Dienstag, 21. Februar 2023

Vermeers 'Malkunst'

Es war das Schöne an den holländischen Museen in den fünfziger und frühen sechziger Jahren, dass sie noch nicht so voll waren (der Massentourismus hatte noch nicht eingesetzt). Und die Bilder waren noch nicht so exzessiv gereinigt, mit fiesem fetten Firnis überzogen oder hinter Glas. Als ich Rembrandts Nachtwache zum ersten Mal sah, konnte man noch ganz nah an die Leinwand heran. Vor wenigen Jahren lag die noch eingebuddelt in den Dünen von Heemskerk, erzählte der Museumsführer. Ich hörte in den fünfziger Jahren vor der Nachtwache einmal einen elegant gekleideten Herrn zu seinem Begleiter sagen: Das ist mir hier zu voll, lass uns nach Den Haag fahren und ins Mauritshuis gehen. Dabei waren da nur ein Dutzend Leute in dem Saal. Ich fand die Bemerkung damals sehr cool. Heute ist die Massenbetrachtung angesagt, die junge Frau auf dem Gemälde wirkt hilflos und verloren in der Menschenmenge. Die Vermeer Ausstellung im Rijksmuseum ist ausverkauft. 450 000 datierte Tickets wurden in den ersten drei Tagen verkauft, 200.000 davon waren lange vorbestellt.

Jan Vermeer wurde in Delft geboren, er ist auch in Delft gestorben. Seine berühmte Ansicht von Delft kennt jeder, man kann sie als Postkarte und als Plakat kaufen. Dies hier ist nicht Vermeers Bild, das Proust so begeisterte. Dies ist das Bild seines Kollegen Egbert van der Poel, der Delft nach dem Delfter Donnerschlag, der Explsion der Pulvermühle, malte. Damals war die halbe Stadt zerstört. Aber sechs Jahre später ist beinahe alles wieder aufgebaut, das können wir auf Vermeers Bild sehen. Das Mauritshuis kam vor drei Jahren auf die Idee, dass man jetzt ganz allein zehn Minuten lang das Bild betrachten kann. Das kann man in Amsterdam nicht, wohin man das Bild gerade ausgeliehen hat. Das von Jacob van Campen gebaute Mauritshuis besitzt die Ansicht von Delft und Das Mädchen mit dem Perlenohrring. Und sie haben diesen wunderbaren Distelfink von Carel Fabritius.

Carel Fabritius, einer der bedeutendsten Maler, den Holland je gehabt hat, starb bei der Explosion der Pulvermühle. Kurz vor seinem Tod hat er auch eine Ansicht von Delft gemalt, die ganz erstaunlich ist. Die Perspektive des Bildes mit dem Instrumentenhändler links im Vordergrund erinnert an Aufnahmen mit einem Weitwinkelobjektiv oder einem fisheye Objektiv. Man weiß, dass die Holländer damals Meister im Linsenschleifen gewesen sind. Manche, wie Spinoza, sind nebenbei noch Philosoph. Kunsthistoriker vermuten, dass viele holländische Veduten- und Landschaftsmaler im 17. Jahrhundert die camera obscura verwendet haben. Jan Vermeer wohl auch.

Jan Vermeer ist einer der bekanntesten und beliebtesten holländischen Maler, und dennoch wissen wir ziemlich wenig über ihn. Man ist sich nicht einmal sicher, wie viele Bilder er gemalt hat. Er hat sie selten signiert und nur einmal mit einem Datum versehen. Sind es zweiunddreißig?, Fünfunddreißig?, Siebenunddreißig? Achtundzwanzig Bilder werden jetzt in Amsterdam gezeigt, die größte Vermeer Show aller Zeiten. Vor einigen Jahren hat ein Amerikaner namens Benjamin Binstock in seinem Buch Vermeer's Family Secrets die These aufgestellt, dass ein großer Teil seines Werkes von seiner Tochter gemalt sei. Wenn dem so ist, dann konnte sie besser malen als der Vermeer Fälscher Han van Meegeren, der sogar Hermann Göring einen gefälschten Vermeer andrehte. Immer wieder hat die stille Kunst Vermeers Dichter und Schriftsteller herausgefordert: Proust, der ihn in Die Suche nach der verlorenen Zeit hineinschrieb, ist vielleicht der berühmteste. John Updike hat in einem Gedicht Vermeer mit Edward Hopper verglichen. Zu diesem Bild eines unbekannten Mädchens mit einem Perlenohrring, das 1881 in einer Auktion für zwei Gulden verkauft wurde, gibt es inzwischen sogar einen Film, dessen Handlung aber nicht mit dem wirklichen Leben Vermeers verwechselt werden sollte.

