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Freitag, 27. Februar 2015

Radetzkymarsch


Charlotte Rampling spielt auch in dem Film mit, der Radetzkymarsch heißt. Ein bisschen nacktes Fleisch musste wohl sein, sonst sieht man ja nur österreichische Uniformen. Der Regisseur Axel Corti ist während der Dreharbeiten verstorben, sein Kameramann Gernot Roll drehte den Film zu Ende. Posthum erhielt Corti den Grimme Preis. Als Corti den Film drehte, wusste er natürlich, dass dreißig Jahre zuvor schon einmal ein ➱Film mit dem Titel Radetzkymarsch gedreht worden war. Nicht in Farbe, nicht so aufwendig, nicht mit internationalen Stars.

Die hatte Corti. Wahrscheinlich erinnerten die Stars sich noch alle an den Erfolg von Cortis Eine blaßblaue Frauenschrift. Corti hatte den Schauspieler Gert Voss gewonnen, weil er ihm gesagt hatte, dass neben der Rampling auch Jean-Louis Trintignant und Gian Maria Volonté dabei wären. Aber das wurde so nichts, Trintignant war wohl nie wirklich im Gespräch, an Stelle des erkrankten Gian Maria Volonté spielte dann Gert Voss die Rolle des Graf Chojnicki.

Die zweiteilige Fernsehfassung von Michael Kehlmann aus dem Jahre 1965 war stiller und unspektakulärer. Wir bekommen zwar auch etwas Unterwäsche zu sehen, aber keine nackte Charlotte Rampling als Valerie von Taussig oder Julia Stemberger als Eva Demant. Die Eva Demant bei Kehlmann ist Hertha Martin, die ihre Karriere mit Auf der Alm da gibt's koa Sünd begonnen hatte. Dafür ist der Kaiser Franz Joseph einmal kurz im Nachthemd zu sehen, was die österreichische Presse damals sehr aufregte. 'Würdelos' sei diese Darstellung, offensichtlich war für viele das k.u.k. Reich noch nicht zu ➱Ende. Für manche deutsche ➱Zuschauer auch nicht.

Aber es ist natürlich zu Ende, das wissen die Leser von Joseph Roths Radetzkymarsch und Kapuzinergruft genau. Joseph Roth ist zwar in diesem Blog immer wieder erwähnt worden, hat aber erstaunlicherweise keinen eigenen Post. Doch Helmut Qualtinger (hier mit Helmut Lohner in Radetzkymarsch) hat einen ➱Post. Und die witzige Geschichte, wie ich einmal Qualtinger erlebte, steht auch schon ➱hier.

Der Feldmarschall Joseph Radetzky von Radetz spielt in Joseph Roths Roman Radetzkymarsch keine Rolle, der von Johann Strauss komponierte ➱Marsch schon: Alle Platzkonzerte – sie fanden unter dem Balkon des Herrn Bezirkshauptmanns statt – begannen mit dem Radetzkymarsch. Obwohl er den Mitgliedern der Kapelle so geläufig war, daß sie ihn mitten in der Nacht und im Schlaf hätten spielen können, ohne dirigiert zu werden, hielt es der Kapellmeister dennoch für notwendig, jede Note vom Blatt zu lesen. Und als probte er den Radetzkymarsch zum erstenmal mit seinen Musikanten, hob er jeden Sonntag in militärischer und musikalischer Gewissenhaftigkeit den Kopf, den Stab und den Blick und richtete alle drei gleichzeitig gegen die seiner Befehle jeweils bedürftig scheinenden Segmente des Kreises, in dessen Mitte er stand. Die herben Trommeln wirbelten, die süßen Flöten pfiffen, und die holden Tschinellen schmetterten. Auf den Gesichtern aller Zuhörer ging ein gefälliges und versonnenes Lächeln auf, und in ihren Beinen prickelte das Blut. Während sie noch standen, glaubten sie schon zu marschieren. Die jüngeren Mädchen hielten den Atem an und öffneten die Lippen. Die reiferen Männer ließen die Köpfe hängen und gedachten ihrer Manöver. Die ältlichen Frauen saßen im benachbarten Park, und ihre kleinen, grauen Köpfchen zitterten. Und es war Sommer.

