Samstag, 18. Januar 2014

Arno (Otto) Schmidt


In zwei Jahren hat er hundertsten Geburtstag. Deo volente, nobis viventibus schreibe ich dann über ihn, versprochen. Bis dahin können Sie ja seine Werke lesen. MitZettel's Traum sollte man nicht unbedingt anfangen. Das schrieb ich am 18. Januar vor zwei Jahren. Nun ist es soweit, der Tag muss gefeiert werden. Wie soll man sich dem Solipsisten in der Heide nähern? In meinem Bücherregal stehen seine Werke hinter Adalbert Stifter. Erinnert mich daran, dass ich den ➱Nachsommer immer noch nicht zu Ende gelesen habe. Arno Schmidt mochte den Roman auch nicht: Schon von Knabenzeiten an hat mich – der ich ansonsten durchaus geneigt bin, Adalbert Stifter für einen großen Mann zu ästimieren! – der ‚Nachsommer‘ geärgert. Arno Schmidt hat über die Jahrzehnte immer mehr Platz im Regal eingenommen, hat alle anderen Autoren - bis auf den Stifter - aus diesem Regal verdrängt. Wo ist bloß Arthur Schnitzler geblieben? Ich würde jetzt mal gerne Das weite Land lesen, wo ich gerade Werner Schneyders wunderbares Buch Meiningen oder Die Liebe und das Theater gelesen habe. Rechts von Arno Schmidts Büchern hat sich noch ➱Albert Vigoleis Thelen behauptet, wie er ein großer Einzelgänger und Formkünstler.

Arno Schmidts Bücher begleiten mich jetzt ein halbes Jahrhundert. Er vermittelte literarische Bildung, mehr als der Deutschunterricht, mehr als ein Germanistikstudium. Gelehrsamkeit, die er sich schwer erarbeitet hatte. Ich habe viel von ihm gelernt, weil die Bücher  ein Anstoß waren, weiter zu forschen. Weil man sich auch über diesen Autor mit seiner penetranten Rechthaberei ärgerte und ihm gerne Fehler nachgewiesen hätte. Und natürlich musste ich eines Tages all seine Lieblingsbücher lesen, die bei Zweitausendeins erschienen. Wie Belphegor oder den Heinrich Albert Oppermann aus Hoya mit seinem neunbändigen Roman Hundert Jahre. Was wäre gewesen, wenn Arno Schmidt, der lebende Zettelkasten, einen Computer gehabt hätte? Man wagt es nicht, daran zu denken.

Otto Proksch in Bremen, der für mich eine Art väterlicher Freund war, hatte in seiner Villa in Oberneuland eine kleine Bibliothek mit all den Büchern, die von Arno Schmidt erwähnt werden. Beinahe eine Replik der Schmidtschen Bibliothek. Meine Heimatstadt Bremen spielte im Leben Arno Schmidts keine große Rolle, den Bremer Literaturpreis (den 1956 ➱Ernst Jünger bekam und den 1960 Günter Grass nicht bekam) hat er nie bekommen. Lilienthal bei Bremen spielt jedoch in seinem Werk eine besondere Rolle, hier sollte der lebenslang geplante und nie vollendete Roman Lilienthal 1801 oder Die Astronomen spielen. Gegen dieses Werk sollte Zettel's Traum eine bloße Handübung sein. Die erhaltenen Fragmente wurden 1996 als Arno Schmidts Lilienthal 1801, oder Die Astronomen: Fragmente eines nicht geschriebenen Romans veröffentlicht. Einen Bremer Schriftsteller hat Schmidt allerdings zumindest gelesen, er besaß ein Exemplar von ➱Friedo Lampes Septembergewitter.

Inzwischen brauchen fanatische Arno Schmidt Sammler auch schon ein sehr großes Bücherregal für die angeschwollene Sekundärliteratur zu dem Schriftsteller. Die ich anfangs sogar in seriösen Literaturzeitschriften rezensierte, jetzt aber nicht mehr verfolge - ich habe es aufgegeben. Gegen die Ausgaben seiner Briefe oder Dokumentationen wie Joachim Kerstens Arno Schmidt in Hamburg oder ein vorzügliches ➱Buch wie Wu Hi? will ich nichts sagen, aber es wird auch viel Unsinn geschrieben. Friedhelm Rathjen, der ja auch Moby-Dick übersetzt hat (was Dieter E. Zimmer eine systematische und dogmatische Verholperung und Verhässlichung des Textes nannte), ist für mich eine Pest. Ist auch kein Ersatz für den verdienstvollen Jörg Drews.

