In der ➱Rede, die er im Dezember 1957 nach der Verleihung des Nobelpreises in Uppsala gehalten hat, zitierte Albert Camus (der heute von einhundert Jahren geboren wurde) den amerikanischen Schriftsteller Henry David Thoreau: So long as a man is faithful to himself, everything is in his favor, government, society, the very sun, moon, and stars. Das Zitat hatte er sich schon Jahre zuvor in seinem Tagebuch notiert. Sich selbst treu bleiben, das hätte von ihm sein können. Ein Wanderer zwischen allen ideologischen Welten, ein Wanderer zwischen Algerien und Frankreich in der schwersten Krise Algeriens. Er hat als Philosoph und als Schriftsteller über den Menschen und das Leben schöne Sachen gesagt, die man immer wieder zitieren kann. Eins der erstaunlichsten Zitate ist der Satz:
Alles, was ich schließlich am sichersten über Moral und menschliche Verpflichtung weiß, verdanke ich dem Fußball, das hat Camus auch gesagt. Eine verblüffende Aussage, aber er soll in seiner Jugend ein guter ➱Torwart beim Fußballverein Racing Universitaire d’Alger gewesen sein. Und der Erfolg beim Fußball war für den jungen Mann aus armen Verhältnissen - ebenso wie sein früh beginnendes Dandytum - eine Selbstbehauptung im Kreis der reichen Bürgersöhne. Auf dem Photo sitzt er unten, mit der großen Torwartmütze.
Philosophen haben es ja meist nicht so mit dem Sport, obgleich wir seit den alten Lateinern die Weisheit besitzen, die das Motto aller Sportlehrer ist: Orandum est, ut sit mens sana in corpore sano. Der einzige Philosoph mit sportlichen Neigungen, der mir einfällt, ist Thomas Hobbes, der im hohen Alter noch Tennis spielte. Das berichtet auf jeden Fall John Aubrey: Besides his dayly walking, he did twice or thrice a yeare play at tennis (at about 75 he did it); then went to bed there and was well rubbed. This he did believe would make him live two or three yeares the longer. In the countrey, for want of a tennis-court, he would walke up-hill and downe-hill in the parke, till he was in a great sweat, and then give the servant some money to rubbe him.
Allerdings berichtet Aubrey auch, dass Hobbes dem Tabakgenuss nicht abgeneigt war: After dinner he tooke a pipe of tobacco, and then threw himselfe immediately on his bed. Diese Leidenschaft für den blauen Dunst teilt er mit vielen Philosophen. Kierkegaard liebte seine ➱Zigarren, und Camus und Sartre sind die lebende Werbung für die Firma Gauloises. Die Glimmstengel aus der blauen Packung habe ich damals auch geraucht, als ich meine schwere Exi Phase hatte. Genau genommen hatte ich sie nur immer dabei und tat so, als ob ich sie rauchte. Ich mochte dies scheußliche Zeug, von dem man gelbe Finger kriegte, überhaupt nicht. Wenn schon Zigaretten, dann nur aus Helgoland geschmuggelte Simon Arzt.
Exi war damals beinahe jeder, man brauchte dafür einen schwarzen Rollkragenpullover und ein graues Tweedjackett. Graue Tweedjacketts waren in den fünfziger Jahren eine große Sache. Man trug sie in Deutschland vorzugsweise mit einem weißen Hemd. Engländer wären nie auf diese Idee gekommen. Sah am Durchschnittsdeutschen auch nicht so elegant so wie hier an ➱Gabriele Ferzetti in L'avventura. Das Tweedjackett durfte nicht neu sein, es musste so aussehen, als ob man einen Irischen Wolfshund ausgekämmt hatte. Also dieser richtige Look der Jazzkeller des Rive Gauche oder die ➱Riverkasematten in Hamburg. Neben Rolli und Tweedjackett musste man natürlich noch einen Band Camus oder Sartre unter dem Arm tragen. Und dann musste man für Juliette Gréco schwärmen, was ich selbstverständlich tat. Darüber habe ich ➱hier schon einmal geschrieben. Und non, je ne regrette rien.
