Mittwoch, 7. Dezember 2011

Gabriel Marcel


Der Philosoph Gabriel Marcel, der heute vor 122 Jahren geboren wurde, ist in diesen Tagen in Deutschland nicht mehr so bekannt. Heute kennt man offensichtlich jemanden wie Richard David Precht. Das heißt, ich kannte den überhaupt nicht, bis ich letzte Woche im Stern den Artikel von Andrea Ritter gelesen habe. Wo sich so schöne Formulierungen wie Schlaumeier, der zu allem eine Meinung hat und Philosoph der Bahnhofsbuchhandlung fanden. Da fiel mir, unterstützt durch die reichhaltigen Photos wieder ein, dass ich den mal im Fernsehen gesehen hatte. Hatte mir denn auch schon nach wenigen Minuten gereicht. Andererseits ist es aber erstaunlich, dass ich ihm bei seiner medialen Präsenz überhaupt entkommen konnte, denn er scheint ja überall gleichzeitig zu sein. Im Playboy (aber angezogen), bei Anne Will, auf dem FDP Parteitag, in der Reihe Sternstunde der Philosophie. Diese Präsenz ist auch ein selbstgestecktes Ziel des mit einer Arbeit über Robert Musil promovierten Germanisten: Ich habe eine gesellschaftliche Rolle eingenommen, die in Deutschland unbesetzt war. […] Die Rolle des öffentlich präsenten Intellektuellen. Und er hat natürlich auch zu ➱Weihnachten etwas zu sagen.

Obgleich er überall als Philosoph etikettiert wird, ist er das streng genommen nicht. Er ist genau so viel Philosoph wie Sie und ich. Philosophieprofessoren sind für ihn langweilige ältere Herren in braunen oder blauen Busfahreranzügen. Er hat Philosophie auch nur im Nebenfach studiert - das habe ich auch, aber das binde ich meiner Umwelt selten auf die Nase. Außer wenn ich einen so netten Post wie ➱Philosophenwitze schreibe. Aber er ist jetzt Professor für Philosophie geworden, allerdings nur ein Honorarprofessor. Und nur an der Leuphana Universität. Falls Sie die nicht kennen sollten, das war früher die PH Lüneberg. Was man mit Namen so machen kann, es begeistert mich immer wieder. Ist so ähnlich wie Raider heißt jetzt Twix.

Er gibt sich sehr, sehr jugendlich, obgleich er mit 47 eigentlich schon erwachsen sein sollte. Häufig trägt er eine offene Hemdbrust. Wenn er jetzt noch ein Goldkettchen hätte, sähe er aus wie ein italienischer strizzi. Und er hat diese schöne Haarpracht, in ein paar Jahren kann er als Peter Sloterdijk Imitation durchgehen. Mir drängt sich da gerade eine noch nicht zu Ende gedachte Theorie auf - man sollte einmal den Haarschmuck der Philosophen untersuchen. Also bei Hegel ist nichts zu retten, aber Schopenhauer, Marx und Einstein, was für eine Pracht!

Richard David Prechts Buch Wer bin ich - und wenn ja wie viele? Eine philosophische Reise ist ein Bestseller. Fegte vor Jahren Hape Kerkeling von Platz Eins der Bestsellerliste, sodass der Titel Ich bin dann mal weg eine neue Bedeutung bekam. Prechts Bücher sind wahrscheinlich in den Bahnhofsbuchhandlungen vorrätig. Buchhändler, die Titel vom Vittorio Klostermann Verlag führen, würden so etwas wohl nicht anfassen. Die griechische Insel Naxos ist die größte Insel der Kykladen im Ägäischen Meer. In der Mitte der Insel steigt die Bergkette des Zas bis auf tausend Meter an, und auf den würzig duftenden Feldern grasen Ziegen und Schafe, wachsen Wein und Gemüse. Noch in den 1980er Jahren besaß Naxos einen legendären Strand bei Agia Ana, kilometerlange Sanddünen, in denen nur wenige Touristen sich Bambushütten geflochten hatten und ihre Zeit damit verbrachten, träge im Schatten herumzudösen. Im Sommer 1985 lagen unter einem Felsvorsprung zwei junge, gerade 20-jährige Männer. Der eine hieß Jürgen und kam aus Düsseldorf; der andere war ich. Wir hatten uns erst vor wenigen Tagen am Strand kennen gelernt und diskutierten über ein Buch, das ich aus der Bibliothek meines Vaters mit in den Urlaub genommen hatte: ein inzwischen arg ramponiertes Taschenbuch, von der Sonne ausgebleicht, mit einem griechischen Tempel auf dem Umschlag und zwei Männern in griechischem Gewand. Platon: Sokrates im Gespräch. Die Atmosphäre, in der wir unsere bescheidenen Gedanken leidenschaftlich austauschten, brannte sich mir so tief ein wie die Sonne auf der Haut. Abends, bei Käse, Wein und 

Für einen richtigen Roman hätten wir natürlich auf der ersten Seite auch schon schöne Frauen erwartet, aber in diesem von Klischees triefenden Idyll sind nur zwei junge Männer. Und im Hintergrund Platon und Sokrates im Gespräch. Was da oben steht, stammt aus keinem Roman, es stammt aus Prechts Wer bin ich - und wenn ja wie viele? Eine philosophische Reise. Bei Amazon haben hunderte von Rezensenten ihre Meinung über den Bestseller kundgetan. Wenn man sich die Rezensionen anschaut, die nur einen von fünf Sternen vergeben, trifft man auf die intelligenteren Leser.

