Sonntag, 27. August 2017

Jake, aka Bierwisch


Linguisten an der Uni sind nicht so mein Ding. Also, diese Sorte Wissenschaftler, über die Hans Wollschläger einmal sagte: Den Linguisten wird es eines Tages gelingen, den gesamten Weltlauf auf die einfache Formel 'Karlchen fährt Roller' zu reduzieren. In dem Post Hugo von Montfort erwähne ich eine pädagogisch und didaktisch völlig unfähige Flachpfeife, die jeden Sonnabendvormittag (!) an der Uni Hamburg dreihundert Leute in Gotisch unterrichtete. Und der Spagatprofessor, der seine Studenten per E-Mail betreut, ist natürlich auch Linguist. Geht nicht anders. Die Linguistin Gesine Lötzsch hat in diesem Blog schon einige gehässige Zeilen bekommen. Ich höre gleich mit dem Beschimpfen der Linguisten auf, muss aber noch eine kleine Geschichte einfügen.

Ich hatte etwas mit einer frischgebackenen Linguistikprofessorin zu besprechen, als die von einer Sekretärin aus dem Zimmer geholt wurde. Ich betrachtete die Schrankwand mit den Büchern. Die Schrankwand war nagelneu. Die da vorher stand, war anderthalb Jahre alt gewesen, so etwas war einer neuen Professorin natürlich nicht zuzumuten. Was da für Steuergelder für unsinniges Zeug bei Berufungsverhandlungen aus dem Fenster geworfen werden, das geht auf keine Kuhhaut. Ich betrachtete also die Schrankwand. Alle Bücher sahen nagelneu aus und waren offensichtlich mit dem Lineal ausgerichtet worden, bei mir sehen die Bücherregale ganz anders aus. Ich entdeckte in einem der aseptischen Regale Steven Pinker (den ich in dem Post awesome erwähnt habe) und zupfte sein Buch The Language Instinct vorsichtig aus dem Regal. Und sagte dann zu der zurückkehrenden Kollegin: Das ist doch mal ein nettes Buch. Sie blickte mich voller Verachtung an und sagte: Das ist nicht meine Art der Linguistik. Und da dachte ich mir: Guck mal, Baby, deshalb ist Steven Pinker auch in Harvard, und Du bist hier in der Provinz.

Soviel zu den Linguisten. Es gibt natürlich auch welche, die ich mit Respekt betrachte: Noam Chomsky zum Beispiel, obgleich der an der modernen Linguistik schuld ist. Aber seine politische Haltung ist zu bewundern. Oder ▹Jack Chambers, der neben der Linguistik noch ▹Jazzkritiker ist. Ich sage auch kein böses Wort über Henning Wode, das können Sie dem Post ▹Fußballmannschaft entnehmen. Bevor es Linguisten gab, gab es Sprachwissenschaftler. Das waren nicht die modischen Hallodris der deskriptiven Linguistik, die kein ▹Altenglisch oder Mittelenglisch mehr konnten, das waren seriöse Wissenschaftler. Und über einen von denen möchte ich heute ein paar Zeilen schreiben. Er heißt ▹Manfred Bierwisch (Bild), und er bekam in der vorletzten Woche einige kleinere Schlagzeilen in den Feuilletons der Zeitungen.

Weil er der Universität Rostock einen Berg von Briefen, beinahe anderthalb Tausend, geschenkt hat. Nun nimmt natürlich nicht jede Universität Briefe von jedermann an, aber Manfred Bierwisch ist nicht jedermann. Er war wahrscheinlich der berühmteste Sprachwissenschaftler der DDR. Claudia Schmölders hat ihn als einen Meister der deutschen Linguistik bezeichnet, sie hätte besser Sprachwissenschaft statt Linguistik gesagt. Hier ist Manfred Bierwisch (links) zusammen mit dem Professor Holger Helbig zu sehen, der in Rostock eine Professur hat, die den Namen von Uwe Johnson trägt. Und es ist die Korrespondenz mit seinem Freund Uwe Johnson, die Bierwisch der Universität übergeben hat. Johnson kannte seinen Freund, wie er in einem Interview sagte, nur als Jake: Gelegentlich hören wir, wie seine Eltern ihn mit Manfred anreden, aber wenn sie mit uns über ihn reden, benutzen sie seinen wirklichen Namen: Jake. Das ist der einzige Name, den ich für ihn von Anfang an und seitdem für immer hatte.