Der Herr Bezirkshauptmann, das ist der Sohn des Major a.D. Joseph Trotta von Sipolje, des Helden von Solferino, Träger des Militär Maria Theresien Ordens. Der mitansehen muss, wie das kaiserliche Reich langsam zerfällt. Und mitansehen muss, dass sein Sohn nichts von dem Schneid des Helden von Solferino und nichts von der Kaisertreue des Bezirkshauptmanns besitzt. In dem Film von 1965 spielt Leopold Rudolf den alten Baron Trotta, irgendwie ist er da überzeugender als Max von Sydow, der wieder einmal Max von Sydow spielt.

Der Bezirkshauptmann stirbt im Roman wenige Tage nach seinem Kaiser: Es war der Tag, an dem man den Kaiser in die Kapuzinergruft versenkte. Drei Tage später ließ man die Leiche Herrn von Trottas ins Grab hinunter. Der Bürgermeister der Stadt W. hielt eine Rede. Auch seine Grabrede begann, wie alle Reden jener Zeit überhaupt, mit dem Krieg. Weiter sagte der Bürgermeister, daß der Bezirkshauptmann seinen einzigen Sohn dem Kaiser gegeben und trotzdem weiter gelebt und gedient hatte. Indessen rann der unermüdliche Regen über alle entblößten Häupter der um das Grab Versammelten, und es rauschte und raschelte ringsum von den nassen Sträuchern, Kränzen und Blumen. 

Doktor Skowronnek, in der ihm ungewohnten Uniform eines Landsturmoberarztes, bemühte sich, eine sehr militärische Habt-acht-Stellung einzunehmen, obwohl er sie keineswegs für einen maßgeblichen Ausdruck der Pietät hielt. – Zivilist, der er war. Der Tod ist schließlich kein Generalstabsarzt! dachte der Doktor Skowronnek. Dann trat er als einer der ersten an das Grab. Er verschmähte den Spaten, den ihm ein Totengräber hinhielt, sondern er bückte sich und brach eine Scholle aus der nassen Erde und zerkrümelte sie in der Linken und warf mit der Rechten die einzelnen Krumen auf den Sarg. Dann trat er zurück. Es fiel ihm ein, daß jetzt Nachmittag war, die Stunde des Schachspiels nahte heran. Nun hatte er keinen Partner mehr; er beschloß dennoch, ins Kaffeehaus zu gehn.
        Als sie den Friedhof verließen, lud ihn der Bürgermeister in den Wagen. Doktor Skowronnek stieg ein. »Ich hätte noch gern erwähnt«, sagte der Bürgermeister, »daß Herr von Trotta den Kaiser nicht überleben konnte. Glauben Sie nicht, Herr Doktor?« »Ich weiß nicht«, erwiderte der Doktor Skowronnek, »ich glaube, sie konnten beide Österreich nicht überleben.«

Cortis 255-minütiger Film wurde im Fernsehen als Dreiteiler gezeigt, ich weiß nicht, ob man ihn gesehen haben muss. Schnuckelige Frauen wie ➱Charlotte Rampling, Elena Sofia Ricci (hier im Bild) und Julia Stemberger (die ein klein wenig ➱nackt sein darf) reißen da auch nichts raus. Obgleich die Stemberger in dieser Welt zu Hause scheint (auf jeden Fall mehr als in Dieter Wedels ➱St Pauli). 

Als ich sie zum ersten Mal sah, dachte ich mir, dass sie einmal eine wunderbare Genia in Schnitzlers Das weite Land abgeben könnte. Im letzten Jahr hat sie in Reichenau an der Rax genau diese Rolle gespielt. Mit großem Erfolg. Manchmal verwechsle ich Schnitzler mit Joseph Roth, den ich sehr mag. Das liegt daran, dass ich mal eine schlimme k.u.k. Phase hatte und alles von Arthur Schnitzler und Joseph Roth hintereinander weg gelesen habe. Das habe ich schon irgendwann einmal im Blog gestanden.

Als Roths Roman vom Untergang des k.u.k. Reiches 1932 erscheint, ist eine andere Welt gerade am Untergehen, woran ein Österreicher, der erst seit kurzem die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, nicht ganz unschuldig ist. Diese Romane des Untergangs einer Gesellschaft, die Roth, Proust, Conrad und Faulkner schreiben, sind eigentlich nicht zu verfilmen. Weil wenige Regisseure den Geist der Zeit überzeugend wiedergeben können. ➱Joseph Losey gelingt das in The Go-Between.