Ich habe eine gesellschaftliche Rolle eingenommen, die in Deutschland unbesetzt war. […] Die Rolle des öffentlich präsenten Intellektuellen. Noch einmal diese schönen Sätze. Ich kann mich noch daran erinnern, dass in Deutschland auch einmal Philosophen gehört und ernstgenommen wurden. Karl Jaspers zum Beispiel in den fünfziger Jahren, und das nicht nur wegen des Buches Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. Und Gabriel Marcel, der als Franzose im Nachkriegsdeutschland keine Berührungsängste mit dem Erbfeind Deutschland hatte. In dem Jahre, in dem Richard David Precht geboren wurde, erhielt Marcel den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Und es muss ein Jahr später gewesen sein, als der kleine Richard David noch auf dem Fußboden herumkrabbelte, als ich Gabriel Marcel in einem Vortrag erlebte.

Ich nehme an, dass ihn der Kieler Ordinarius Walter Bröcker eingeladen hatte. Das weiß ich aber nicht so genau, weil ich die Einführung nicht mitbekommen habe, ich kam zu spät zu dem Vortrag. Meine Fahrradkette war abgesprungen, und ich hatte in der Dunkelheit viel Zeit verloren, die wieder draufzukriegen. Als ich mit meinen schmutzigen Händen (das ist jetzt ein Sartre Zitat) den Hörsaal erreichte, war natürlich alles voll. Lediglich in der ersten Reihe, da wo die Honoratioren saßen, war noch ein Platz frei. Dadurch saß ich an diesem Abend direkt vor Gabriel Marcel.

Die Philosophie in Kiel hatte damals keinen schlechten Namen, immerhin hat Hans Blumenberg hier promoviert und hat sich hier bei Ludwig Landgrebe habilitiert. Und später gab es neben Bröcker ja noch Karl-Otto Apel. Und Hermann Schmitz, aber der gehört doch eher in den Post Philosophenwitze. Bröcker, groß und weißhaarig, sah aus, wie ein Philosoph aussehen sollte. Erstaunlicherweise konnte man ihn aber auch häufig am Yachthafen vor dem Kieler Yacht Club sehen, er war ein großer Segler. Und auf einer Segeltour mit dem Theologen Heinrich Buhr hatte er 1960 den christlichen Himmel gründlich entrümpelt - diese schöne Formulierung habe ich mir beim ➱Spiegel geklaut, dem die Segeltour der beiden philosophierenden Segler damals eine Geschichte wert war.

Gabriel Marcel war nicht so groß wie Bröcker, also jetzt mal von der Statur her gesehen. Er war eher klein und stämmig. Philosophisch gesehen war er natürlich viel größer als der ➱Heidegger-Schüler Bröcker. Gabriel Marcel hatte einen Schnurrbart und trug einen dunklen Anzug mit Weste. Und er sah aus wie die von Precht beschriebenen langweiligen älteren Herren in braunen oder blauen Busfahreranzügen. Na, ja, nicht so ganz. Natürlich hatte er die kleine Rosette der Ehrenlegion im Knopfloch seines Anzug, aber für die Klamotten des Mannes, der schon auf die achtzig zuging, interessierte sich an dem Abend niemand. Heute interessiert einen das, weil der Schein über das Sein gesiegt hat. Damals interessierte es nur, was der Philosoph zu sagen hatte. Er sprach sehr gutes Deutsch, und er wirkte jugendlich und quicklebendig. Er kehrte zwar immer wieder zur Saalmitte - also direkt zu mir - zurück, aber er durchmaß beim Sprechen die ganze Saalbreite, versteckte sich nicht hinter dem Rednerpult.

Ich hatte längst aufgehört, meine mains sales mit dem Taschentuch zu reinigen und hörte ihm gebannt zu. Er war einer der wenigen Philosophen, die sich klar und verständlich ausdrücken konnten. Weizsäcker, den ich an der Uni Hamburg gehört hatte, konnte das auch, war aber sehr abstrakt. Bröcker konnte auch gut reden, war sogar manchmal witzig, aber seine Vorlesungen hatten nicht das Feuer, das der Vortrag von Gabriel Marcel hatte. Bröcker wirkte immer so, als ob er sich nach seinem Segelboot sehnte und die Vorlesung als lästige Verpflichtung eines Brotberufs empfand. Dass das Gespräch des Lehrers mit jüngeren Schülern der Beginn der Philosophie ist, schien er vergessen zu haben.