Anfangs hatte ich ja noch den Bargfelder Boten abonniert, nahm sogar an einem Wochenende an einer Exkursion teil. Auf den Spuren von AS. Ich kam mir dabei aber ziemlich blöd vor, man wurde da gleich als Jünger einer Sekte vereinnahmt. Hatte nicht Daniel Pagenstecher gesagt: Ich bin gegen jeden Monotheismus, auch in der Literatur? Außerdem kannte ich die Gegend, war da kurz kurz zuvor gewesen. In Knobelbechern und Uniform. Und wurde dafür bezahlt, in Moor und Heide umherzulaufen. Vielleicht ist es interessant, auf den Spuren der Brontë Schwestern über das Moor zu wandern, aber Bargfeld und Umgebung? Es spricht für Arno Schmidts schriftstellerisches Talent, auch Landschaften, die nicht soviel hergeben wie das Moor von Haworth oder das Wessex von Thomas Hardy in die Literatur hinein gezaubert zu haben. Und das machte für mich auch einen Reiz bei der Lektüre aus: vieles kannte ich. Der Dümmer aus Seelandschaft mit Pocahontas (ein Buch, das Adorno für das Reifste, sicherlich das Konsequenteste von Schmidt hielt) war mir vertraut. Das Schloss Ahlden, das in Das steinerne Herz vorkommt, kannte ich. Eins der hannöverschen Staatshandbücher, das in dem Roman eine Rolle spielt, besaß ich selbst.

Würde ich den Mann wirklich gemocht haben, der dies alles schrieb? Mein Leben ? ! : ist kein Kontinuum! (nicht bloß Tag und Nacht in weiß und schwarze Stücke zerbrochen ! Denn auch am Tage ist bei mir der ein Anderer, der zur Bahn geht; im Amt sitzt; büchert; durch Haine stelzt; begattet; schwatzt; schreibt; Tausendsdenker; auseinanderfallender Fächer; der rennt; raucht; kotet; radiohört; 'Herr Landrat' sagt: that's me!) ein Tablett voll glitzender snapshots. Muss man die Schriftsteller wirklich persönlich kennen, die man gerne liest? Otto Proksch war es nach langen Jahren, als er den Schmidts einen Wohnwagen verkaufte (lesen Sie ➱hier alles dazu), endlich gelungen. Er war über die Begegnung enttäuscht. Dass Schmidt mir auf meinen Brief und die beigelegte Rezension von Der Triton mit dem Sonnenschirm nicht geantwortet hat, war nicht anders zu erwarten. Aber ➱Reimer Bull, der seine Dissertation über ihn geschrieben hat, bekam einen Brief von ihm (wenn auch nur, weil Arnos Verleger sanften Druck auf ihn angewandt hatte). Bulls Buch war damals eine der ersten Arbeiten aus der Universität über Arno Schmidt.

Inzwischen widmet sich die Forschung (endlich, möchte man sagen) auch seiner Frau Alice. Denn was wäre er ohne die gewesen? Arno knickt mir wieder meine Flügel, schreibt sie einmal in ihr Tagebuch. Diese Tagebücher sind zwar eine wunderbare Lektüre, sind aber auch sehr deprimierend. Manchmal auch komisch. Wenn Alice im Kochtopf eine Bluse blau färbt und die Hühnersuppe am Tag danach etwas blau ist. Offenbar war beim Abwaschen doch nicht alles rausgegangen ! 'Gift' stand nicht auf der Packung, also wird sie gegessen. Wir wissen jetzt, warum die Line Hübner im Roman Das Steinerne Herz blaue Suppe kocht. Die kleine Geschichte beleuchtet aber auch die Armut und die Verhältnisse der Schmidts, sein Werk ist der Armut abgerungen. Was hätte er zu jemandem wie Henning Mankell gesagt, der mit schlechten Romanen Millionen verdient? Ich finde es immer rührend, wenn Rodolfo in La Bohème sein dichterisches Werk im Ofen der Dachkammer verheizt, die Wirklichkeit bei Schmidts sieht anders aus.