Cortis Radetzkymarsch, der mit Erfolg einen Erzähler im off verwendet, hat eine Vielzahl schöner, poetischer Momente, Stanley Kubricks Verfilmung von Schnitzlers Traumnovelle (mit Tom Cruise und Nicole Kidman) ist eine Katastrophe. Volker Schlöndorffs Eine Liebe von Swann kann man vergessen. Aber Die wiedergefundene Zeit von ➱Raúl Ruiz ist wirklich sehr gelungen. Faulkner zu verfilmen geht eigentlich nicht. Obgleich ➱The Long Hot Summer mit Don Jonson und ➱Cybill Shepherd gar nicht so schlecht ist, wie die Kritiker den Film gemacht haben, aber es ist natürlich kein Faulkner. The Tarnished Angels von ➱Douglas Sirk schon eher. Joseph Conrad bleibt unverfilmbar, nur in The Outcast of the Islands hat ➱Carol Reed die richtige Idee.

Das k.u.k. Reich hat uns eine Vielzahl von Romanen beschert. Und noch mehr Filme, da fallen uns doch sofort Rudolf Prack und Hannerl Matz und die ganzen Sissi Filme ein. Der Feldmarschall Johann Joseph Wenzel Anton Franz Karl Graf Radetzky von Radetz hat seinen Namen für vieles hergeben müssen: einen Wein, mehrere Schlachtschiffe, einen Zuchthengst. Die grauenhaften Verse von ➱Franz Grillparzer erspare ich uns. Zum 150. Todestag des Feldmarschalls offerierte die Firma Steiff einen Radetzky Teddy. Wenn man den drückte, erklang der Radetzkymarsch. So etwas hat der junge Karl Joseph von Trotta nicht besessen.

Der träumte mit fünfzehn noch von seinem Kaiser: Am besten starb man für ihn bei Militärmusik, am leichtesten beim Radetzkymarsch. Die flinken Kugeln pfiffen im Takt um den Kopf Carl Josephs, sein blanker Säbel blitzte, und Herz und Hirn erfüllt von der holden Hurtigkeit des Marsches, sank er hin in den trommelnden Rausch der Musik, und sein Blut sickerte in einem dunkelroten und schmalen Streifen auf das gleißende Gold der Trompeten, das tiefe Schwarz der Pauken und das siegreiche Silber der Tschinellen.

Als er zweiundsiebzig Jahre in österreichischen Diensten ist, schreibt der Graf Radetzky seinem Kaiser einen Brief: Euer Majestaet, die Gesetze der Natur zwingen mich nach 72 Dienstjahren und 90 Lebensjahren Euer Majestaet um die Allergnaedigste Enthebung von meinem Dienstposten Allerunterthänigst zu bitten. Geruhen Euer Majestaet mir diese Enthebung mit jener Allerhöchsten Huld und Gnade zu gewähren, mit welcher Allerhöchst dieselben mich schon so vielfach überschütteten und gestatten mir Euer Majestaet bei diesem Anlaße Allerhöchst Der Huld und kaiserliches Wohlwollen [...] Mein Greisen Alter hat zwar meine Thätigkeit gelähmt, aber bis zum letzten Athemzuge werde ich des Allmächtigen Segen für das erhabene Hauß und den herrlichen Thron Meines geliebten Monarchen erflehen, der ich in tiefster Demut ersterbe.

Am 28. Februar 1857 gewährt ihm der Kaiser diese Bitte. Wahrscheinlich gibt es keinen General, der so lange gedient hat. Den Mann, der sich 1871 in Generalsuniform bei der Armee zum Feldzug gegen Frankreich meldet, schickt man gleich wieder nach Hause. Er war gleich eingeschlafen, als er das Hauptquartiert erreichte, er war 85 Jahre alt. Sein Name war Fürst Pückler. Wenige Jahre zuvor war er allerdings (mit 81 Jahren) beim  preußischen Feldzug gegen Österreich-Ungarn dabei gewesen. Kein General wird wohl je eine so lange Dienstzeit vorweisen können wie Radetzky.

Er hat bei seinem Abschied nur noch wenig mit der Armee zu tun, der Kasernenhof ist schon lange nicht mehr seine Heimat. Er stirbt 1858 in Mailand, nicht in Wien. ➱Wellington und die meisten Generäle der napoleonischen Kriege sind da längst tot. Dies rührend naive Bild zeigt Radetzky (in der hellblauen Uniform) inmitten seines Stabes in Monza 1850. Da war der Zweite Italienische Feldzug  zu Ende und Radetzky war Generalgouverneur des Königreichs Lombardien-Venetien. Streng und milde und immer großzügig. Patrioten wie Alessandro Manzoni und ➱Giuseppe Verdi, die in ganz Italien gesucht wurden, konnten in seinem Königreich unbehelligt leben.

