Klippen, wir alle haben schon welche gesehen. Von den roten Klippen Helgolands bis zu den ➱White Cliffs of Dover oder zu den ➱Kreidefelsen von Rügen oder Moen. Wenn man jung und leichtsinnig ist, klettert man Klippen hoch. An die Felswand auf der Insel Bornholm möchte ich lieber nicht denken. Aber wir waren fünfzehn oder sechzehn, da denkt man nicht über die Tiefe nach. Ich will mich auch jetzt nicht in der Rückerinnerung in die Tiefe ziehen lassen, aber Klippen sollen es heute mal sein. Keine Ausflüge durch die Klippen in der Weltliteratur. Obwohl mir Stefan Georges Übersetzung von ➱Baudelaires L'albatros sofort in den Sinn kommt, wo Das schiff sich durch die schlimmen klippen zwängt. Sprechen Sie die Zeile doch einmal aus, bei diesen Klippen verknoten sich die Lippen. Wie elegant gleitet dagegen bei Baudelaire das Schiff da durch: Le navire glissant sur les gouffres amers. Wir lassen das einmal alles beiseite, und Sie lassen sich von mir nach Cornwall entführen. Dafür habe ich einen guten Grund, heute vor fünfundachtzig Jahren ist Thomas Hardy gestorben. Und ich hätte da eine ganze Anzahl von Klippen in seinem Werk anzubieten.
Ich könnte mit seinem Frühwerk, dem ➱Roman A Pair of Blue Eyes (ein Roman, den ➱Proust liebte), beginnen. Wo eine der Hauptpersonen an einer Klippe hängt. Und sein ganzes Leben im Zeitraffer vor ihm abläuft. Und er in letzter Minute gerettet wird (das englische Wort cliffhanger kommt wahrscheinlich von dieser Szene), natürlich von einer Frau. Und deren Petticoats. Ich lasse diese melodramatische Szene aber auch beiseite, weil ich sur les gouffres amers zu den Poems of 1912-13 hinsteuern möchte. Die voller Klippen sind. Manchmal schon im Titel, wie bei dem Gedicht Beeny Cliff:
O the opal and the sapphire of that wandering western sea,
And the woman riding high above with bright hair flapping free -
The woman whom I loved so, and who loyally loved me.
The pale mews plained below us, and the waves seemed far away
In a nether sky, engrossed in saying their ceaseless babbling say,
As we laughed light-heartedly aloft on that clear-sunned March day.
A little cloud then cloaked us, and there flew an irised rain,
And the Atlantic dyed its levels with a dull misfeatured stain,
And then the sun burst out again, and purples prinked the main.
Still in all its chasmal beauty bulks old Beeny to the sky,
And shall she and I not go there once again now March is nigh,
And the sweet things said in that March say anew there by and by?
What if still in chasmal beauty looms that wild weird western shore,
The woman now is-elsewhere-whom the ambling pony bore,
And nor knows nor cares for Beeny, and will laugh there nevermore.
Wird man sie je los, diese Träume? All die Bilder von Frauen, ob sie nun mit wehenden Haaren auf einem Pferd über die Klippen reiten (Hardy gebraucht das Bild in dem ➱Gedicht The Phantom Horsewoman ein zweites Mal) oder nur aus unserer Vergangenheit kommen - und all die sweet things said in that March? Das Gedicht Beeny Cliff ist wie andere aus dieses Zeit ein Gedicht von Hardy, in dem er sich seiner Vergangenheit stellt. Seine Frau, mit der er achtunddreißig Jahre verheiratet gewesen war, ist im Jahr zuvor gestorben. Sie hatten sich schon lange voneinander entfremdet und lebten nur noch nebeneinander her. Was das Gedicht The Going sehr schön beschreibt:
Why, then, latterly did we not speak,
Did we not think of those days long dead,
And ere your vanishing strive to seek
That time’s renewal? We might have said,
“In this bright spring weather
We’ll visit together
Those places that once we visited.”
Und doch ist ihr Tod für ihn ein traumatisches Ereignis gewesen, vor allem, nachdem er das Nozizbuch gefunden hatte, das What I Think Of My Husband beschriftet war. Ein Jahr nach ihrem Tod reist Hardy (begleitet von seinem Bruder) nach Cornwall und sucht all die Plätze auf, die dem jungen Paar einmal etwas bedeuteten. Er vermisst nicht seine Frau, er vermisst die Frau, die sie einmal gewesen ist. Da ist er Jay Gatsby ähnlich, der in The Great Gatsby ausruft Can’t repeat the past? Why of course you can! Die Reise Hardys nach Cornwall ist jetzt seine recherche du temps perdu. Vielleicht haben wir etwas Ähnliches alle schon einmal gemacht, jene Orte gesucht, wo wir einmal mit einem anderen glücklich waren. Nur um festzustellen, dass es besser gewesen wäre, Sören ➱Kierkegaards Die Wiederholung zu lesen.
Die Rückerinnerung an schönere Zeiten ist ja ein ewiges Thema der Liebesgedichte. Oder der Chansons. Unvergesslich in Jacques Préverts Les Feuilles Mortes:
Oh ! je voudrais tant que tu te souviennes
Des jours heureux où nous étions amis.
En ce temps-là la vie était plus belle,
Et le soleil plus brûlant qu'aujourd'hui.
Les feuilles mortes se ramassent à la pelle.
Tu vois, je n'ai pas oublié...