Der Glatzkopf rechts scheint das Mädchen mit dem Perlenohring küssen zu wollen. In Wirklichkeit klebt er am Glas des Bildes fest, er ist ein sogenannter Klimaaktivist. Sein Kollege hatte ihm eine Dose mit einer roten Flüssigkeit über den Kopf geschüttet. Sie werden festgenommen und zu einer Haftstrafe von zwei Monaten verurteilt. Warum nicht zu zwei Jahren? Das Gemälde wurde bei dieser Aktion glücklicherweise nicht beschädigt.

'Der Maler in seinem Atelier' in Wien. Wie gern hätte ich dieses Bild gesehen! Das ist wie Athen: Mein ganzes Leben habe ich davon geträumt, dorthin zu gehen, schwärmte Auguste Renoir über dieses allegorische Bild Vermeers. Das Bild ist etwas komplexer als Eduard Daeges Bild von der Entstehung der Malerei. Wenn Sie alles darüber wissen wollen, kann ich nur den kleinen Band Jan Vermeer Die Malkunst: Aspekte eines Berufsbilds von Hermann Ulrich Asemissen empfehlen. Erschienen in der Fischer Reihe Kunststück, die ganz vorzüglich ist. 1961 erschien bei DuMont Kurt Badts 'Modell und Maler' von Jan Vermeer: Probleme der Interpretation; eine Streitschrift gegen Hans Sedlmayr. Es ist vielleicht weniger ein Buch über die kunsthistorische Interpretation von Vermeer als eine Auseinandersetzung eines jüdischen Migranten mit einem NSDAP Mitglied. Badts Buch über John Constables Wolken verkaufte sich kaum. Das Geschwafel in Hans Sedlmayrs Verlust der Mitte war in der Adenauer-Republik ein Bestseller.

Das Bild hatte sich bis zum Tode Vermeers in seinem Besitz befunden. Wie viele Bilder anderer Maler, mit denen Vermeer ziemlich erfolglos zu handeln versuchte. Man weiß nicht, ob er es als Schaustück behalten hat, oder ob er es nicht verkaufen konnte. Das Bild wird in einer Auflistung seiner Frau Catharina Bolnes als een stuck schilderie ... waerin wert uytgeheelt de Schilderkonst bezeichnet. Die behauptet zwar, dass ihr das Bild nicht gehöre, weil sie es an die Schwiegermutter des Malers Maria Thins verkauft habe, aber auf solche Schutzbehauptungen lässt sich der Nachlassverwalter und Freund Vermeers, der berühmte Antoni van Leuwenhoeck, nicht ein. Der Vermeer wird verkauft. Er ist auch bald kein Vermeer mehr, weil den niemand mehr kennt - und weil niemand Geld für einen Vermeer bezahlt. Das Bild wird zu einem Pieter de Hooch umfrisiert. Bekommt auch eine schöne neue Signatur. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird es als Vermeer erkannt und anerkannt. Zwanzig Jahre nachdem der Direktor der Berliner Galerie Gustav Friedrich von Waagen das Bild als echten Vermeer identifiziert hatte, wird übrigens das Bild von dem Mädchen mit dem Perlenohrring bei einer Auktion in Holland für zwei Gulden verkauft. Vermeer hat noch keine Konjunktur.
Der Maler (vielleicht ist es sogar Vermeer selbst, die Forschung ist sich da nicht einig) malt ein Modell, das eine Muse darstellen soll. Es soll Klio sein, die Muse der Heldendichtung und der Geschichtsschreibung, wir können das aus den Attributen folgern, mit denen das Modell kostümiert wurde: eine Trompete, ein Buch (ein konventionelles Symbol der Weisheit, auf dem in manchen Abbildungen noch Thukydides steht) und ein Lorbeerkranz. Mit dem Lorbeerkranz fängt der Maler an, wenn wir ihm über die Schulter schauen. Das Immergrün symbolisiert das Fortbestehen der Kunst. Was bleibet aber, stiften die Dichter, heißt es bei Hölderlin. Und natürlich ist Klio auch für die Dichtung verantwortlich, aber die Maler (meistens Männer, selten Frauen) stiften auch Bleibendes, vita brevis, ars longa.