Meine Rowohltausgabe von Radetzkymarsch hat mich vor 45 Jahren bei ➱Eschenburg eine Mark gekostet. Ich war nie versucht, eine andere Ausgabe zu kaufen, dieses hier war mein Leseerlebnis. Und ein Leseerlebnis ist der Roman noch immer. Die Rowohltausgabe mit dem etwas bescheuerten Cover gibt es bei Amazon Marketplace ab einem Cent. Da würde ich nicht zögern. Gut, Sie bekommen keine Charlotte Rampling, keine Elena Sofia Ricci und keine Julia Stemberger wie auf der DVD, aber der Roman ist viel, viel besser als jede Verfilmung.

Mittwoch, 25. Februar 2015

Myra Hess


Am Anfang war es nur eine Idee, die der Direktor der National Gallery ➱Sir Kenneth Clark und die Pianistin Myra Hess hatten: ➱Konzerte im Krieg in der National Gallery. Immer in der Mittagspause. Gleichgültig, ob es Bombenwarnungen gab oder nicht. Sir Kenneth übernahm die Verhandlungen mit den Behörden, um Ausnahmegenehmigungen für alles mögliche zu erreichen(und den Pfarrer von ➱St. Martin in the Fields zu überreden, die ➱Glocken nicht während eines Konzerts zu läuten). Er hatte eigentlich schon genug zu tun. Er war dabei, die Kunstwerke der National Gallery in ein Bergwerk in ➱Wales zu schaffen. Myra Hess dachte, es würden zu ihrem ersten Konzert nur vierzig oder fünfzig Freunde kommen.

Der Eintritt war so gut wie frei, es kostete einen Shilling, um in der Nationalgalerie Musik zu hören. Es kamen nicht für fünfzig Leute, es kamen tausende. What sort of people were these who felt more hungry for music than for their lunches? All sorts. Young and old, smart and shabby, Tommies in uniform with their tin hats strapped on, old ladies with ear trumpets, musical students, civil servants, office boys, busy public men, all sorts had come, hat Kenneth Clarke geschrieben. Die Konzerte wurden zu einer Institution. Ich finde diesen Cartoon wunderbar, wo eine Dame zu der anderen in der letzten Reihe sagt (während sich schon einige Musikfreunde empört umdrehen): For years I have been eating my lunch to Rembrandt, Hals, Vermeer and Hooch, so I find it a bit strange switching over to Bach, Chopin, Schubert and Brahms.

Das erste Konzert fand am 10. Oktober 1939 statt, das letzte (es war das 1.698. Konzert, Myra Hess bestritt 150 davon) am 10. April 1946. Da hatte der englische König die Pianistin, die als Initiatorin hinter der Konzertreihe stand, schon lange zum Dame Commander des Order of the British Empire gemacht. Im letzten Konzert ist sie nicht mehr aufgetreten, es wäre emotional zu viel für sie gewesen. Im Programmheft stand nur der Satz At the conclusion of the programme Dame Myra Hess will say a few words. Mehr als 750.000 Menschen haben während des Krieges die Konzerte gehört.

In ihrem ersten Konzert spielte Myra Hess Scarlatti, Bach, Schubert und Beethovens Appassionata (➱hier zu hören). Es ist eine seltsame Situation: da sitzt eine jüdische Pianistin mittags in der National Gallery am Steinway Flügel und spielt die Musik deutscher Komponisten. Und es werden auch deutsche Musiker zu hören sein. Als Elena Gerhardt, die seit 1934 in London lebte, hörte, dass die Deutschen in Holland einmarschierten, wollte sie ihren Auftritt absagen: Myra, I cannot sing today. Nobody will want to hear the German language. Aber Myra Hess wird ihre Freundin überreden, gemeinsam werden sie auf die kleine Bühne kommen. Es wird ein großer Erfolg. Sie werden noch über zwanzig Mal während des Krieges zusammen auftreten.

Wenn die Deutschen die ➱Battle of Britain verloren haben, werden sie zur Bombardierung Londons übergehen. Am 15 Oktober 1940 teilt man Myra Hess per Telephon mit, dass man wegen eines Bombentreffers die National Gallery habe evakuieren müssen. Aber das Konzert fällt nicht aus, das Publikum wird in die Bibliothek des South Africa House am Trafalgar Square umgeleitet.

