Dienstag, 21. September 2021

Verwandte

Auf dem Bild im Photoalbum der Familie steht meine Mutter vor dem Haus von Tante Margret zwischen zwei Männern. Das Haus neben dem Georgsweg, der den Berg hinauf in den Wald führt, ist damals noch das letzte Haus im Ort. Dann kommen bis Wittlage nur Felder und Weiden. Der Mann links von meiner Mutter trägt die Paradeuniform eines Feldwebels, die mit den Streifen auf den Ärmelstulpen. Noch ist Frieden. Im Krieg wird er Hauptmann werden und das Ritterkreuz bekommen. Er fällt vierzehn Tage später in der Kesselschlacht von Tscherkassy. Niemand weiß, wo er begraben ist, alle Anfragen beim Roten Kreuz blieben ergebnislos. Der lange schlanke Mann rechts neben meiner Mutter trägt einen eleganten hellgrauen Anzug, man sieht, dass der nicht von der Stange kommt. Darauf hat er immer Wert gelegt, mein Onkel Werner.

Neben ein anderes Photo einige Seiten weiter im Familienalbum hat meine Mutter Werner geschrieben. Hätte sie nicht zu tun brauchen, ich erkenne ihn sofort wieder. Weil er wie der junge John Wayne aussieht, es ist eine erstaunliche Sache mit dieser Ähnlichkeit. Auf dem Photo trägt er eine Uniform, der man wieder den Schneider ansieht. Er sitzt mit einem zweiten Offizier draußen an einem Tisch, sie haben Kaffeebecher vor sich, ein Henkelmann steht auf dem Tisch. Werner trägt ein Schiffchen mit Silberlitze, sein Gegenüber eine Schirmmütze. Beide haben die Schleife vom Eisernen Kreuz in die Uniformjacke eingeknöpft. Onkel Werner hat den obersten Knopf seiner Uniform nicht zugeknöpft, es ist Sommer, er scheint den Krieg nicht so ernst zu nehmen. Dann gibt es jahrelang keine Photos mehr von ihm. Er ist in Rußland in Gefangenschaft geraten und erst spät wiedergekommen. Sehr spät. Das erste Mal sah ich ihn, als er sich gerade von Tante Margret verabschieden wollte, er schien es eilig zu haben. Draußen in seinem Cabrio auf der Lindenstraße saß eine junge blonde Frau. Sehr blond. Onkel Werner nahm sich die Zeit, mich zu begrüßen, schließlich war ich Verwandtschaft, auch wenn ich noch klein war. Man sah ihm die Jahre der russischen Gefangenschaft nicht an. Er sah immer noch so aus wie John Wayne. Und er trug immer noch elegante Anzüge. Seine Bank hatte ihm seine Stelle freigehalten, auch wenn sie nicht wussten, ob er wiederkam.

Das nächste Mal sah ich ihn bei einer Familienfeier. Wir standen alle im Wohnzimmer herum, mein Vater hatte gerade den Sherry gereicht. Nicht für mich, ich war zehn oder elf. Onkel Werner sagte zu mir Willst Du mal die Engel im Himmel singen hören? Ich war mir nicht sicher, was das bedeutete, sagte aber Ja. Und da drückte er mir für einen kurzen Augenblick seine brennende Zigarette in die Hand. Und grinste mich an. Hat nicht wirklich weh getan, sagte er. Beim Mittagessen hatte ich den Schmerz schon vergessen, aber die seltsame Geschichte vergesse ich nie. Sie fiel mir letztens wieder ein, als ich über den Baronet Richard Sykes schrieb, der Doris Duke eine brennende Lucky Strike auf die Hand drückt. Werners Familie nannte ihn manchmal einen Schliekefänger, den Ausdruck habe ich damals zum erstenmal gehört. Und irgend so etwas völlig Unseriöses hatte er, trotz der eleganten Kleidung. Ich bewunderte das, so wie ich Tante Hella bewunderte, die sich ihre Haare hellblau färbte und immer ein wenig nuttig aussah. Um mich herum war ansonsten nur bürgerliche Seriosität.

Die Familienfeier mit den Engeln im Himmel war das letzte Mal, dass ich ihn sah. Zwei Jahre später war er tot. Er hatte die verlorene Zeit in Rußland in Windeseile aufholen wollen. Mit Alkohol, ständig neuen Autos und ständig neuen Frauen. Das hatte das Herz nicht mitgemacht. Im Photoalbum ist er immer noch lebendig.

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