Es ist eine Armut, die er aus seiner Jugend in Hamburg kennt: Ich seh’s ungefähr noch vor mir: die weder geräumijen noch reinlichen Gemächer, die Fenster mit gutem festem Papier verklebt; das TafelService wie von Blohm & Voß; die ›SteckrübmWinter‹, (und noch lange nach dem Kriege war ›LungenMus‹ oder Haschée aus Euter & Gedärmseln ein SonntagsEss’n – wozu bei Uns freilich noch gravierend hinzutrat, daß meine Mutter vom Kochen keine Ahnung hatte: wo hätt’ Se’s auch, als 15=16 jähr’je Mutti, gelernt habm soll’n?!). Die Folge solcher Verhältnisse: Ich kann, als Resultat so enger dürftijer Kindheit, nich großzügich denk’n. Ich habe nie gelernt, mich richtich zu benehmen, in keiner Gesellschaft – aber das teile ich ja auch mit den Meist’n. Speziell Mir eign war die Isoliertheit, von BabyBeinen an: um mich unbestimmtes Lächeln / Zürnen auf unbestimmten Gesichtern: so schlecht sah ich! (und meine Eltern, grausam unerfahren & indolent, hielten’s für kindische Unaufmerksamkeit, wenn ich mein’n Vater auf 20 mnur noch als blauen Fleck sah, und ihn nicht erkannte – in der VolksSchule hatte’s der Lehrer natürlich am 1. Tage weg, was mir fehlte. Aber immerhin): Ich hatte, 6 Jahre lang, eine gewisse Abgesperrtheit von der Außenwelt erfahren.

Der Mann, den die englischen Besatzungstruppen als Dolmetscher einstellten, hat viel aus dem Englischen übersetzt. Zuerst zum Überleben, mit Übersetzungen konnte man etwas Geld verdienen. Später kamen ehrgeizige Projekte dazu. Und so verdanken wir ihm zuerst Übersetzungen von Hammond Innes (Der weiße Süden), Peter Fleming (Die sechste Kolonne), aber auch von Erzählungen von William Faulkner. Und die Übersetzung eines Bestsellers wie Sloan Wilsons Der Mann im grauen Anzug. Dort allerdings ohne Nennung seines Namens, Arno Schmidt war mit Rowohlts Änderungen nicht einverstanden. Obgleich er damals beinahe von den Übersetzungsaufträgen von Rowohlt lebte, brach er mit dem Verleger: Ich habe meinerseits, wie Sie wissen, ja schon seit Jahren mehrfach die Lösung unseres Verhältnisses vorgeschlagen; da Sie von Anfang an fast alle meine Bücher ablehnten oder sie in einer Art zu schulmeistern für angebracht hielten, die noch einmal viel Stoff zum Lachen geben wird.

Als er dann Wilkie Collins ➱übersetzte, redete ihm kein Verlag mehr rein. Auch nicht, als er die in Deutschland weithin unbekannten Werke Coopers wie Conanchet oder Die Beweinte von Wish-Ton-Wish und die drei Bände der Littlepage Trilogie übersetzte. James Fenimore Cooper hat er seit der Jugendlektüre des Lederstrumpf gemocht. Wahrscheinlich schätzte er den Amerikaner, weil der wie er ein ➱Gesellschaftskritiker war: Es gibt schlechterdings keinen besseren und müheloseren Zugang zum Verständnis der Mentalität der USA als das Gesamtwerk Coopers. Er hat uns unvergleichlich unterrichtet!

Obwohl man in ihm gerne den großen Einzelgänger sieht - der sich (so Schmidt) als Pionier auf Einmannpfaden in der Wildnis der Worte bewegte - wußte er doch, was auf dem Literaturmarkt vor sich ging. Schmidt hatte durchaus einen Blick für junge Talente, so schrieb er dem sehr geehrten Herrn Keel vom Diogenes Verlag über das Erstlingswerk Weihrauch und Pumpernickel von Otto Jägersberg: Das Buch verdient, unbedingt gedruckt zu werden. Und stellte nach Erscheinen noch eine größere Rezension in Aussicht. Er hatte ja auch zahlreiche Freunde wie Alfred Andersch, Wilhelm Michels und den Maler Eberhard Schlotter.