Es spielt das ➱Griller Quartet, das bei beinahe allen Konzerten während des Krieges dabei war. Und es spielt nicht Rule Britannia. Die Musiker spielen ➱Mozart. Ich weiß nicht, ob der Reichsmarschall Göring das jemals erfahren hat. Ein einziges Mal soll Myra Hess ihre Fassung verloren haben, als das Geräusch einer einschlagenden V1 durch die dicken Mauern der National Gallery drang. Sie begann ihren Klaviereinsatz bei Beethovens Klavierkonzert No 3 eine Oktave zu hoch.

Sie hat ihr erstes Konzert mit ihrem Arrangement des Bach Chorals Jesus bleibet meine Freude, meines Herzens Trost und Saft beendet. Sie können das ➱hier hören. Die Transkription hatte sie 1926 geschrieben, danach haben viele Pianisten es gespielt. Die Version von ➱Dinu Lipatti ist ebenso berühmt geworden wie ihre Aufnahmen. Es war das erste Stück, das er in seiner Karriere öffentlich gespielt hat. Er war achtzehn bei seinem Auftritt, sein Lehrer, der Komponist Paul Dukas war wenige Tage zuvor gestorben. Ihm zu Ehren spielte Lipatti den Bach Choral in der Bearbeitung von Myra Hess. Und das Jesus bleibet meine Freude, meines Herzens Trost und Saft war auch das letzte, was er in Besançon bei seinem letzten Konzert noch spielen konnte.

Julia Myra Hess, DBE, wurde heute vor 125 Jahren in London geboren. Mit siebzehn stand sie mit Sir Thomas Beecham auf der Bühne. Nach dem Ersten Weltkrieg hat sie Konzerte in Amerika gegeben, die Amerikaner liebten diese Frau, die Ziggis rauchte und schmutzige Witze erzählen konnte. Sie hat in Amerika auch eine Schülerin besucht, über die deren Sohn später sagte: My mother Elizabeth Ivey Brubeck was a pianist who studied with Dame Myra Hess and Tobias Matthey. As a child in California I used to listen to her play Chopin. Dave Brubeck, den man auch den Bach des Jazz genannt hat, hat Jesus bleibet meine Freude leider nie aufgenommen. Da müssen wir uns mit ➱Take Five begnügen.

Ein wenig an bewegten Bildern habe ich auch. Das erste heißt ➱Admission: One Shilling, das ist ganz neu. Und das andere sind zwei Dokumentarfilme (wir können sie auch Propagandafilme nennen): ➱Listen to Britain (1942) und ➱A Diary for Timothy (1945). Myra Hess ist in beiden Filmen zu sehen und zu hören. Es lohnt sich, die Filme zu sehen.

Dienstag, 24. Februar 2015

Abstraktion


Die Plakate, die ich in ➱Keep Calm and Carry On vorstellte, gehen mir nicht aus dem Kopf. Plakatkunst (ja, Plakate können auch Kunst sein, das wissen wir seit ➱Toulouse-Lautrec) vereinfacht, reduziert, abstrahiert. Das tut moderne Kunst auch. Ralston Crawfords Overseas Bridge von 1939 ist kein Travel Poster. Könnte aber eins sein. Wir müssten nur einen Text hinzufügen. Flächen, Farben, Umrisse charakterisieren dieses Bild.

Und das hier auch. Ein Fuchs im Schnee. Flächen, Farben, Umrisse. Dieses plakative Bild mit dem Titel The Fox Hunt von 1893 des amerikanischen Malers Winslow Homer ist eins seiner erstaunlichsten Gemälde. Winslow Homer hat heute Geburtstag, ich hätte ja gerne über ihn geschrieben, schließlich besitze ich seit Jahrzehnten alle Kataloge seines Werks. Aber er hat ➱hier schon seit Jahren einen Post. Und dass er einen Einfluss auf Edward Hopper hat, steht auch schon hier. Und natürlich habe ich die Abstraktion, die er in den Bildern von Prout's Neck findet, in den Post über die Strandbilder mit dem irritierenden Namen ➱ythlaf hinein geschrieben.