Als Waagen - gleichzeitig mit Théophile Thoré - 1860 das Bild identifiziert, ist es das Prunkstück der Sammlung des böhmischen Grafen Johann Rudolf Chernin von und zu Chudenitz (1757-1845), der kurz vor seinem Tod in seinem Wiener Palast eine eindrucksvolle Gemäldegalerie eingerichtet hatte. Die sogar, wenn auch in begrenztem Maße, der Öffentlichkeit zugänglich war. Czernin hatte den angeblichen de Hooch 1813 aus der Sammlung des Baron Gottfried van Swieten (ja, das ist der Förderer von Mozart, Haydn und Beethoven) gekauft, es kann sein, dass das Bild schon zuvor dessen Vater Gerard gehört hatte. Bezahlt hatte Czernin damals fünfzig Gulden. Nach dem Tod des ehemaligen Außenministers Ottokar Graf Czernin (1857–1932) gehen die Erben an das Zerstückeln der Sammlung.

Die beiden Haupterben Eugen Czernin (1892–1955) und sein Neffe Jaromir Czernin (1908–1966) einigen sich 1933 bei der Verteilung der Latifundien in der Tschechoslowakei und in Österreich und bei der Aufteilung des Kunstbesitzes. Der Vermeer wird mittlerweile auf eine Million Schilling geschätzt, der gesamte Rest der Sammlung (hervorragende Bilder von Tizian und Dürer eingeschlossen) auf nicht einmal ein Viertel dieser Summe. Jaromir Czernin erbt vier Fünftel des Vermeers, er möchte ihn sofort verkaufen. Angeblich hat er ein Angebot von einer Million Golddollar von Andrew W. Mellon. Wenn da nur dieses Ausfuhrverbot für Kunstwerke nicht wäre, dass es seit 1923 gibt! Aber als Kurt Schuschnigg durch seine zweite Ehe sein Schwager wird, hat Czernin die Hoffnung, dass der das Ausfuhrverbot kippen könnte. Doch kurze Zeit später marschieren die Nazis ein, und Schusschnigg ist Gefangener der Gestapo. 

Nun kommt Hermann Göring, ein bekannter Kunstfreund ins Spiel, auf diesem Bild sichert gerade ein amerikanischer Soldat Görings Sammlung. Der Reichsjägermeister hatte 1939 dem Hamburger Unternehmer Philipp Reemtsma die Genehmigung erteilt, das Bild von dem österreichischen Grafen Jaromir Czernin zu kaufen und hatte telegraphisch das Ausfuhrverbot für das Kunstwerk aufgehoben. Göring und Reemtsma kannten sich gut, sie waren ständig geschäftlich miteinander verbandelt. Nach dem Krieg wurde  Reemtsma wegen Bestechung und Anstiftung zur Rechtsbeugung der Prozess gemacht, mehr als sieben Millionen Reichsmark soll er an seinen Fliegerkameraden Göring gezahlt haben. Aus dem Verkauf des Bildes an Reemtsma ist nichts geworden, Hitlers Reichskanzlei meldete Vorbehalte an. Glücklicherweise meldet sich just in diesem Moment, in dem die Verkaufsverhandlungen mit Philipp Reemtsma gescheitert sind, ein uneigennütziger österreichischer Landsmann, der bereit ist, mehr als anderthalb Millionen Reichsmark für das Bild zu bezahlen. Und auch noch die Steuern in Höhe von 500.000 Mark zu tragen.

Sie ahnen schon, wer dieser österreichische Kunstfreund ist. Ich bitte, meinen aufrichtigsten Dank entgegennehmen zu wollen. Mit dem Wunsche, das Bild möge Ihnen, mein Führer, stets Freude bereiten, schrieb Graf Czernin 1940 an den neuen Besitzer. Na ja, so lange währt die Freude von dem gescheiterten Kunstmaler an dem Bild von der Malkunst nicht, das die Nummer 1096 in der Führersammlung hatte. Im Herbst 1945 stellt Graf Czernin seinen ersten Antrag auf Restitution, er sei zu dem Verkauf zu einem viel zu niedrigen Preis gezwungen worden. Im Januar 1946 wird dieser Antrag zurückgewiesen, auch zwei weitere Versuche von Czernin, das Bild zurückzubekommen (oder mehr Geld zu bekommen), scheitern. 2009 werden seine Erben noch einmal einen Versuch machen, sich als Opfer des Nationalsozialismus darzustellen, aber es wird - trotz eines international großen Echos - nichts bringen. Das Bild bleibt im Besitz Österreichs. Seit 1952 ist es im Kunsthistorischen Museum in Wien ausgestellt. Eugen Czernin hat wahrscheinlich völlig unspektakulär das bessere Geschäft gemacht, er hat Anfang der fünfziger Jahre den geerbten Dürer, den Tizian und einen anonymen holländischen Meister an die Sammlung Samuel H. Kress verkauft.