Vielleicht hatte Hanns Grössel ja Recht, als er 1966 in der Neuen Rundschau schrieb: Als den Außenseiter, zu dem er sich bisweilen stilisiert hat, läßt man ihn, teils achselzuckend, teils nachsichtig, gewähren, räumt ihm eine höhere Narrenfreiheit ein. Wäre sich die Kritik ihres sonst gerne betonten Vorrechts bewußt, mehr zu wissen als der Autor, seine Absichten und Neigungen besser zu deuten als er selber, sie hätte schwerlich überhören können, daß aus Schmidts beschwörenden Hinweisen und Aufrufen ein leidenschaftlicher Mitteilungs-, ein Beteiligungsdrang spricht: wer mit solcher Beharrlichkeit Mißstände und Unsitten der geistigen Welt, der ,Gelehrtenrepublik' anprangert, will nicht von ihr ausgeschlossen sein.

Aber er hasste den organisierten Literaturbetrieb. Eine Einladung der Gruppe 47 lehnte er ab: Ich nähre mich lieber still und redlich vom Übersetzen als von literarischer 175erei. Thomas Mann sagte zur gleichen Zeit über die ungeliebte Gruppe: Das Benehmen der 47er bei ihrer Vorlesung ist natürlich pöbelhaft bis zur Unglaubwürdigkeit, nur bei dieser Rasselbande möglich. Preise (und er hat durchaus Preise bekommen) nahm Arno Schmidt nicht selbst an, die Laudatio (➱hier im Volltext) auf den Goethe Preisträger Schmidt, die Alfred Andersch abgelehnt hatte, hielt 1975 der Kieler Soziologie Professor Lars Clausen (Bild). Der Sohn der Theaterphotographin Rosemarie Clausen überbrachte übrigens auch den Reemtsma Entführern das Lösegeld.

Den Fontane Preis hat er 1964 selbst entgegen genommen (hier auf dem Photo steht er im - mit seinen einsfünfundachtzig alle überragend - im Gespräch mit Alexander Kluge und Alfred  Andersch). Er hat sich in der Umgebung in Berlin nicht wohl gefühlt, hier war er nicht zu Hause. Günter Grass, der die Laudatio hielt (und so schöne Dinge sagte wie Ich kenne keinen Schriftsteller, der den Regen so abgehorcht, dem Wind so oft Widerrede geboten und den Wolken so literarische Familiennamen verliehen hat) war ausgesprochen nett zu ihm, Schmidt blieb abweisend.

Uwe Johnson, schroff und wortkarg wie Schmidt, hat ein bösartiges (aber wahrscheinlich nicht unzutreffendes) Portrait von Schmidt an diesem Tag gezeichnet: Ein gewisser Schmidt aus Bargfeld wird für den Fontane-Preis vorgeschlagen. Schon morgens tritt er wie körperbehindert aufrecht und steif zu dem Frühstück, das andere Schriftsteller ihm gerichtet haben, wie für ewig schlägt er ein altmodisches Hosenbein übers andere, bleibt eine Stunde so sitzen, wehrt mürrisch allen Versuchen mit ihm zu sprechen, blickt aus dem Fenster, ihm missfällt schon diese Veranstaltung. Lesen Sie den Rest ➱hier, es ist wunderbar.

Schriftsteller laufen immer zu großer Form auf, wenn sie über ihre Kollegen lästern können. Arno Schmidt bewies an jenem Tag, dass er mal wieder Recht hatte: Ich kann, als Resultat so enger dürftijer Kindheit, nich großzügich denk’n. Ich habe nie gelernt, mich richtich zu benehmen, in keiner Gesellschaft. Er hat auch einmal gesagt: Der Künstler hat nur die Wahl, ob er als Mensch existieren will oder als Werk. Im zweiten Fall besieht man sich den defekten Rest besser nicht. Wir sollen die menschlichen und zwischenmenschlichen Defizite offensichtlich als Opfergabe für das Werk sehen. Der Atheist Schmidt ist der Gott in seiner eigenen Welt.

Irgendwann, vor allem nach dem Erfolg von Zettels Traum, tauchten Bewunderer und und Neugierige in der Heide auf: Schönstes FerienWetter, (und folglich ein Gewimmel von Lesern, daß es die Geduld eines Apostels übersteigen würde, geschweige denn meine!). Normalerweise vertrieb er die. Den jungen Mann, der ihm am Badeteich aufgelauert hatte und ihm eine Geldsumme in Höhe des Geldes für den Nobelpreis für Literatur offerierte (es waren immerhin 350.000 DM), den verjagte er allerdings nicht. Lud ihn in die Küche zu einem Korn ein, während Alice draußen im Teich badete. Ob Reemtsma auch Zigaretten mitgebracht hatte, weiß ich nicht.