Abstraktion, nichts als Abstraktion. Woher hat Homer das? Man kann sagen, dass er als Zeichner für Zeitschriften und Magazine begonnen hat, und die haben einen Hang zu Abstraktion und den Mut zur Fläche. Aber Kunsthistoriker nennen noch etwas anderes als möglichen Einfluss, und das ist der Japonismus, der (wohl aus Frankreich kommend) sich in der Kunst bemerkbar macht. Homers Landsmann ➱James McNeill Whistler ist ein berühmtes Beispiel. Dieses Bild von Hokusai aus seinen 36 Ansichten des Berges Fuji kennen wir alle. Mehr an Abstraktion geht ja kaum.

Mit diesem Bild von Prout's Neck (nicht weit von seinem Studio) entfernt, ist Winslow Homer weit weg von den Meereswellen eines Andreas Achenbach (der ja beinahe eine Zeitgenosse von ihm ist). Und weit von den Marinebildern der Holländer des 17. Jahrhunderts. Obgleich es auch da schon konventionalisierte Abstraktionen gab, immer die gleichen Wellen. Die John Ruskin überhaupt nicht gefielen: We only are to be reproached, who, familiar with the Atlantic, are yet ready to accept with faith, as types of sea, the small waves en papillote, and peruke-like puffs of farinaceous foam, which were the delight of Backhuysen and his compeers. Das steht schon in dem Post ➱Ludolf Bakhuizen. Ich mag ja ➱Ruskin nicht so sehr, aber hier hat er mal recht.

Das kleine (24 x 30 cm) Bild Summer Squall von Winslow Homer ist natürlich über die Kritik Ruskins erhaben. Ich wäre jetzt versucht, einen längeren Post über Meereswellen zu schreiben. Über die Strände von Norderney bis Klitmöller und die Wellen in der Kunst. Mit denen bin ich groß geworden. Ich weiß nicht mehr, welche Zahnpastamarke es war, die Deutschlands Zahnärzten zu Weihnachten immer einen Kalender mit Meeresbildern schickte. Offensichtlich passten grüne Wellen gut zu der Marke. Die Kalender landeten immer bei mir, jahrelang nur Wellen im Zimmer. Also bis auf das Bild von ➱Willi Vogel. Es wäre jetzt nett, wenn Sie niemals das Gespräch auf Patrick von Kalckreuth oder Siegwart Sprotte bringen würden. Aber natürlich gibt es schöne Bilder von Wellen und Strand, der ganze Post ➱ythlaf ist voll davon. Und der interessante Blog Marine Oil Paintings, den ich vorgestern entdeckte, klicken Sie einmal ➱hier.

Natürlich ist auch dieses Bild schon Abstraktion der Landschaft. Ist schon ein Vorläufer der Moderne, der Pop Art. Glauben Sie jetzt nicht? Dann sollten Sie Robert Rosenblums Modern Painting and the Northern Romantic Tradition: Friedrich to Rothko lesen Oder den Post ➱Caspar David Friedrich, da steht das auch schon. Es ist eine schöne Theorie, die Rosenblum da entwickelt. Zuerst hielt man den wilden Denker für ein one day wonder, musste aber erkennen, dass sich hinter den unkonventionelle Ideen ein seriöser Kunsthistoriker verbarg.

Rosenblum liebte ‘the messy mix’ of high and low, das ist mir sehr sympathisch. Leser meines Blogs werden längst bemerkt haben, dass dieser messy mix’ of high and low auch in SILVAE vorherrscht. Und so konnte er Norman Rockwell (der ➱hier einen Post hat) bewundern und über Benjamin Wests Bild vom Tod ➱Nelsons schreiben. Und er hat auch einmal eine Vilhelm Hammershoi Ausstellung kuratiert (Sie kennen das Bild ja schon aus dem Post ➱Realisten). Weshalb sich Rosenblum allerdings für Andrew Wyeth begeistert, den andere Kritiker bestenfalls als the greatest living kitschmeister bezeichnen, das weiß ich nicht.

Ich hätte allerdings noch ein Beispiel von malerischen Abstraktion, das zeitlich sehr viel früher als Winslow Homer, Vilhelm Hammershoi und Caspar David Friedrich liegt. Nämlich Thomas Jones' A Wall in Naples aus dem Jahre 1782. Nur postkartengroß, aber welche Wirkung! Bei den meisten Häusern, die Thomas Jones in Neapel gemalt hat, weiß man, wo sie gestanden haben, bei diesem ganz kleinen Bild leider nicht. Was hätte Marcel Proust dazu gesagt, wenn er dieses Bild von Thomas Jones gekannt hätte? Wo er doch schon von dem kleinen gelben Mauerstück (lesen Sie mehr in dem Post ➱Bilder) auf ➱Vermeers Ansicht von Delft begeistert war.