Gut, das war das Äußerliche. Man konnte den Stil leicht nachahmen, es gab genügend Photos von der Pariser Szene. Und die Photos von Henri Cartier-Bresson von Camus (oben) oder Sartre (hier) haben ja schnell einen ikonischen Charakter bekommen. Philosophen wurden damals in Frankreich inszeniert wie Filmstars. Oder wie die beiden neuen Herrscher am Modehimmel, ➱Christian Dior und Jacques Fath. Camus war einer der Helden meiner Jugend, ich wollte so cool sein wie er auf dem Photo von Cartier-Bresson. Camus hatte immer gute Photographen. Er gefiel mir auch, weil er immer gut gekleidet war und Stil hatte, ein Mitschüler hat sich erinnert, dass er schon als Jugendlicher graue Flanellanzüge zum Unterricht trug. Wenn er mit einundzwanzig heiratet, wird ihm seine reiche Schwiegermutter die eleganten Anzüge bezahlen. Camus sah, selbst wenn er sich als Bohemien gab, nicht so heruntergekommen auf den Bildern aus wie Heidegger, der auf seinen Holzwegen immer wie ein Waldschrat aussah. Oliver Todd hat Camus in seiner faktenreichen 920-seitigen Biographie als einen Dandy, Elegant und Frauenhelden beschrieben - der Philosoph des Absurden als Don Juan. Das konnte ich damals nicht wissen. Als ich damals Camus las, verstand ich auch mehr von Camus als von den Frauen.
Wenn man die französischen Existentialisten auch leicht in ihrem Habitus nachahmen konnte, wenn es auch leicht war, einen schwarzen Rolli zu einem zerlumpten Tweedjackett zu tragen, all diese Äußerlichkeiten waren nicht das, was uns als kleine Exis damals wirklich antrieb. In Paris gewesen zu sein, half auf dem Weg zum Existentialismus. Die Gedichte von Jacques Prévert (hier von Robert Doisneau photographiert) im Original zu lesen, das war das eine (ich konnte alle seine Chansons, die Juliette gesungen hatte, auswendig). Camus zu lesen, das war das andere. Er gab einem Sätze, über die man nachdenken konnte. Wie kläglich war der Philosophieunterricht der Oberstufe gegen sein Werk. Ich las Camus, obgleich ich vieles nicht verstand. Oder falsch verstand. Aber wenn man achtzehn ist, versteht man schon vieles richtig, selbst wenn man es nicht versteht. Man kann nicht leben, wenn das Leben keinen Sinn hat.
Camus' Roman Der Fremde habe ich verschlungen, auch wenn sich die Figur des Meursault im Roman eines Tages dank Lucchino Visconti in Marcello Mastroianni verwandelte. Damals wusste ich noch nicht, dass sich Camus für seinen ➱Roman reichlich bei ➱James Mallahan Cains The Postman Always Rings Twice bedient hatte. Denn die Werke des roman noir hat er, wie viele Franzosen und Italiener (was wäre der italienische Neorealismus ohne die amerikanische hard-boiled school?) in dieser Zeit, natürlich gekannt. Wenn er in Der Mensch in der Revolte sagt: Der amerikanische Roman sucht seine Einheit dadurch zu finden, daß er den Menschen reduziert, sei es aufs Elementare, sei es auf seine äußerlichen Reaktionen und auf sein Verhalten, dann fügt er noch eine Fußnote hinzu: Es handelt sich natürlich um den ‘harten’ Roman der dreißiger und vierziger Jahre und nicht um die wunderbare amerikanische Blütezeit im 19. Jahrhundert.
Dass Camus zugab, bei Cain abgekupfert zu haben, rührte den Amerikaner wenig. So antwortete er im Paris Interview auf die Frage How did you react to Albert Camus's praise of your writing? mit: He wrote something about me—more or less admitting that he had patterned one of his books on mine, and that he revered me as a great American writer. But I never read Camus. In some ways I'm ignorant. In other ways I'm not. At fiction I'm not. Das Zitat von Camus, dass der amerikanische Roman den Menschen reduziert, sei es aufs Elementare, sei es auf seine äußerlichen Reaktionen, gilt nicht nur für den roman noir, es gilt ebenso für Camus' L'Étranger.