Ich kenne den Namen Manfred Bierwisch seit einem halben Jahrhundert. Damals machte sein Aufsatz Strukturalismus, Geschichte, Probleme und Methoden im Kursbuch 5 Furore. Jeder Anglistikstudent kaufte sich das Kursbuch 5, nur wegen des Aufsatzes eines ostdeutschen Sprachwissenschaftlers. In einem Workshop anläßlich der ▹Ehrenpromotion von Bierwisch sagte sein Kollege Günther Öhlschläger: Der 1966 erschienene Aufsatz „Strukturalismus. Geschichte, Probleme und Methoden“ ist sicherlich einer der am meisten gelesenen, am häufigsten wieder abgedruckten und einflussreichsten Arbeiten Manfred Bierwischs – vielleicht, ja wahrscheinlich sogar die einflussreichste überhaupt. Dieser Aufsatz hatte in der Tat eine solche Wirkung, dass es gerechtfertigt ist, ihn als markanten Einschnitt in der Geschichte der Sprachwissenschaft in Deutschland zu sehen – deshalb habe ich auch den Titel meines Vortrags so gewählt, wie ich ihn gewählt habe.

Im Hintergrund schrieb damals noch jemand an dem Artikel im Kursbuch mit, sozusagen eine Art Ghostwriter (deshalb habe ich dieses von Lutz Friedler verfremdete Johnson Portrait genommen), nämlich Bierwischs Freund Uwe Johnson: 1965 schrieb ich einen Essay für das Strukturalismus-Heft des Kursbuchs 5, das Enzensberger damals herausgab. Johnson hatte Enzensberger bei einem seiner Besuche zu mir nach Berlin-Lichtenberg mitgebracht, und wir haben uns mit unglaublicher Leichtigkeit verstanden: Ich ahnte, was er suchte für das Heft, und er verstand, was ich dazu zu sagen hatte, kaum daß ich es angedeutet hatte. Ich schrieb also diesen Artikel, und weil dies kein Fachjournal war, habe ich den Text Abschnitt für Abschnitt mit Johnson durchgesprochen. Die Geduld, die er mir wegen der nötigen Erläuterungen nachgesagt hat, gilt umgekehrt nicht weniger. Es war eine faszinierend-anstrengende Übung, der Artikel hat sehr davon profitiert. Daß er vielleicht nicht zuletzt darum dann ein Lehrtext für eine ganze Generation westdeutscher Linguistikstudenten geworden ist, ist eine andere, merkwürdige Geschichte. Kursbuch 5 war über mehrere Jahre der obligate Grundkurstext, nicht nur für Linguisten.

Dieses Hin- und Herverstehen zwischen Ost und West war schon eine kleine kulturelle Sensation. Kulturell ging ja nicht so viel zwischen den beiden Deutschlands, obgleich Wollschlägers Ulysses Übersetzung auch in der DDR erschien. Mein Onkel Karl war seinem Lehrer Gustav Seitz in die DDR gefolgt. Seitz konnte nach Hamburg zurück, als er keine Lust mehr auf die DDR hatte. Karl kriegte eine Professur, kam aber nicht mehr aus der DDR heraus. Der Anglist Robert Weimann war im Westen hoch angesehen, der durfte sogar eine Gastprofessur in den USA annehmen. Manche Musiker, Sänger und Dirigenten konnten hin- und herpendeln. Man konnte Peter Schreier auch im Westen hören, Walter Felsenstein konnte nach West-Berlin fahren, wann immer er wollte. Wo ich den gerade erwähne, muss ich mal eben sagen, dass ich die viel gerühmte Inszenierung von Das schlaue Füchslein damals gesehen habe. Ich hatte mein DDR Geld natürlich nicht 1:1 getauscht und saß deshalb ganz vorne. Um mich herum nur Parteibonzen mit Orden am schwarzen Anzug. Und englische Leutnants in Paradeuniform, die ihren Mädels mal ein bisschen DDR Kultur gönnen wollten. Ich fand die Tiere auf der Bühne in ihren billigen DDR Trikotagen total bescheuert, da gefielen mir die Bonzen und die Leutnants besser.

Vielleicht stellt man Manfred Bierwisch am besten durch ein kleines Gedicht vor, das der Amerikaner John Robert Ross geschrieben hat. Es hat den Titel Besuch und den Untertitel für Manfred Bierwisch:

Über Kopfsteinpflaster
drei Treppen rauf
angeklopft, Tür aufgerissen
Mensch! Kommt rein!