Dieses petit pan de mure jaune, an das sich der Kritiker Bergotte nicht mehr erinnern konnte: Mais un critique ayant écrit que dans la Vue de Delft de Ver Meer (prêté par le musée de La Haye pour une exposition hollandaise), tableau qu’il adorait et croyait connaître très bien, un petit pan de mur jaune (qu’il ne se rappelait pas) était si bien peint qu’il était, si on le regardait seul, comme une précieuse œuvre d’art chinoise, d’une beauté qui se suffirait à elle-même.

Die Begegnung mit Vermeer wird zu einer Art Epiphanie Bergottes: Enfin il fut devant le Ver Meer... il attachait son regard, comme un enfant à un papillon jaune qu'il veut saisir, au précieux petit pan de mur. Er wird vor Vermeers Bild sterben. Es ist eine Art vorweg genommener Tod von Proust, der in der Nacht vor seinem einen seiner letzten Sätze schreibt, in dem es auch um Vermeer geht, er spricht darin von Il y a dans le métier de Vermeer une patience chinoise, une faculté de cacher la minutie et le procédé de travail qu’on ne retrouve que dans les peintures, les laques et les pierres taillées d’Extrême-Orient. Leider hat noch kein Proust Kenner sagen können, welchen ➱Teil des Bildes von Vermeer Proust eigentlich gemeint hat.

Proust, der diese Stelle in den schon beinahe fertigen Roman nachträglich einfügte, fühlt sich krank. Er fühlt sich sein ganzes Leben lang krank. Er bittet einen Freund, ihn zu begleiten, er möchte die Vermeers der Ausstellung zu gerne sehen: Wollen Sie den Toten führen, der ich bin und der sich auf Ihren Arm stützen wird? schreibt er Jean-Louis Vaudoyer. Dies Photo, eines der letzten, das von ihm gemacht wurde, zeigt ihn vor dem Besuch. Vor dem Museum Jeu de Paume hat er (wie Bergotte) einen Schwächeanfall, den er einem Kartoffelgericht zuschreibt (die Kartoffeln kommen auch in der Sterbeszene Bergottes vor). Aber er hat den Vermeer gesehen. Den er jetzt zur Literatur macht wie die Madeleine.

Dieter E. Zimmer hat in einem sehr schönen ➱Aufsatz in der Süddeutschen eine originelle Lösung angeboten: Die andere Möglichkeit: Er hat dem Bild das kleine gelbe Mauerstück schlicht hinzuerfunden, und seine Deuter haben die Erfindung nicht durchschaut und ihre Gründe nicht begriffen. Ich denke gern, er habe es erfunden. Ich stelle mir vor, wie er überlegte, welches Detail es in dem Bild gut geben könnte, aber nicht gibt, wie er an das Bild herantrat, um sich zu überzeugen, daß es tatsächlich keinerlei kleines gelbes Mauerstück mit einem Vordach enthält – und wie er nun wußte, was er zu tun hatte. 
         Das kleine gelbe Mauerstück nämlich ist für Bergotte und dessen Autor nichts anderes als die Vollkommenheit selbst: jene Vollkommenheit in der Darstellung irgendeiner scheinbar belanglosen Einzelheit dieser Welt, neben der alles andere nichtig wird, auch das eigene Werk. Schon der Gedanke an all die Beckmesser, die sich auf jedes reale Detail stürzen und daran herumkritteln würden, denen sein Gelb nicht gelb genug oder viel zu gelb wäre, muß ihn gewarnt haben. Vollkommenes nämlich läßt sich nicht sichtbar machen, allenfalls für einen Augenblick herbeiwünschen. Man sieht es höchstens im eigenen Innern. Draußen lassen sich solche perfekten Stellen nur suchen, nicht finden.
        Und wenn Proust nun doch nur hingeblinzelt haben sollte an jenem Maitag 1921 im Jeu de Paume, um später ein vollkommenes kleines gelbes Mauerstück mit Vordach in seinem Gedächtnis vorzufinden, hätte er dann nicht unwillkürlich das gleiche gesagt?


