Sonntag, 5. Juni 2022

ce n'est jamais fini

In dem Post Print on Demand hatte ich darüber geschrieben, wie ích mir bei einem Print on Demand Verlag ein kleines Buch gebastelt habe. Das Dutzend Exemplare von souvenirs et regrets war schnell an Freunde verschenkt. Es gab Kritik und Anregungen, viele der Beschenkten kannten die Frau, von der diese drei Schnappschüsse die Rückseite zierten. Ich nahm alle Kritik zur Kenntnis, aber ich befolgte erst einmal Montaignes Satz j'adjouste, mais je ne corrige pas. Kaum war das Ganze gedruckt, da überlegte ich mir, ob man das nicht noch besser machen könnte. Man hört ja nie auf zu schreiben, ich auf jeden Fall nicht. 

Es ist zu verlockend, etwas zu ergänzen. Das Desktop Publishing verführt dazu. Ich hatte die vier Geschichten von der schönen Buchhändlerin in den zusammengeschnipselten Roman eingefügt, und da sollten noch kleine Deails hinein, um der Heldin noch ein klein wenig mehr Eigenleben zu geben. Kleine Sätze wie: Sie hatte damals nicht nur den R4 behalten, sie hatte auch noch ein halbes Dutzend von seinen großen hellblauen Hemden. Als er ihr einmal nachts sagte, sie könne nicht immer nachts nackt in seiner Wohnung herumlaufen, hatte sie eins der Hemden angezogen. 'Das ist nun noch nackter als vorher', sagte er. Das fand sie auch, deshalb klaute sie ihm die Hemden und trug sie zuhause. Immer nackt.

Der Lektüre von Anna Karenina verdankte ich den Satz il ne faut jamais rien outrer, den ich meiner Buchhändlerin in den Mund legte. Immer, wenn ich mich ein wenig langweilte und nicht gerade das ebay das Angebot von italienischen Hemden durchforschte, holte ich das Manuskript aus der Ablage und schrieb ein bisschen darin herum. Der Text sollte nicht länger werden als achtzig bis neunzig Seiten, wenn etwas dazu kam, flog an anderer Stelle etwas heraus. Nun habe ich das überarbeitete Manuskript, was soll ich damit machen? Wieder liegenlassen? Wieder umschreiben? Ich stelle heute zum Pfingstfest einmal das neue Vorwort in den Blog und wünsche Ihnen ein frohes Pfingstfest. Was dann mit dem Text wird, wird man sehen, da lasse ich erstmal Doris Day Que sera, sera singen.

          deuxième édition

Ich hatte diese kleine Liebesgeschichte geschrieben, eine Geschichte, wie sie in meinem Blog Silvae im Internet immer wieder auftaucht, abgesehen davon, dass die Geschichte diesmal autobiographisch war. Ich suchte noch ein ganz bestimmtes Chanson, das ich dem Ganzen voranstellen wollte. Zeilen aus französischen Chansons waren schon durch den ganzen Text gelaufen, also Dinge wie Et maintenant que vais-je faire?Ne me quittez pasDis, quand reviendras-tu?Parlez-moi d'amour. Der Text wurde beim Schreiben immer länger, aber der Titel des gesuchten Chansons war mir immer noch nicht eingefallen. Ich wusste, worum es im dem Lied ging, das würde perfekt meinen Text abrunden. Alles, worüber ich schrieb, stand in diesem Chanson.

Auch wenn ich, wie Urs Widmer das so schön gesagt hat, ein Erinnerungselephant bin, der Kopf blieb leer. Ich machte mir keine Sorgen, ich schrieb nicht unter Zeitdruck. Irgendwann kommt alles wieder. Dann sah ich bei arte den wunderbaren Film Un dimanche à la campagne von Bertrand Tavernier. Den besitze ich zwar auf einer DVD, und die Romanvorlage Monsieur Ladmiral Va Bientot Mourir von Pierre Bost habe ich auch gelesen, aber ich schaute mir den Film noch einmal an. Weil ich den anrührenden Schluss sehen wollte, wo der alte Monsieur Ladmiral eine neue Leinwand auf die Staffelei stellt, und die Kamera durch die Balkontür in den Park hinausfährt. Und wir wissen, er wird jetzt dieses Bild malen, das er immer malen wollte. Oder sterben. Als die bezaubernde Sabine Azéma zum erstenmal im Film erschien, fragte ich mich, warum die eigentlich nie in einem Film von François Truffaut war. Und in dem Augenblick machte es in meinem Gehirn klick, und eine Stimme, die nur ich hören konnte, sagte: Baisers volés.