Mantel ab
Wein in den Kühlschrank
Beim Ofen sitzen 

Bach, Vivaldi,
Zeitungen, zig Aufsätze, lockende Bücher offen –
kein Tisch leer
Tannenbaumgerade
waschecht
grüne Augen, die beim Nachdenken
zur Seite gleiten 

Logik klar wie ein Bergbach
weiß, wo der Teufel steckt,
Der M. C. Escher der Linguistik. 

Geplauder beginnt
Wie geht’s der, und dem?
Sag bloß – schon wieder?

Kaffee und Schnecken
Witze und Lullen
Herz unendlich.

Zum Sachverhalt!
Sätze, Sätze,
ambig, monog

Theorien stark
Empirik schwach.
Erste Klaxidee
Gelächter höhnisch
schneller Rücktritt.

DANN: Beispielblitzen. 
Donnerwetter! Scheen!!
Das hieße denn,
man müßte gucken ob . . . 

Nee. Klappt nich.
Scheitert im russischen. Mist!
Schade drum. 
Moment! Warte man!
Wie wär’s denn,
wenn zweimal eingebettet? 

Käsebrot und Schinken.
Gespräch biegt ab
Tschechischer Rotwein
Brecht – im Kino? 
Hast schon gesehen?

Zusammen“arbeit”
nennt sich das. Quatsch.
Pures Freunde sein.
Reinste Fühlenschaft. 

Zaghaft kommt die Zeit zurück,
draußen lauert Abend.
Machema Schluß. 

Bis zum nächsten! Alles Gute!
Grüß die Familie! 

Es ist ein schönes, warmes Gedicht. Da merkt man gleich, dass der Bedichtete ein ganz anderer ist als die Luschen von Linguisten, die ich am Anfang zitierte. Die mit 'Karlchen fährt Roller'. Die Freundschaft von Manfred Bierwisch und Uwe Johnson ist in einem Interview dokumentiert, das unter dem Titel FünfundzwanzigJahre mit Ossian ins Johnson Jahrbuch gewandert ist. Es lohnt sich unbedingt, das zu lesen. Es lohnt sich auch immer Manfred Bierwisch zu lesen, ich könnte da Bedeuten die Grenzen meiner Sprache die Grenzen meiner Welt? empfehlen. Was nicht auf diesem Buch aus Reclams Universal Bibliothek steht, sind die Namen von Uwe Johnson und Manfred Bierwisch, die den mittelhochdeutschen Text in modernes Deutsch gebracht haben. Peter Wapnewski, der grand old man der deutschen Mediävistik, fand das damals in seiner ▹Rezension sensationell.

Da ich dabei bin, Dinge zu empfehlen, deren Lektüre sich unbedingt lohnt, muss ich Manfred Bierwischs Gattin erwähnen, die unter dem Namen Judith Macheiner so schöne Dinge wie Das grammatische Varieté oder Die Kunst und das Vergnügen, deutsche Sätze zu bilden oder Übersetzen - Ein Vademecum geschrieben hat. Englische Grüße oder Über die Leichtigkeit, mit der man eine fremde Sprache erlernen kann nicht zu vergessen. Früher habe ich diese Bücher meinen Studenten empfohlen, heute kann ich sie meinen Lesern empfehlen. Judith Macheiner, die eigentlich Monika Doherty-Bierwisch heißt, war Professorin für Übersetzungswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ich glaube, ▹Fritz Güttinger hätte sich mit ihr sehr gut verstanden.

Uwe Johnson hat seinen Freund in Twenty five years with Jake, a.k.a. Bierwisch hineingeschrieben, ist in deutscher Übersetzung als Fünfundzwanzig Jahre mit Jake, auch unter dem Namen Bierwisch bekannt in dem Band ▹'Wo ich her bin...' Uwe Johnson in der D.D.R. erschienen:

Dieses rundum geglückte Buch, überquellend von neuen Nachrichten zu Leben und Werk des in seiner Bedeutung für die Literatur des Jahrhunderts noch kaum erkannten, von der lesenden Öffentlichkeit noch gar nicht gewürdigten Erzählers, enthält einen in seiner Kuriosität schon ungeheuerlichen Beitrag: einen deutschen Text von Uwe Johnson, den Johnson so gar nicht geschrieben hat. Die siebzehn Seiten, erweitert um die doppelte Zahl dreier Beiträge mit Erklärungen und Erinnerungen, sind, auf traurige Art, bewegendes Herzstück des Bandes. Der gerade in Augenblicken gerührter Erregung eher wortkarg-spröde, norddeutsche Johnson schreibt einen vor Zuneigung vibrierenden Geburtstagsgruß - in feinstem Englisch - für einen Freund aus gemeinsamen Studentenzeiten in Leipzig (Manfred Bierwisch) - und darüber geht die Freundschaft zu Bruch. Jetzt können wir diesen Glückwunsch zum ersten Mal in deutscher Sprache lesen.

Die Hommage an Jake ist der Beginn einer Tragödie, das Ende einer Freundschaft. Bierwisch, der schon zehn Monate in einem Zuchthaus der DDR verbracht hatte, bittet darum, den Beitrag von Johnson für eine Festschrift nicht abzudrucken. Ist es in der Tat der Maßen unbequem für einen Bürger der DDR, seinen Namen im Druck in der Nähe des meinen zu wissen, oder ist dies Geburtstagskind ängstlicher als vernünftig? fragt Johnson. Er ist tödlich beleidigt, ein Sensibelchen wie die Prinzessin auf der Erbse. Bierwisch wird Johnson noch einmal 1982 bei der Beerdigung seiner Mutter sehen, unversöhnlich sei er gewesen.

Johnson hätte mal Philip Larkin lesen sollen, der in seinem Gedicht The Mower schrieb:

The first day after a death, the new absence
Is always the same; we should be careful
Of each other, we should be kind
While there is still time.


Aber das we should be careful Of each other, we should be kind While there is still time, das geht nicht in den sturen MeckPomm Schädel von Johnson hinein.

Uwe Johnson ist in diesem Blog schon mehrfach genannt worden, unter anderem in dem Post Lederjacken. Als ich jung war, habe ich den von mir bewunderten Autor in Bremen in der Glocke gehört, als er aus Das dritte Buch über Achim vorlas. Wenn ich ehrlich bin, war ich da nur wegen der Frau, die ich erst überreden musste mitzukommen. Ich hatte für sie extra eine zweite Karte gekauft. So wie in Berlin für die Liaisons dangereuses. Ich weiß noch, dass Johnson eine schwarze Lederjacke trug, die wie ein Jackett geschnitten war. Ein weißes Nyltestthemd, Kassenbrille, ein schmaler Schlips. Und dieser grauenhafte Haarschnitt. Eigentlich las er gut, sehr norddeutsch. Aber er ist kein Showman, er wird mit seinem Publikum nicht warm. Den findste gut? sagte meine Freundin hinterher spöttisch zu mir. Was soll man sagen? Wenn sie spöttisch war, schob sie dies Unterlippe ein wenig vor. Der Lippenstift bröckelte ein wenig ab. Ich merkte mir dieses Detail. Für wenn ich meinen Roman schreibe, dann kommt das da rein.

Autoren brauchen ihre Werke ja nicht unbedingt vorzulesen, aber immer wieder sind Autoren auf Lesereisen. Ich gehe heute zu solchen Veranstaltungen nicht mehr hin, da kann kommen, wer will. Außer wenn Uli Becker käme, den würde ich mir anhören. Doch Uwe Johnson ist Schuld daran, dass ich Anglist geworden bin. Ich hatte meine schwere Uwe Johnson Phase, seine Sprache färbte auf meine Sprache ab. Heute nicht mehr, heute schreibe ich eher wie ▹Fontane. Aber Johnsons Sprache hat immer noch ihre Anziehungskraft (oder auch ▹nicht - nicht ▹jeder mag ihn). In seinem Roman Mutmassungen über Jakob kommt ein Anglist vor (und Gesine Cresspahl hat Anglistik studiert), damals las ich das Wort Anglist zum ersten Mal. Und dann hörte ich einen Vortrag von ▹Arno Esch über Shakespeares Hamlet bei der Wittheit zu Bremen. Da war das mit der Anglistik beschlossene Sache. Sonst wäre ich wahrscheinlich Romanist geworden. Wegen ▹Proust, ▹Juliette Gréco, ▹Camus und dem ▹französischen Film.

