Das ist jetzt sechzig Jahre her, dass wir in Norddeutschland die große Sturmflut hatten, bei der es in Hamburg mehr als dreihundert Tote gab und ein Fünftel der Stadt unter Wasser stand. Lernen wir aus der Geschichte? Wir brauchen nicht auf die Erste und Zweite Marcellusflut und die Burchardiflut von 1634, die man auch die Zweite Mandränke genannt hat, zurückgehen, wenn wir über die Flutkatastrophe von 1962 reden. Die Hollandflut lag da erst neun Jahre zurück, und man hätte von dieser Katastrophe viel lernen können.
In Hamburg brechen in der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 die Elbdeiche an mehr als sechzig Stellen. Wilhelmsburg steht unter Wasser. Der Hamburger Innensenator Helmut Schmidt ruft Bundeswehr und Nato zu Hilfe. Das darf er eigentlich nicht, aber er wird später sagen: Wir haben uns nicht an Gesetz und Vorschriften gehalten, wir haben möglicherweise die Hamburger Verfassung verletzt, wir haben sicherlich am Grundgesetz vorbei operiert. Es war ein übergesetzlicher Notstand. Der übergesetzliche Notstand macht ihn zum Krisenmanager, macht ihn berühmt. Er wird in der Presse der Herr der Flut.
Operierte er wirklich am Grundgesetz vorbei? Historiker wie Helmut Stubbe da Luz haben darauf hingewiesen, dass es bereits seit 1958 eine Dienstvorschrift des Verteidigungsministeriums gab, die bestimmte, wie die Bundeswehr bei Katastrophen wie Sturmfluten einzusetzen sei. Und Schmidt war am Morgen des 17. Februar auch nicht der erste, der Hubschrauber anforderte und bekam, das hatte man in Bremen und an der Nordseeküste schon früher getan. Schmidt wird erst um 6:20 alarmiert, da sind schon alle Deiche gebrochen. Und schon viele haben Rettungsmaßnahmen eingeleitet und geholfen, ohne den Innensenator zu fragen. Schmidts Leistung besteht in der Organisation des Aufräumens, das gesteht Stubbe da Luz (der auch über Ascan Klée Gobert geschrieben hat) ihm zu: Die Katastrophe war ja nicht nach dem einen Tag vorbei. Helmut Schmidt hat entscheidend dazu beigetragen, das Chaos Stück für Stück in den Griff zu bekommen. Man darf nicht vergessen: Das war für die Stadt die größte Katastrophe seit dem Feuersturm von 1943. Mehr als 300 Tote! Da hat Schmidt einiges geleistet. Daran gilt es zu erinnern.
Vierzig Jahre später rettet das Elbhochwasser dem Kanzler Gerhard Schröder die Wahl. Im Gegensatz zu Schmidt tut er eigentlich nichts, er läuft nur im Gummistiefeln vor den Kameras rum. Man muss jetzt als Politiker wissen, wie man sich bei einem Hochwasser verhält. Wenn man wie Armin Laschet an der falschen Stelle lacht, verliert man die Wahl. Flutkatastrophen sind inzwischen beinahe zur Regel geworden. Jedes Jahr eine Jahrhundertflut, titelte der Spiegel 1997 nach dem Hochwasser an der Oder. Es ist traurig, aber wahr. Außer Donald Trump und der AfD wird wohl niemand mehr den Klimawandel leugnen wollen. Wenn Sie wissen wollen, wie es in Hamburg 1962 aussah: arte sendet morgen Abend die Dokumentation ✺Die große Flut von Hamburg 1962. Und der Wetterbericht sagt, dass es ab morgen wieder starke Stürme geben wird.
Ich stelle heute noch einmal etwas ein, das hier schon am 16. Februar vor zehn Jahren stand:
Vor fünfzig Jahren gab es in der Nacht vom 16. zum 17. Februar in Norddeutschland eine verheerende Flutkatastrophe, die hauptsächlich Hamburg betraf. Als damals junger 'Zeitzeuge' schlage ich dazu einmal einige Seiten aus meinen Jugenderinnerungen auf. Es klingt alles etwas despektierlich, aber ich war auch erst achtzehn.
Februar 1962, es ist kalt und windig. Na ja, eigentlich ist es schon ein Sturm, aber Bremer, die so etwas das ganze Jahr über gewöhnt sind, neigen bei Windstärke 9 oder 10 noch nicht zu Übertreibungen.. Ich sitze mit Charlie bei Konnie Krämer im Fährhaus am Utkiek. Die Kneipe hat der Konnie schon dichtgemacht, aber uns schenkt er noch ein Bier ein, geht aufs Haus. Konnie braucht uns noch. Die Weser ist beunruhigend hoch, das vom Sturm herein gedrückte Wasser fließt nicht ab. Eigentlich sollte jetzt Ebbe sein, aber die Weser ist schon auf der normalen Fluthöhe, Meter über dem Ebbepegel. Das Wasser wird auf 5,23 Meter über Normalnull steigen. Die Nacht ist blauschwarz, die Wolken fegen nur so dahin. In drei Tagen ist Vollmond, das ist bei dieser Wetterlage schlecht. Das hat jetzt nichts mit Deichromantik à la Schimmelreiter zu tun. Das bedeutet eine Springflut. Und dies ist kein Sturm mehr, dies ist schon ein Orkan. Wir schrauben zusammen mit Konnie die eisernen Platten vor die Kellerluken, dichten alles mit Säcken und gefettetem Tauwerk ab. Auch die Eingangstür, die einen Meter höher liegt.