Die junge Dame im Hintergrund von Vermeers Bild lächelt seit Jahrhunderten stillvergnügt vor sich hin (nun gut: auf diesen beiden postmodernen Werken von Sophie Matisse und Gerhard Gutruf lächelt sie nicht, weil sie gar nicht im Bild ist). Der Trubel, der durch die Betrachter vor dem Bild ist, stört sie nicht. Was würde Vermeer zu diesen Bildern einer Wiener Ausstellung sagen? Wahrscheinlich ist es in Amsterdam noch voller. Die Landkarte von Holland hinten an der Wand ist inzwischen veraltet. Für die Invasion Hollands konnte Hitler sie nicht gebrauchen. Beeinflusst es unsere Sicht des Bildes, wenn wir daran denken, dass es einmal Adolf Hitler gehört hat? Warum wollte er unbedingt dies Bild haben? Für kein Kunstwerk hat der verhinderte Kunstmaler Hitler mehr gezahlt, als für diesen Vermeer. Wo immer das Geld herkam. Den nächsten Vermeer in seiner Sammlung, De astronoom, hat er nicht bezahlt, den hat er in Paris einfach klauen lassen. Aber der Baron de Rothschild, dem er gehörte, hat ihn nach dem Krieg zurückerhalten. Viele enteignete Besitzer von Kunstwerken haben nicht dieses Glück.

Wahrscheinlich spielen künstlerische Erwägungen bei dem Banausen Hitler keine Rolle; es ging ihm nur den finanziellen Wert des Bildes von der Malkunst, denn wie schon Martin Borman wusste: An sich hat dieses beste Bild des Vermeer einen internationalen Wert, der weit über den bewilligten Preis hinausgeht. Es geht wie bei vielen Kunstverkäufen um Geld, nicht um den Kunstgenuss.. Kriege kommen und vergehen, was bleibt, sind einzig die Werke der Kultur. Daher meine Liebe zur Kunst, Musik und Architektur! dieser Satz ist von Hitler, der davon träumte, als großer Kunstsammler in die Geschichte einzugehen. Hier sichern amerikanische Soldaten der MFAA 1945 Hitlers Bild in einem Bergwerksstollen im österreichischen Altaussee. 

Im Rijksmuseum von Amsterdam ist keine Maskenpflicht, wir denken nicht mehr an Corona. Aber die Epidemie wurde der Dresdner Vermeer Ausstellung vor zwei Jahren zum Verhängnis. Hier eröffnet Angela Merkel mit dem holländischen Ministerpräsidenten mit monatelanger Verschiebung noch die Ausstellung, wenig später war das Museum zu. Den Katalog Johannes Vermeer: Vom Innehalten, den mir die Astrid geschenkt hat, kann man antiquarisch noch preiswert finden. Aber die Gemäldegalerie Alte Meister der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden hat das Beste aus der Situation gemacht und digitale Angebote und einen ganz großartigen Webleporello ins Netz gestellt. In Dresden ging es nicht um alle Bilder Vermeers, es ging nur um ein Bild: Das frischrestaurierte Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster wurde hier in Beziehung zu neun anderen Werken Vermeers (und fünfzig Werken der holländischen Genremalerei des Goldenen Zeitalters) gesetzt. Es war die bisher größte Vermeer Ausstellung in Deutschland. Aber leider lange ohne Zuschauer. 

Sie, lieber Leser, fahren nicht nach Amsterdam, weil Sie keine Karte bekommen haben. Sie arbeiten sich jetzt durch den Dresdner Webleporello. Und wenn der ganze Rummel im Amsterdam vorbei ist, dann fragen Sie mal im Mauritshuis an, ob es noch die zehn Minuten Einsamkeit für die Ansicht von Delft gibt.

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