Das war es, ich hatte das Chanson gefunden. Am Anfang von Truffauts Film Baisers Volés wird es von Charles Trenet gesungen, der den Text auch geschrieben hat. Seine erste Aufnahme zu dem Lied, das Léo Chauliac komponiert hatte, stammt aus dem Jahre 1942. Chauliac begleitete Trenet damals bei seinen Auftritten am Klavier, und gemeinsam schrieben sie Trenets größten Erfolg La mer. Aus Trenets Chanson Que reste-t-il de nos amours brauchte ich nur den Refrain:

Que reste-t-il de nos amours
Que reste-t-il de ces beaux jours
Une photo, vieille photo
De ma jeunesse
Que reste-t-il des billets doux
Des mois d' avril, des rendez-vous
Un souvenir qui me poursuit
Sans cesse
Bonheur fané, cheveux au vent
Baisers volés, rêves mouvants
Que reste-t-il de tout cela
Dites-le-moi


Trenet genügten zwölf Zeilen, um nostalgisch das Liebesleid zu beschreiben. Ich brauchte für meine Liebesgeschichte über diese Frau, die ich Ingrid genannt hatte, viel mehr. Bevor die Geschichte in einem kleinen Print on Demand Verlag gedruckt wurde, schickte ich sie erst einmal an einige Testleser, das hatte ich immer so gemacht, old men forget. Als ich meine Autobiographie zu schreiben begann, hatte ich beschlossen, Freunde und Bekannte von Anfang an zu beteiligen. Und vielleicht auch ein wenig auszubeuten. Aber nur ein klein wenig. Hätte ich all das gesammelt, was sie mir schrieben (und häufig waren ihre Erinnerungen viel genauer und schöner als meine), hätte ich ein zweites Buch fertig. Mein Text hatte bei vielen einen mäeutischen Effekt, wie Peter das nannte. Viele meiner Testleser begannen, über ihr eigenes Leben nachzudenken und darüber zu schreiben, memory hold-the-door

Raymond Chandler hat das Wort cannibalizing dafür gebraucht, dass er aus älteren Geschichten neue Geschichten oder Romane machte. Und dieses cannibalizing wurde auch zu meiner Methode, ich bediente mich reichhaltig an dem, was ich in meiner erst einmal zur Seite gelegten Autobiographie Bremensien und in meinem Blog Silvae über die belle inconnue geschrieben hatten. Die Erzählungen über die schöne Buchhändlerin, eine Figur, die ich erfunden hatte, wanderten auch in den Text. Dort schrieb ich ein anderes Leben für sie. Irgendwie haben sie vielleicht etwas mit der Ingrid zu tun, ich habe das Gefühl, sie glaubt das.

Und dann kamen noch Briefe von ihr in den Text, da ich gerade beim Aufräumen all ihre Briefe in einer Kommodenschublade wiedergefunden hatte. Schöne Briefe, immer mit blauer Tinte auf grauem Papier geschrieben, sie hatte offenbar keine Schwierigkeiten mit dem Füllfederhalter. Ich komme damit nie zurecht, ich besitze mehrere Pelikan Füller, aber sie hassen mich, ob sie eine Goldfeder haben oder nicht. Ich tippte jetzt einzelne Briefstellen in das Ganze, die schöne Frau sollte ja auch zu Wort kommen. Einmal hat sie Goethe ins Französische übersetzt: Seul celui qui connaît la nostalgie, sait ce que j'endure. Solitaire et sevrée de toute joie. Je regarde le firmament De l'autre côté. Ah ! qui m'aime et me connaît, Est dans l'immensité. Sie schreibt einen ironischen Satz dazu, aber ich weiß, dass sie das mit der Einsamkeit und der Sehnsucht todernst meint.

Auch wenn Sie damals irgendwo in Frankreich war, wir sind uns nah. Sie schreibt immer wieder, mit Anreden wie Mon tendre ami und Mon Amour. Der kürzeste Brief, den ich von ihr bekomme, enthält nur zwei Sätze und den Teil eines Gedichts: Es ist so schwer, Dir zu sagen, daß ich Dich liebe. Ich habe es noch nie getan. Liebe muss rein in eine Liebesgeschichte, den Sex lassen wir mal aus. Dafür habe ich mein Kunstgeschöpf, die schöne Buchhändlerin. Die darf nackt unter der Dusche L'amour est un oiseau rebelle Que nul ne peut apprivoiser singen. Und andere Sachen machen, die Geschichten mit ihr sind noch nicht zuende, ich schreibe gerade wieder an einer. Man schreibt immer  an irgendwas. Warum nicht über Frauen?

Ein Freund sagte mir nach der Lektüre der ersten Version von souvenirs et regrets, es sei zwar glänzend geschrieben, aber es hätte eine sehr seltsame Form, und er vermisse die Seitenzahlen. Seitenzahlen hatte ich vergessen, ein Vorsatzblatt auch. Dafür entschuldige ich mich schon mal. Dies alles sind Schnipsel eines Lebensfilms, dessen Regisseur ich nicht war, ich füge nur die Filmschnipsel zusammen. Weil ich eben kein richtiger Romanautor bin, weil mir der epische Atem fehlt, das habe ich schon in romancier manqué gesagt, einem Post, der direkt in diesen Text gewandert ist. Aber vielleicht ist die schnipselige Struktur schon angebracht, sagt uns doch Montaigne: Wir sind alle aus Flicken zusammengesetzt und das so ungestalt und kunterbunt, dass jedes Stück jeden Augenblick ein eigenes Spiel treibt.