Gabriel Marcel sprach über die ➱Wahrheit, aber dieser philosophische Begriff war für ihn nichts Abstraktes, Absolutes. Wahrheit wurde hier zu einem funktionalen Begriff im menschlichen Miteinander. Die Rolle des Philosophen war für Marcel unter den Menschen, er hat eine moralische Aufgabe. Damit sind wir letztlich wieder bei Sokrates. Dies ist eine praktische Philosophie, die etwas mit dem Leben zu tun hat. Das nimmt Precht ja auch für sich in Anspruch, und er kann Dinge vielleicht besser vermitteln als die langweiligen älteren Herren in braunen oder blauen Busfahreranzügen. Die Frage ist nur: hat er etwas zu vermitteln? Oder ist er nur ein neuer Dale Carnegie? Gabriel Marcel, einer der Begründer des Existentialismus (obgleich er den Namen néo-socratisme für seine Philosophie vorzog), hatte natürlich etwas zu vermitteln, da sein Existentialismus fest im Christentum verankert ist. In der Orientierungslosigkeit der Nachkriegszeit hörte man das gerne. Da wurde auch Thornton Wilders Theaterstück Wir sind noch einmal davongekommen nur wegen des Titels in Deutschland ein Renner. Aber mit dem Wirtschaftswunder und der Entmythologisierung des Christentums durch Rudolf Bultmann verschwand Gott ein wenig aus der Philosophie. Und aus dem täglichen Leben.

Lange bevor Gabriel Marcel Philosoph wurde, war er Schriftsteller. Zwar sind seine Dramen eher Lesedramen (keins wurde auf der Bühne ein Erfolg wie zum Beispiel Die schmutzigen Hände von Sartre), aber in dem, was er ab 1911 für die Bühne schrieb, nimmt er seine philosophischen Schriften schon vorweg. Das, was Platon Maieutik nannte, also die Hebammenkunst der Gesprächsführung, die auf eine Erkenntnis hinzielt, ist natürlich in einem Theaterstück elegant zu machen. George Bernard Shaw hat das vorgemacht. Und sicher besaß Gabriel Marcel neben seinem rhetorischen Talent auch ein schauspielerisches Talent - ich habe es erlebt. Und er ist nie müde geworden, vor einem Publikum zu sprechen, lange bevor Richard David Precht über die Philosophie nachdachte.

Was Gabriel Marcel aber noch interessant macht, ist sein Verhältnis zur Musik. La musique dans mon vie et mon oeuvre, hieß ein Vortrag, den er in Wien gehalten hat. Er verstand etwas davon, er hatte einmal (wie Shaw) als Musikkritiker gearbeitet. Zwar hat er nicht gesagt: Gott hat uns die Musik gegeben, damit wir erstens, durch sie nach oben geleitet werden. Die Musik vereint alle Eigenschaften in sich, sie kann erheben, sie kann tändeln, sie kann uns aufheitern, ja sie vermag mit ihren sanften, wehmütigen Tönen das roheste Gemüt zu brechen. Aber ihre Hauptbestimmung ist, daß sie unsre Gedanken auf Höheres leitet, daß sie uns erhebt, sogar erschüttert. Das ist von Nietzsche. Der konnte Klavier spielen. Das konnte Gabriel Marcel auch, wie man hier sehen kann. In einem der Gespräche, die Paul Ricoeur mit ihm führte, hat er in einem Bild die Bedeutung der Musik für sein Werk definiert (leider habe ich das Zitat nur auf Englisch): Taken as a whole my work can be compared, I think, to a country like Greece, which comprises at the same time a continental part and islands. The continental part is my philosophical writing.... the islands are my plays.... And...the element which unites the continent and the islands in my work is music. Music is truly the deepest level. In a certain way the priority belongs to music.

Meine kritischen Bemerkungen zu Herrn Precht beziehen sich nicht auf die Art der Vermittlung. Auch Gabriel Marcel ist unermüdlich gereist und hat unermüdlich Vorträge gehalten. Ich habe auch überhaupt nichts dagegen, wenn die Einführung in philosophische Fragestellungen auf eine essayistische Weise geschieht. Wilhelm Weischedels Buch Die philosophische Hintertreppe ist ja ein kleiner Bestseller geworden. Oder Alain De Bottons ➱The Consolations of Philosophy. Und es ist auch nichts dagegen zu sagen, dass es Querdenker außerhalb der institutionalisierten Philosophie gibt. Sie können auch ein klein wenig so anarchisch sein wie Paul Feyerabend. Und Rüdiger Safranski war mit seiner Fernsehsendung schon auf dem richtigen Weg. Aber dass dieser Richard David Precht, der schon in Manuel Andracks ➱Alpträumen vorkommt, die Zukunft der Philosophie ist, das glaube ich nun wirklich nicht. Ich wüsste aber, was eine schöne Aufgabe für ihn sein könnte: Gottschalks Nachfolger bei Wetten, dass?

Es gibt immer ein Stückchen Welt, das man verbessern kann - sich selbst. Das ist mal nicht von Precht, das ist von Gabriel Marcel.


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