Les feuilles mortes se ramassent à la pelle,
Les souvenirs et les regrets aussi
Et le vent du nord les emporte
Dans la nuit froide de l'oubli.
Tu vois, je n'ai pas oublié
La chanson que tu me chantais.
Aber bei Liebenden, die keine Liebende mehr sind, hat dieses Suchen wie bei Hardys Reise nach Cornwall schon eine masochistische Komponente (Hardys Biograph Robert Gittings spricht von einem almost necrophiliac habit of loving the dead woman better than the living):
I look and see it there, shrinking, shrinking,
I look back at it amid the rain
For the very last time; for my sand is sinking,
And I shall traverse old love’s domain
Never again.
Die Elegien in den Poems of 1912-13 von Hardy zählen zu den schönsten Liebesgedichten in der englischen Literatur. Virginia Woolf nannte die Sammlung the most remarkable book to appear in my lifetime. Gedichte, die hemmungslos autobiographisch sind, es macht keinen Sinn mehr, hier von einem lyrischen Ich zu sprechen. Hier spricht der Dichter selbst. Es ist kein Zufall, dass die Gedichtsammlung mit veteris vestigia flammae überschrieben hat. Das sagt Dido in Vergils Aeneis. Aber wir wissen, wie das ausgeht. Der zweiundsiebzigjährige Dichter Thomas Hardy ist auf der Suche nach den Resten dieser Flamme. Und überall sind die Klippen von Cornwall, keine Frau mit Petticoats rettet ihn vor dem Absturz in die Erinnerung:
I come to interview a Voiceless ghost;
Whither, O whither will its whim now draw me?
Up the cliff, down, till I'm lonely, lost,
And the unseen waters' soliloquies awe me.
Where you will next be there's no knowing,
Facing round about me everywhere,
With your nut-coloured hair,
And gray eyes, and rose-flush coming and going.
I see what you are doing: you are leading me on
To the spots we knew when we haunted here together,
The waterfall, above which the mist-bow shone
At the then fair hour in the then fair weather,
And the cave just under, with a voice still so hollow
That it seems to call out to me from forty years ago,
When you were all aglow,
And not the thin ghost that I now frailly follow!
O, eine sterbende Liebe ist schöner, als eine werdende, sagt Leonce in Büchners Leonce und Lena. Ein Jahr nach seiner Reise nach Cornwall wird sich Hardy wieder verheiraten. Mit der neununddreißig Jahre jüngeren Florence Emily Dugdale, die schon im Jahr zuvor bei ihm eingezogen war. Sie hat die Gedichte auf Emma Hardy nicht gerne gelesen, aber sie wird bis zu seinem Tod bei ihm bleiben. Er hat auch einige Liebesgedichte für seine neue Frau geschrieben. Wie After a Visit, wo er davon spricht, dass er sie in all den Jahren, in denen sie seine Sekretärin war, kaum bemerkt hat. Ich weiß jetzt nicht, ob es das ist, was junge Frauen gerne hören wollen:
Through the dark corridors
Your walk was so soundless I did not know
Your form from a phantom's of long ago
Said to pass on the ancient floors,
Till you drew from the shade,
And I saw the large luminous living eyes
Regard me in fixed inquiring-wise
As those of a soul that weighed,
Allerdings muss man sagen, dass das Florence Emily Dugdale gewidmete Gedicht ursprünglich in den letzten Versen nicht And why we were there, and by whose strange laws That which mattered most could not be hieß. Sondern: And why we were there, and what sad strange laws Made us crave that which could not be! Was natürlich beweist, dass da schon zu den Lebzeiten von Emma Hardy eine Beziehung zwischen Hardy und Florence Dugdale war. Das wahrscheinlich erste Gedicht, das Hardy für Florence schrieb, heißt On the Departure Platform. Das stelle ich einmal an den Schluss:
We kissed at the barrier ; and passing through
She left me, and moment by moment got
Smaller and smaller, until to my view
She was but a spot ;
A wee white spot of muslin fluff
That down the diminishing platform bore
Through hustling crowds of gentle and rough
To the carriage door.
Under the lamplight’s fitful glowers,
Behind dark groups from far and near,
Whose interests were apart from ours,
She would disappear,
Then show again, till I ceased to see
That flexible form, that nebulous white ;
And she who was more than my life to me
Had vanished quite.
We have penned new plans since that fair fond day,
And in season she will appear again—
Perhaps in the same soft white array—
But never as then !
—‘And why, young man, must eternally fly
A joy you’ll repeat, if you love her well ?’
—O friend, nought happens twice thus ; why,
I cannot tell !
Es gibt in diesem Blog neben dem Post ➱Thomas Hardy sehr viel Hardy, wenn Sie das kleine Suchfeld oben links benutzen, werden Sie das sehen. Für biographisch interessierte Leser kann ich die Biographie von Claire Tomalin empfehlen, die sicherlich eine Bereicherung zu der Biographie von Robert Gittings ist. Und dann wäre da noch meine Empfehlung, die von Robert Burton gelesenen Hardy Gedichte zu hören. Die Aufnahme erschien zuerst 1958 bei dem Label Caedmon, später gab es sie auch als CD. Hören Sie doch einmal in ➱At Castle Boterel oder ➱The Voice hinein. Und ich will auch gerne das Rätsel auflösen, was das Photo da ganz oben - das sozuagen ein cliffhanger ist - bedeutet. Es gibt da in England eine Firma, die clifftop weddings in Cornwall anbietet. Für die ist dieser Post heute wahrscheinlich geschäftsschädigend.
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