Jetzt bin ich am Überarbeiten, nur für mich und ein paar andere, die happy few. Und natürlich für sie, wieder zum Geburtstag. Oder zu Weihnachten. Ich bin noch nicht zufrieden mit dem Text, man ist nie zufrieden mit dem Text. Ich will auch unter hundert Seiten bleiben. Ich feile und poliere, aber schnipselig bleibt es immer noch. Noch kann ich Montaignes Satz J'ay faict ce que j'ay voulu: tout le monde me recognoist en mon livre, et mon livre en moy nicht unter das Ganze schreiben.

Aber ich habe ja noch Zeit, mich hetzt niemand, ihr Geburtstag ist noch in weiter Ferne, Weihnachten auch. Ich kann schreiben, streichen und umschreiben, soviel ich will. Das ist der Vorteil des Desktop Publishing. Wenn ich mit der Schreibmaschine schriebe, würde ich jetzt viel Tippex brauchen. Ich lasse meine Romanfigur Ingrid mit ihren Ballerinas über die schlammigen Feldwege in Zetel balancieren, in jenem nassen Frühjahr, als ich mich in sie verliebte und sie in der kleinen Kirche photographiert habe. Ich lasse sie in der Nacht am Meer Sternschnuppen zählen und auf das Meeresleuchten warten. Ich bin der Herr über den Text. Aber da ich, wie gesagt, kein richtiger Romanautor bin, erfinde ich kaum etwas, alles ist irgendwie wahr. Manchmal mache ich ein wenig von der poetic licence Gebrauch, die jedem Autor zusteht. Doch die schlammigen Feldwege hat es gegeben, die Sternschnuppen auch. Ich lasse allerdings vieles aus. Nicht alles im Leben ist schön, und die schöne Frau ist nicht immer lieb wie eine Katze (wie sie mal geschrieben hat). Es gibt in einem halben Jahrhundert mehr schlammige Feldwege als Sternschnuppen.

Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dieses kleine Buch zu machen. Aber der Georg, der uns allen Cricket beigebracht hat (was Ingrid überhaupt nicht gefiel: Gott, ist das langweilig, wir hätten lieber zum Strand fahren sollen), und der jeden Tag alle Tippfehler aus meinem Blog herauskorrigiert, hat mir gesagt, ich würde soviel über Frauen schreiben, damit könnte ich schon einen eigenen Blog füllen. Habe ich sofort getan, der neue Blog, in dem Malerinnen, Schriftstellerinnen und Schauspielerinnen versammelt sind, heißt femmes, ist eigentlich sehr schön, wird aber kaum gelesen. Georg hatte das allerdings gar nicht so gemeint, wie mir später klar wurde; er hatte gemeint, dass es für alle diese Posts über die Frau, die ich Ingrid genannt hatte, eigentlich einen Blog geben müsste. 

Wie immer sie wirklich heißt. Die Photos von ihr im Netz habe ich am Computer verändert, und vielleicht ist das, was ich schreibe, auch nur eine Adobe Photoshop Fälschung. Ist es wahr, dass die Vergangenheit nur das photographische Negativ ist, das in der Gegenwart entwickelt wird? Ich habe schon vor Jahrzehnten in meinem kleinen Photolabor im Keller gelernt, dass man mit Photographien viel machen kann. Dass man mit Wörtern viel machen kann, lernte ich beim Schreiben von Liebesbriefen. Was ich jetzt schreibe, ist auch une photo, vieille photo de ma jeunesse. Und ihrer jeunesse auch.

In dem Augenblick, als ich merkte, dass der Georg etwas ganz anderes gemeint hatte als den Blog femmes, rief mich mein Freund Yogi aus den USA an und sagte mir, er hätte da eine tolle Idee. Man könnte aus den vielen kleinen Ingrid Posts im Internet einen kleinen Roman machen, er würde den auch verlegen. Er hätte auch schon Ideen, wie der Roman anfangen sollte. Ich sagte, ich würde es mir überlegen. Ich hasse es, wenn andere für mich Ideen haben, auch wenn es gute Ideen sind. Ich schlief unruhig in der Nacht, aber ich hatte keine Albträume. Am nächsten Morgen guckte ich mir an, was ich in den letzten zehn Jahren über die Frau geschrieben hatte. Dann stopfte ich mir eine Pfeife und fing mit dem cannibalizing an. Und dann stellte ich die Strophe aus dem Chanson von Charles Trenet vor das Ganze. Denn alles, was ich schreiben wollte, steht schon hier. Es ist doch immer dieselbe Geschichte.
 

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