Sie würde ja so gerne mal richtig im Schwimmbad schwimmen, aber Arno hat kein Auto. Da muss sie warten, bis einmal wieder Wilhelm Michels vorbeikommt, der ihren Mann immer finanziell unterstützt hat. Hatte ihm sogar das Geld für den Hauskauf in Bargfeld geliehen (hier auf dem Photo sind die beiden schon per Du). Michels überredet ihn auch, endlich ein Konto zu eröffnen, Arno bewahrte das Geld im Sparstrumpf auf. Mit Wilhelm Michels und seiner Frau geht es auf Urlaubsreise. Geht es in die Schwimmbäder der Umgebung, besonders in das Heideschwimmbad Höfer. Für Alice sind solch kleine Dinge große Glücksmomente. Was wäre, wenn Arno Schmidt den Dr Wilhelm Michels früher getroffen hätte. Und wenn der ein wenig vermögender gewesen wäre? Das hätte so etwas wie Benn und Oelze werden können.

Leider serviert er - und das ist mal wieder typisch für ihn - seinen Freund (der sogar nach Bargfeld gezogen war) eines Tages ab. Der Anlass war nichtig, Arno ist mit seiner Dünnhäutigkeit schnell beleidigt. So notiert Alice in ihrem Tagebuch einmal nach einem Ausflug mit dem Ehepaar Michels: Wir sprachen von Michels Schwager Edschmid u. er sagte, ob A. wisse, daß dies ne Abkürzung von Eduard Schmid sei. Bei Arno könnte man das ja schlecht machen, da käme Arsch heraus. Darüber war nun A. tief beleidigt. Eines Tages darf Alice keine Einladungen zum Schwimmen mehr annehmen, muss Michels' Briefe unbeantwortet wegwerfen. Und da bleibt Alice nur der Dorfteich und dies Photo, das Wilhelm Michels in einem Schwimmbad gemacht hat. Uns als Lesern bleibt immerhin der Briefwechsel mit Wilhelm Michels.

Wer immer seine Leser sind, es muss sie ja geben, seine Bücher werden ja gekauft. Schmidt war skeptisch (oder sollte man sagen elitär zynisch?) in Bezug auf seine Leserschaft: Und was meine Leser betrifft, da hat sich mir ein sehr schöner Erfahrungssatz ergeben: Die eigentlichen Kulturträger in einer Nation oder in jeder größeren Ansammlung von Menschen -- und unter Kulturträgern verstehe ich diejenigen, die sich nun wirklich fleißig, mit viel Ausdauer, viel Kosten, viel Mühe und Feinempfinden in die Kunstwerke vertiefen, die die Menschheit besitzt - die Zahl dieser Kulturträger erhalten Sie, wenn Sie die dritte Wurzel aus P ziehen, wobei P für Population oder Bevölkerung steht. Das sind bei 60 Millionen Einwohnern in Westdeutschland etwa 390. Mehr sind es nicht. Ich will gerne zugeben, daß um die herum eine schon etwas blassere Aura von vier- bis fünftausend vorhanden ist. Wenn Sie jetzt die eigentlichen Kulturerzeuger von mir wissen wollen, dann müssen Sie aus diesen 390 noch mal die dritte Wurzel ziehen. Das sind dann höchstens sieben bis acht. Für heutige Ohren klingt das wie ein Text von Georg Schramm. Hat der Aristokrat des Geistes (der bei jeder beliebigen Gelegenheit den Proletarier betonte) das wirklich gemeint. Hätte er nicht nur, wie es Stendhal tut, seine Leser als happy few bezeichnen können?