Dass wir die Mutmassungen über Jakob damals bei meinem furchtbaren Deutschlehrer lasen, geschah nicht wegen der Sprache von Johnson. Das Buch war nicht wegen seiner literarischen Qualitäten auf den Stundenplan gekommen. Wenn man Qualität hätte haben wollen, hätte man damals ja auch Arno Schmidt lesen können. Über den Johnson wunderbar bösartige Dinge gesagt hat. Johnson wurde an der Schule behandelt, weil er ein Feind des Unrechtsregimes in der SBZ war (so die Sprache von 1960, eine andere Sprache als die von Johnson). Dass das Werk eines Schriftstellers zeitgleich in den Unterricht wandert, geschieht ja nicht so häufig. Normalerweise hat der Deutschunterricht seine Autoren lieber lange tot. Und auch nicht so gerne aus dem anderen Deutschland. Dass in der DDR jemand namens ▹Werner Bräunig schreibt, erfahren wir damals nicht.

Als Edgar Wibeau seinen Jeans Monolog zum ersten Mal auf der Bühne in Halle an der Saale hält, ist Uwe Johnson in England dabei, die Jahrestage zu schreiben und sich zu Tode zu trinken. Von der DDR nicht angenommen, in Westdeutschland fremd geblieben, hat er anfangs von Westberlin, dann von New York, schließlich von der Themsemündung aus Mecklenburg gesucht, hat Günter Grass geschrieben. Johnson selbst weiß, dass You can't go home again nicht nur ein Romantitel ist. Wo ich her bin, das gibt es nicht mehr, läßt er Gesine Cressphal sagen.

Michael Hamburger (der hier einen langen Post hat) hat mir einmal erzählt, wie er und Johnson sich getroffen haben. Johnson hat ihn und seine Familie auch in die Jahrestage hineingeschrieben. Aber die beiden sind nie wirklich miteinander warm geworden. Nachdem ich mehrere Biographien über Uwe Johnson und seine Briefe gelesen habe, weiß ich, dass das nicht an Michael Hamburger gelegen haben kann. Vielleicht sagt das folgende Zitat alles: Schon ziemlich zu Anfang unserer Freundschaft hatte Uwe Johnson mir in vollem Ernst gesagt, daß es, selbst wenn wir beide bis ins hohe Alter leben würden, nie in Frage kommen werde, uns mit dem vertraulichen Du anzureden.

Wir können in Deutschland Literatur nicht als Literatur behandeln, bei uns muss alles immer einen tieferen Sinn haben. Sehr tief. Kafka hat irgendeine tiefere Bedeutung, der ist gut für die Oberstufe. Auf den bin ich nie reingefallen, im Gegensatz zu Martin Walser, der in Des Lesers Selbstverständnis darüber ironisch berichtet: Als ich, um meine Mutter nicht zu enttäuschen, eine Dissertation schreiben sollte, blieb mir nichts anderes übrig, als über den Autor zu schreiben, der mich während meiner Studentenjahre gehindert hatte, andere Autoren wirklich zu lesen: Franz Kafka. Aber als ich über ihn schreiben wollte, stellte sich heraus, daß ich ihn nicht verstanden hatte. 

Ich habe gegenüber Uwe Johnson immer ein schlechtes Gewissen, weil ich zwar beinahe alles gelesen und vieles verstanden habe, aber nicht über den zweiten Band der Jahrestage hinausgekommen bin. Vielleicht wird das ja noch mal was. Ein Kleines Adreßbuch für Jerichow und New York besitze ich auf jeden Fall schon. Dann schreibe ich einen ganz langen Post über Uwe Johnson. Heute nicht. Mein Deutschlehrer in der Oberstufe kam aus der DDR. In Bremen stellte man zur Behebung des Lehrermangels Ende der fünfziger Jahre jeden geflohenen ostdeutschen Volksschullehrer ein. Mein Lehrer hatte eigentlich keine Ahnung von den Fächern, die er unterrichtete, aber er unterrichtete mit großer Emphase. Und er hatte einen autobiographischen Roman (unvollendet) geschrieben, aus dem er bei Kerzenlicht vorlas, als er die Klasse zu sich nach Hause eingeladen hatte, und wir alle auf dem Teppichboden lagen.