Wir trinken noch ein Bier. Das kommt nicht bis hier, sagen wir, und klettern hinten durch ein Hoffenster aus dem Haus. Später in der Nacht will ich noch meinen üblichen Weserspaziergang mit dem Hund machen, da steht die Strandstraße schon unter Wasser. Das geschieht häufiger, das ist noch keine Gefahr. Wir alle wissen noch nicht, was in der Nacht noch kommt. Hamburg wird es schlimmer treffen als Bremen, dies sind die Stunden des Mythos von Helmut Schmidt, der seinen Bürgermeister Paul Nevermann entmachtet und mit dem Herbeiordern von NATO-Kräften gegen alles verstößt, was in der Verfassung steht. Aber vielleicht muss es dieser Mann in diesem Augenblick sein, das ✺Fernsehen wird ihn lieben. Überall an der Deutschen Bucht wird es kleine Helden geben, die im richtigen Moment das Richtige tun und größeren Schaden verhindern. Sie alle kommen nicht ins Fernsehen, nur Helmut Schmidt. Die Hochwasser von 1976, 1981 und 2007 werden höher sein als das von 1962. Und man wird diese Sturmfluten auch ohne Helmut Schmidt überstehen. Für die beteiligten Bundeswehrkräfte wird es 1962 einen Orden geben, der sogenannte Sandsackorden wird der erste Orden sein, den die junge Bundeswehr verleiht. In Bremen-Huchting wird es große Schäden geben, wir kommen in Vegesack mit Schrammen davon.
Am nächsten Morgen haben wir schulfrei, das kommt durchs Radio. Peter und ich fahren mit dem Bus nach St Magnus, um uns das Ausmaß der Überschwemmung anzusehen. Der Admiral Brommy Weg steht unter Wasser und die Lesumwiesen auch. Das ist bei jedem Hochwasser so, die Wiesen hinter den Deichen sind eigentlich Sollbruchstellen. Gefährlich wird das erst in der Zukunft, wenn man sinnlos an allen Nebenflüssen Sperrwerke einrichtet und den Fluß durch Vertiefungen noch weiter kanalisiert. Wir müssen den Flüssen ihren Raum lassen. Sie holen ihn sich sonst - mit schlimmen Folgen für die betroffenen Menschen - zurück, wird Helmut Kohl 1997 nach der Hochwasserkatastrophe an der Oder sagen.
In Grohn schippt Kapitän Janssen, dessen Haus am Lesumufer liegt, Wasser aus seinem Keller. Und die umstehenden Gaffer beschweren sich, dass sie dabei nass werden. Ich verdrücke mich mit Peter schnell, bevor Hein Janssen uns sieht, sonst sind wir auch noch mit Schippen dran. Wenn dies schon komisch ist, dann kann man das noch steigern. Als wir zur Strandstraße kommen, steht da schon unsere halbe Schule vor dem Haus des Direx neben dem Ruderverein. Den Direktor hatte die Polizei nachts noch aufgefordert, das schöne Haus zu verlassen, das der Architekt Ernst Becker-Sassenhof in den zwanziger Jahren gebaut hat. Aber er hat das nicht getan, er glaubte nicht daran, dass das Wasser noch steigen würde. Immerhin hat er vorsichtshalber die Abiturarbeiten mit nach oben in den ersten Stock genommen. Jetzt ist das ganze Lehrerkollegium damit beschäftigt, klitschnasse Teppiche und feuchte Sessel aus dem Erdgeschoss zu räumen und auf das Gelände des Rudervereins zu tragen. Schüler geben gute Ratschläge, vor allem jenen Lehrern, die zwei linke Hände haben. Davon gibt es mehrere. Kein Schüler fasst mit an. Irgendwie sind alle der Meinung, dass dieser Schaden auch eine Strafe für Dummheit ist. Konnie Krämer wird kein Weserwasser in Keller und Kneipe haben, jeder, der hier wohnt ist Hochwasserprofi, mit Ausnahme des Direktors des Gymnasiums. Ich verstehe es nicht, der Mann ist ein guter Anglist, pädagogisch versiert, ein erstklassiger Verwaltungsfachmann. Und dann so was. Ich vermute, dass es daran liegt, dass er Wagner Liebhaber ist, er soll sogar einmal im Jahr nach Bayreuth fahren. Wagner Liebhaber sind nicht von dieser Welt. Vielleicht hat er ja im Sturm den Fliegenden Holländer gehört.
Lesen Sie auch: Mordsee
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen