichnungen von Rodin. Auch Rock Dreams: Die Geschichte der Popmusik von Guy Peellaert und Nik Cohn ist in deutscher Übersetzung bei Schünemann erschienen. Wo sonst? Kein deutscher Verleger würde es heute wagen, ein solches Verlagsprogramm zu haben. Ein Jahr nach C'est à Hambourg erschien Altweibersommer in Bremen. Als Buch sehr gut ausgestattet: blauer Original-Leinenband mit weißgeprägtem Rückentitel und mehrfarbig illustriertem Original-Schutzumschlag, Kopffarbschnitt. Und dann eben diesem erotischen Schutzumschlag von Paul Wunderlich.

Es gab eine Vorzugsausgabe des Buches, da war der Schutzumschlag eine von Wunderlich signierte Lithographie. Im Spiegel konnte man lesen: Karl Mickinn: »Altweibersommer«. Ein Jahr nach der französischen Übersetzung (SPIEGEL 10/1967) bringt der Autor aus Ostpreußen, 41, seinen zynischen, kunterbunten und bisweilen unbekümmert aberwitzigen Erstroman aus Hamburger Gossen und Striptease-Pinten, von Schiebern, Huren, Säufern, Bankräubern und Reeperbahn-Wärtern deutsch auf den Markt. Das Lokal-Kolorit von St. Pauli stimmt, die Slang-Tiraden wirken auf Langstrecken ermüdend. 400 Exemplare der Auflage sind mit numerierter und signierter Original-Lithographie des Hamburger Graphikers Paul Wunderlich umwickelt und für 120 Mark zu haben. (Schünemann; 304 Seiten; 22 Mark.)

Im Kultursommer 2021 wurde in St Pauli auch aus dem Werk von Mickinn vorgelesen. Dort findet sich im Programm auch eine kurze Biographie: Karl Mickinn, geboren 1927, ostpreußischer Bauernsohn, Luftwaffenhelfer und Panzergrenadier, studierte in Hamburg, Köln und Paris 'ein bisschen Philosophie und Volkswirtschaft' und bemühte sich mit Erfolg, möglichst arbeitslos über die Jahre zu kommen. Am Kellersee bei Malente, im Gutshaus des Ex-Diplomaten Werner von Levetzow, hatte er sein festes Domizil – als 'Vermögensverwalter, Gesellschafter, Saufkumpan', als 'Butler mit Familienanschluss'. Dort begann er seinen Roman 'Altweibersommer', der in Frankreich Premiere hatte und erst dann auf Deutsch mit einer Umschlaglithographie  von Paul Wunderlich im Bremer Schünemann Verlag erschien. Er zog nach Irland und betrieb dort eine Pension. Weiteres ist nicht bekannt.

Man weiß nicht sehr viel über den Autor, man könnte noch hinzufügen, dass er 2010 gestorben ist. Und 1967 verlauten ließ, er arbeite an einem zweiten Roman. Das sei die Geschichte eines pensionierten Zuhälters, Arbeitstitel: Die Pornozyniker. Ein Roman, der nie erschienen ist. Der Artikel im Spiegel No 10 (1967) mit dem Titel Mädchen, Frauen, Weiber bleibt eine der wichtigsten Quellen zu Mickinns Leben und Werk. Der taucht manchmal an seltsamen Stellen auf. So können wir in Stefan Blessins Biographie von Horst Janssen lesen, dass Mickinn die Frauen entsorgt, die sein Schulfreund Paul Wunderlich nicht mehr sehen will: Wunderlich mußte sich bei den Frauen nicht bedingungslos engagieren. Es gab Zeiten, da er sie wie Nummern ablegte. Solche Mädchen, die einfach wegsollten, übernahm morgens Karl Mickinn, der übrigens mit Wunderlich wie mit Janssen befreundet war. Karl Mickinn brachte ihnen das Frühstück ans Bett und beruhigte die Wartende: 'Paul kommt gleich'. Er dehnte den Morgen künstlich und kam nach zwei Stunden, den Blick immer noch unverwandt aus dem Fenster auf den Ersehnten gerichtet, mit dem Satz hervor: 'Eigentlich ist der Mensch allein.' So gab er das Zeichen zum Kofferpacken. 

Die Zeit ließ sich ein Jahr Zeit, um diesen neuen deutschen Roman zu besprechen, dann tat das im Januar 1968 Martin Gregor-Dellin. Der stösst sich an der Sprache des Textes, zum Beispiel an der Formulierung sie taxigirlte. Ich finde diese Eindeutschung des amerikanischen taxi girls ziemlich genial. Aber so genial manche Sätze von Mickinn, mit vierzig ein Debütant, auch hingefetzt werden, Gregor-Dellin konnte sich nicht dazu verstehen, dass Mickinn, zuweilen auch präziser Berichterstatter von Lebensläufen und ein kühler Beobachter einen guten Roman geschrieben hatte. Seine französischen Kollegen, deren Rezensionen auf der Innenseite des Buchumschlags der deutschen Ausgabe abgedruckt sind, waren da ganz anderer Meinung. Sechs Jahre hatte Mickinn an seinem Roman geschrieben, Gregor-Dellin wird in seiner Kritik den 24 heures dans les quartiers chauds de Hambourg en 1958 sur fond de 'miracle économique' nicht gerecht. Denn Kraftausdrücke, Schludrigkeiten und schmutzige Witze hin und her: dies Buch ist auch ein Stück großer Literatur. Man kannn es antiquarisch immer noch finden. Die französische Erstausgabe wurde 1982 neu aufgelegt.


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