Zu der Lesung wurde billiger Rotwein serviert, das Zeuch, das die Nolibrüder tranken. Die Hausfrau fürchtete um ihren Teppichboden. Das Romanfragment handelte wohl von armen, idealistischen Lehrern in der DDR, ich weiß es nicht mehr genau. Ich hielt mich aus Verzweiflung an den Rotwein. Mein Lehrer wollte gerne wie Uwe Johnson sein - jeder wollte damals wie Uwe Johnson schreiben. Aber der Text des Lehrers, der stolz darauf ist, auf einer Napola gewesen zu sein, ist nur auf dem Niveau eines melodramatischen Hör Zu Romans. Beim Lesen bekommt sein Gesicht im Flackern der Kerzen wieder dieses Faustische, Fanatische. Oder ist das einfach nur ein bescheuerter Gesichtsausdruck? Peter und ich werfen uns im Halbdunkel des Zimmers verzweifelte Blicke zu. Mein kleiner Roman in der siebten Klasse bei Hermann Bollenhagen war besser als dies hier. Uwe Johnsons Erstling Ingrid Babendererde: Reifeprüfung 1953 hat Schwächen, aber nicht die Schwächen von dem, was wir uns hier anhören müssen.

Wenn der Abend endlich zu Ende ist, nehme ich nicht mit den anderen den Bus. Ich gehe die Straße namens Weizenfurt hinunter bis zu Knoops Park. Dies ist nicht die feine Gegend von St. Magnus, der Ort von Sommer in Lesmona, dies ist eine Neubausiedlung. Aber ich gehe an dem Haus vorbei, wo die mir vor Wochen noch völlig unbekannte blonde Frau wohnt, die mich nach der Party bei Sigrid vor zwei Wochen auf dem Nachhauseweg überfallartig geküsst hat. Ihr Nachhauseweg wäre damals nur wenige hundert Meter lang gewesen. Wegen des Küssens dauert er Stunden. Ich weiß nicht mal, wo sie in diesem Wohnblock wohnt, aber irgendwie ist das Erinnern an diesen Augenblick besser als die Erinnerung an das Fragment des Romans eben.

Mit der blonden Frau werde ich mich noch ein- oder zweimal treffen. Sie küsst da immer noch so gut, aber irgendwie wird nichts draus. Den Inhalt des Romanfragments unseres Lehrers habe ich vollständig vergessen, den Namen der blonden Küsserin nie. Ich gehe durch Knoops Park zur Lesum hinunter und dann an der Lesum entlang in der dunklen Sommernacht nach Hause. Irgendwie bin ich stillvergnügt, dass ich das schreckliche Erlebnis der Dichterlesung eine Uwe Johnson Imitators durch das schöne Erlebnis des Erinnerns des Knutschens ersetzt habe. Es schallte zwar nicht von fern immerfort die Musik herüber, und es fliegen auch keine Leuchtkugeln vom Schloss durch die stille Nacht über die Gärten, und die Donau rauscht nicht dazwischen herauf. Aber es war alles, alles gut!

Ich muss von Zeit zu Zeit ein wenig Eichendorff in meine Texte schmuggeln, sonst bin ich nicht glücklich. Der katholische schlesische Edelmann war natürlich für die DDR kein Thema - wie der Aufsatz von Bernd Springer, Eichendorff und der Dornröschenschlaf der Romantik in der DDR, zeigt. Wir sind 1962 in den beiden Deutschlands kulturell weit auseinander. Aber sie haben das in der DDR später wiedergutgemacht und 1988 eine Eichendorf Briefmarke herausgebracht.

Der Roman meines Deutschlehrers, der dank der Unterstützung eines alten Nazis wegen seiner Napola Vergangenheit eines Tages eine Direktorenstellung an einer Privatschule bekommen wird, ist glücklicherweise nie veröffentlicht worden. Er wird als 80-jähriger noch beginnen, wirres Zeug über Fontane zu schreiben (alles im Selbstverlag). Die Romane von Uwe Johnson sind heute noch alle erhältlich und die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften bereitet zusammen mit der Universität Rostock eine Gesamtausgabe vor. Manfred Bierwisch ist erst in einem Alter Professor geworden, als andere Professoren in den Ruhestand gingen. Aber dann hat die Akademia doch noch alles wieder gutgemacht und bewarf ihn mit Ehrendoktortiteln und solchen Dingen. Hier wird ihm gerade 2012 der erste Wilhelm von Humboldt Preis der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft für das Lebenswerk verliehen. Hat er verdient.

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