Schmidt  ist ein schriftstellerischer allrounder gewesen. Romane und literaturhistorische Studien (wie Fouque und Sitara) finden sich in seinem Werk wie Rundfunkfeatures, Essays und zeitkritische Miszellen. Aber ein Dichter, das war er wohl nicht. Natürlich kann man eine Passage aus dem Frühwerk Gadir so schreiben:

Goldmond brennt auf am Festungsturm 
in Märchenfernen reist ein Sturm zaust und zaubert
Ich trage Krüge weinbelaubt 
der Wein schwatzt innen laut Mond reitet an mit Söldnerstern 
das rasche Heer verbirgt sich gern 
hoch in Wolken
Die wilde Wolkeninsel steht 
mit Pässen, die kein Mensch begeht 
und schroffen Silberklippen Mond landet im Wacholdermeer 
die kleine Stadt schläft hell und leer hoch im Bergland
Ich steige leicht wie Wind empor 
zum Wolkenwald durch Wolkentor 
weiß nicht wie meine Spur verlor 
Ich wandre mit der Wolke.

dann sieht das Ganze aus wie ein Gedicht. Ist aber eigentlich ein sehr poetischer Prosatext. Und natürlich finden sich in seiner Prosa immer wieder verblüffende Bilder und hochpoetisch aufgeladene Passagen. Wie zum Beispiel Glasgelb lag der gesprungene Mond, es stieß mich auf, unten im violen Dunst (später immer noch). Das ist übrigens der Anfang von Brand's Haide, 1946 auf britischem Klopapier notiert. Ich habe mich höchstens in meinen verstiegenen jünglingsjahren für einen dichter gehalten; aber selbst, seitdem ich dies wusste, freute mich die entstehung solcher kleiner versgebilde noch immer, hat er einmal gesagt. Und darum stelle ich ein Jugendgedicht an den Schluss:

Der Mond steht blaß, ein Kupfergong
sehr hoch im Äther
auf gläsernen Stengeln
wiegen sich Tulpen
im Winde der Wiesen
durch die warme Abendluft
kommen Schritte
Mandolinenspiel im Dämmerschein.

Nun kehre ich ein
bei Kräutern und Riesen.

Auch wenn er sich in der Mitte der fünfziger Jahre von Rowohlt trennte, wusste er doch, dass er Rowohlt auch eine Menge verdankte. Denn der hatte auf ihn gesetzt, obgleich sich der Leviathan überhaupt nicht verkaufte. Und es gab ja auch nur wenige Kritiker, die wie Hermann Kasack sagten Arno Schmidt ist der kühnste Pionier der neuen deutschen Epik. Hans Egon Holthusen hetzte dagegen: Die Sache mit dem Genie überschreitet denn doch die Grenzen erlaubter reklametechnischer Übertreibung. Das ist nun zweimal Deutschland der Nachkriegszeit. Hermann Kasack, der für den S. Fischer Verlag (nachmalig Suhrkamp) arbeitete, der 1944 Das Birkenwäldchen schrieb, eine Erzählung des inneren ➱Widerstandes, geschrieben für Peter Suhrkamp im Gefängnis. Und auf der anderen Seite Holthusen, schon 1933 in die SS eingetreten war. Etwas wie Das Birkenwäldchen hätte er nie schreiben können. Aber er konnte 1940 schreiben: Der Sinn unseres Marsches war ein Jahrtausend alt. 'Nach Ostland wollen wir reiten', hatten die niederdeutschen Ordensritter und Siedler des ottonischen und stauffischen Mittelalters gesungen, und heute war es dasselbe Lied, das uns geleitete.

Holthusen hat 1951 (in einer Rezension der Romane Brand's Haide und Schwarze Spiegel) Arno Schmidt als einen Imitator von James Joyce bezeichnet: Schmidt ist ein Erbe, kein 'Avantgardist'; ein Nachfahre wie fast alle jüngeren Schriftsteller in Deutschland (und nicht nur in Deutschland), nur daß der Erblasser in diesem Falle nicht Rilke oder Eliot, Bert Brecht oder Valéry heißt, sondern Joyce. Schmidt hat innerhalb unserer jüngsten Literatur sozusagen eine empfindliche Lücke ausgefüllt: Die Joyce-Nachfolge war endlich fällig geworden. Und in der Tat: Das Druckbild ist dem des großen Iren täuschend ähnlich: sehr unruhig und sensationellakrobatische Interpunktion. Wie er sich räuspert und wie er spuckt, das hat er ihm also glücklich abgeguckt, aber darüber hinaus ergeben sich nur wenige Vergleichsmöglichkeiten. Und wenn das einmal irgendwo steht, dann wird es immer wieder nachgedruckt, dann glaubt man irgendwann sogar einem Nazi wie Holthusen. In der Adenauer Republik glaubte man ja eher alten Nazis als einem scharfsinnigen Chronisten und Kritiker der Gesellschaft wie Arno Schmidt. Doch als Schmidt in seiner typischen Art zu schreiben begann und für sich eine Form der Moderne erfand, kannte er das Werk von Joyce wahrscheinlich überhaupt nicht. Erst 1956 bekam er von seinem Verleger Ernst Krawehl eine englische und eine deutsche ➱Ausgabe des Ulysses geschenkt.