Camus hat 1957 den Nobelpreis für Literatur bekommen, für seine bedeutungsvolle Verfasserschaft, die mit scharfsichtigem Ernst menschliche Gewissensprobleme in unserer Zeit beleuchtet. Den bekam Sartre in Anerkennung seines schöpferischen schriftstellerischen Schaffens, dessen freiheitlicher Geist und dessen Suche nach Wahrheit einen weitreichenden Einfluss auf unser Zeitalter ausgeübt hat später auch. Der hat ihn allerdings abgelehnt (Camus dachte zuerst auch daran), Camus ist nach Stockholm gefahren. Mit dem Nord Express, Flugreisen hatte ihm sein Arzt verboten. Als er die Nachricht vom Nobelpreis erhielt, hat er zuerst seine Mutter in Algier angerufen. Und notierte in seinem Tagebuch: Nobelpreis. Eigenartiges Gefühl der Niedergeschlagenheit und der Wehmut. Als ich 20 war, arm und nackt, habe ich den wahren Ruhm gekannt. Meine Mutter. Vielleicht ist das eine Selbstinszenierung, aber ich finde es eindrucksvoller als ➱Hemingway, der I should have had the damn thing long ago sagt.
Ich habe in meiner Bibliothek viele Bücher in die zweite Reihe gestellt, ich bin als Sammler inzwischen auch in der Lage vieles wegzugeben. Ich stelle sie ➱Harald Eschenburg in einem Pappkarton auf den Tresen, ich will dafür nichts haben, er preist sie preiswert aus. Bücher müssen im Umlauf bleiben. Wenn ich auch mittlerweile auf vieles verzichten kann: die Bücher von Albert Camus stehen immer noch da, wo ich sie sehen und mit einem Griff greifen kann (die Platten von Juliette Gréco auch). Camus' Satz: Ich erbitte ein einziges, und ich erbitte es demütig, obwohl ich weiß, daß es ungeheuerlich ist: gelesen zu werden mit Aufmerksamkeit ist bei mir nicht ungehallt vorbei gegangen.
Dieser Facel Vega hält gerade auf der alten Route Nationale nach Paris bei Kilometer 88 in der Nähe des Dorfes Villeblevin. Er hält an dieser Stelle, weil hier Albert Camus in dem von Michel Gallimard (dem Neffen seines Verlegers) gelenkten Facel Vega gestorben ist. Fünfzig Jahre nach seinem Tod haben französische Facel Vega Fans eine Gedächtnisfahrt entlang der Strecke gemacht, die Camus mit Gallimard fuhr. Als ich das mit dem französischen Autoklub und seiner Gedächtnisfahrt (man hatte offensichtlich nicht genug Facel Vegas, so fuhr auch ein Rolls Royce Silver Shadow und eine DS aus dem Jahre 1956 mit) entdeckte, dachte ich mir zuerst how daft can you get? Aber dann überlegte ich mir, dass diese absurde Veranstaltung für den Philosophen des Absurden doch irgendwie passend sei. Absurder geht es nicht.
But this invites the occult mind, Cancels our physics with a sneer, sagt Karl Shapiro in seinem ➱Gedicht Auto Wreck. Camus soll eine Eisenbahnfahrkarte nach Paris in der Tasche gehabt haben. Er ist in seinem Leben viel gereist, aber er mochte das Autofahrten nicht so sehr. Vor allem nicht das schnelle Fahren, der Facel Vega war über 200 km/h schnell. Als er den Nobelpreis erhielt, hatte ihn ein Autohändler angerufen, um ihm den Stolz Frankreichs, den neuen ➱Citroen DS, zu verkaufen.