Es hat allerdings von Anfang an auch kluge Kritiker wie Kasack gegeben. So schreibt Walter Jens (der 1979 in der Zeit beklagte, dass das ZDF an dem Tag den Tod Arno Schmidt weder gemeldet noch kommentiert hatte) 1951 über Arno Schmidt: Ein toller Knabe. Zuerst denkt man: Blödsinn. Dann ärgert man sich. Ein Mann offenbar, der sich für ein Genie hält und sich so gebärdet. Man liest weiter. Man ist entzückt, man ist ergriffen. Dann kommen wieder Snobismen. Dann herrliche Bilder. Expressionismus mit drei Ausrufungszeichen. Und für Peter Rühmkorf war es 1956 Beglückend, dass ein hochexperimentelles Werk gleichzeitig von so zeitgenössischer Verbindlichkeit und eminent politischer und menschlicher Bedeutung sein kann. Die beiden Autoren repräsentierten nicht die Mehrheitsmeinung. Aber heute hat ihn beinahe jeder lieb, niemand würde heute mehr - wie bei der Publikation von Seelandschaft mit Pocahontas - ein Strafverfahren wegen Gotteslästerung und Verbreitung unzüchtiger Schriften eröffnen.

Die beste (und kürzeste) Übersicht über Leben und Werk, die das Internet zu bieten hat, finden Sie ➱hier. Und vom gleichen Autor sei noch der ➱Vortrag Ein Tablett voll glitzernder Snapshots: Vorüberlegungen zu einer Biographie Arno Schmidts empfohlen. Und nein, diese CD brauchen Sie nicht zu haben (ob ich die heute auflege, muss ich mir noch schwer überlegen). Aber den gesammelten Arno Schmidt mit dieser erstaunlich jungen und klaren Stimme, den könnte man schon kaufen. Und natürlich hören. Kostet bei Suhrkamp 98 Euro, gab es aber vor zwanzig Jahren unter dem Titel Arno Schmidt liest: Sämtliche Tonbandaufnahmen 1952 - 1964 bei Zweitausendeins viel billiger.

Falls Sie die sehr gute Dokumentation Arno Schmidt - "Mein Herz gehört dem Kopf" auf arte vor Tagen verpasst haben sollten, ➱hier hätte ich das für Sie noch einmal. ➱Otto Proksch kommt auch drin vor. Und am 20. Januar singt Götz Alsmann (der die gleiche Brille wie Schmidt trägt) im St. Pauli Theater die Schlager, die Arno Schmidt hasste. Auch das sollte erwähnt werden. Angekündigt wird die Veranstaltung unter dem Titel süß sog und sandete die Musik. Schmidt Kenner wissen natürlich, dass sich die Zeile in Brand's Haide findet: "Buli Bulan" oder sonst ein Verantwortungsloser sang sacharinen : "Fräulein Loni / ist mein Ideal / : denn sie kocht mir Jedesmal / : Mak- karoni ..... also gesendet im Bremer Werbefunk, süß sog und sandete die Musik.

1 Kommentar:

  1. Wirklich ein grossartiger Aufsatz über AS. Noch nie habe ich so viele Tatsachen und Hinweise auf einer Stelle gefunden. Ich frage mich, wie viele Stunden Sie da wohl dran gesessen haben.

    Ich lebe in Frankreich und stellte eines Tages zu meinem Erstaunen fest (Sendung von "France Culture), dass es auch hier fanatische Arno-Schmidt-Fans gibt, die ihn natürlich in französischer Übersetzung lesen.

    Daraufhin habe ich meiner Frau zum Geburtstag "Das Steinerne Herz" in französisch zum Geburtstag geschenkt. Das war ein Schuss nach hinten. Unleserlich und befremdlich. Sie ist nie über Seite 3 gekommen......

    Grüsse nach Deutschland an den Arno Schmidt Verehrer

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