Camus besaß einen alten Citroen Traction Avant, den man damals auch das Gangsterauto (der mit der Selbstmördertür) nannte. Einer derjenigen, die den Traction Avant entwickelt hatten, war übrigens Jean Daninos, dem später die Firma Facel Vega gehörte (so hängen Camus' altes Auto und Gallimards neuer Facel Vega doch irgendwie zusammen). Mit Camus' altem Citroen konnte man nicht besonders schnell fahren, der Satz Marinettis, dass ein Rennwagen schöner sei als die Nike von Samothrake, wäre ihm fremd gewesen. Camus gehörte nicht zu den Schriftstellern, die den Nervenkitzel liebten. Wie Françoise Sagan, die 1957 beinahe in ihrem Aston Martin gestorben wäre. Oder Roger Nimier, den die Presse Frankreichs James Dean taufte, der 1962 in seinem Aston Martin starb. Tröstet es uns, wenn wir wissen, dass Camus' Arzt nach seinem Tod der Nachwelt versicherte, Camus hätte wegen des angegriffenen Zustands seiner Lungen sowieso nicht mehr lange zu leben gehabt?
.. und offen gab
mein Herz, wie du, der ernsten Erde sich,
der leidenden, und oft in heilger Nacht
gelobt ichs dir, bis in den Tod
die Schicksalsvolle furchtlos treu zu lieben
und ihrer Rätsel keines zu verschmähn.
So knüpft ich meinen Todesbund mit ihr.
Das hatte Camus, Hölderlin zitierend, dem Buch Der Mensch in der Revolte vorangestellt. Das Motto von Der Mythos des Sisyphos stammte von Pindar: O mon âme, n ́aspire pas à la vie immortelle, mais épuise le champ du possible. Das Mögliche geht für den Mann, dessen erstes Werk Der glückliche Tod hieß, bei Kilometer 88 der Route Nationale zu Ende. Die Unsterblichkeit kommt später.
Was sagen nach diesem Tod? Camus' Gegner Jean Paul Sartre, redete in seinem Nachruf das Zerwürfnis klein: Wir hatten uns überworfen, er und ich: aber ein Zerwürfnis besagt nichts - selbst wenn man sich niemals wiedersehen sollte -, höchstens eine andere Art 'miteinander' und ohne sich aus den Augen zu verlieren, in dieser engen Welt zu leben, in die wir gestellt sind. Er nannte den Unfall ein Skandalon, weil er uns mitten in der Welt vor Augen führt, wie absurd unsere dringendsten Forderungen sind und schrieb: Selten haben die Anlage eines Werkes und die Erfordernisse des geschichtlichen Augenblicks so eindeutig verlangt, dass ein Schriftsteller am Leben bleibe. Für alle, die ihn liebten, liegt in diesem Tod etwas unerträglich Absurdes. Aber wir werden lernen müssen, dieses verstümmelte Werk als ein Ganzes zu sehen. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das nicht eine letzte Bosheit gewesen ist. Immerhin sagte Sartre, der den pied-noir Camus einst als algerischen Gassenjungen abgetan hatte, als ihm sein Sekretär Jean Cau die Nachricht von Camus' Nobelpreis überbrachte: Er hat ihn verdient.
Yes, I know Camus best, and I—I think highest of him. He is—is one man that—that has—is doing what I have tried always to do, which is—is to search, demand, ask always of—of one’s own soul. That is my reason for saying that he is the best of the living Frenchmen, better than Sartre or the others. Malraux was a—he became obsessed with politics. But Camus has stuck to his principles, which was always to search the soul, which I think is—is the writer’s first job. To search his own soul, to give a proper moving picture of man in—in the human dilemma. Als Camus den Nobelpreis erhielt, schickte ihm Faulkner ein Telegramm nach Stockholm. Und als die Nouvelle Revue Française ihn nach dem Tod von Camus um einen Nachruf bat, hat er den bereitwillig geschrieben.
Er scheint Sartres Nachruf gelesen zu haben, er nimmt den Gedanken mit dem verstümmelten Werk wieder auf, aber was er sagt, geht weiter und tiefer als Sartre: People will say Camus died too young; he did not have time to finish. But it is not How long, it is not How much; it is, simply What. When the door shut for him, he had already written on this side of it that which every artist who also carries through life with him that one same foreknowledge and hatred of death, is hoping to do: I was here. He was doing that, and perhaps in that bright second he even knew he had succeeded. What more could he want?
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