Proust konnte die sonnenbeschienenen neapolitanischen Mauerstücke von Thomas Jones natürlich nicht kennen, sie sind erst später entdeckt worden. Wie man überhaupt das ganze Genie von Thomas Jones erst spät entdeckt hat. The Room which I was in possession of at the Convent, was large and commodious for such a place, and as it was on the ground floor and vaulted above, very cool and pleasant at this Season of the Year – The only window it had, looked into a Small Garden, and over a part of the Suburbs, particularly the Capella nuova, another Convent, the Porta di Chaja, Palace of Villa Franca, and part of the Hill of Pusilippo, with the Castle of S. Elmo & convent of S. Martini &c all of which Objects, I did not omit making finished of in Oil upon primed paper..., schreibt Jones 1782 in sein Tagebuch.

Die Ölskizzen der Häuser in Neapel sind sein künstlerischer Höhepunkt. Der Schüler von ➱Richard Wilson zeigt sie niemandem, stellt sie nicht aus. Als er nach sechs Jahren in Italien mit seiner dänischen Geliebten Maria Moncke und seinen beiden Töchtern nach England zurückkehrt, wird er kaum noch malen. Nach dem Tod seines Bruders erbt er den Grundbesitz und das Herrenhaus Pencerrig. Und heiratet Maria Moncke. Er wird zum wohlhabenden zufriedenen Landlord, steht im Wikipedia Artikel. Klingt toll, schreit aber nach dem Rotstift. Denn ein landlord ist kein Landadeliger, ein landlord ist ein Vermieter. Und da das schon mal falsch ist, sehe ich auch die Behauptung, dass Jones ein Vorläufer des Konstruktivismus ist, mit gewissem Zweifel.

Abstraktion ist eine Sache der Moderne, sagt man. Aber gab es sie nicht schon immer? Wird die Moderne nicht lange vor der Moderne erfunden? John Constable, von dem dieses Bild (Rainstorm over the sea) stammt, hat seine Kunst einmal limited and abstracted art genant. Noch mehr Abstraktion als das bietet nur die Pop Art. Der Erfinder der Pop Art, Richard Hamilton, hat heute ebenso wie Winslow Homer Geburtstag, das muss mal eben erwähnt werden. Er hat natürlich auch schon einen ➱Post, in dem Sie erfahren, weshalb Pop Art Pop Art heißt.


Samstag, 21. Februar 2015

Keep Calm and Carry On


Im Jahre 1939 druckte das Ministry of Information in England (dessen Aufgabe es war To promote the national case to the public at home and abroad in time of war’ by issuing ‘National Propaganda’ and controlling news and information) Millionen von Plakaten mit dem Spruch Keep Calm and Carry On. Die interessante Schrifttype des Plakats war den Engländern nicht unbekannt, man konnte sie schon seit dem Ersten Weltkrieg in der Londoner U-Bahn sehen. Keep Calm and Carry On ist, wenn man so will, die englische Version von Ruhe ist die erste Bürgerpflicht.

Aber das Plakat des Grafen von der Schulenburg (das schon den Post ➱Wahlplakate zierte) sah 1806 natürlich etwas anders aus. Die Plakate mit dem Slogan Keep Calm and Carry On wurden nie verteilt. Niemand weiß weshalb. Erst im Jahre 2000 entdeckte man das Plakat wieder, das sich seitdem unglaublich verbreitet hat. Ich beschäftige mich gerade ein wenig mit dieser Zeit, da ich angefangen habe, einen Post über die schöne englische Krimiserie Foyle's War zu schreiben, deren Handlung in der Zeit von 1940 bis 1947 liegt.

Ich hatte das mit DCS Foyle in dem Post ➱Invasion ja schon angedeutet. Wenn man bedenkt, dass die Inspektoren ➱Lewis, ➱Barnaby, ➱Poole und ➱Gently hier längst einen Post haben, ist es wohl angebracht, dass der Detective Chief Superintendent Christopher Foyle endlich auch einen bekommt. Und irgendwann wird es wohl auch noch einen Post für ➱Inspector Morse geben. Für die Liebhaber von roten Jaguars und ➱Richard Wagners Musik. Glücklicherweise hört Morse manchmal auch ➱Mozart.

Keep Calm and Carry On sollte das dritte Plakat in einer Reihe sein, von der schon Freedom Is In Peril. Defend It With All Your Might und Your Courage, Your Cheerfulness, Your Resolution Will Bring Us Victory publiziert worden waren (allerdings in grün und grau und nicht in diesem leuchtenden Rot). Die Regierungspropaganda appelliert jetzt an englische Nationaltugenden, an Ruhe und Gelassenheit. Man konnte ja schlecht Nelsons Aufforderung England expects that every man will do his duty auf die Plakate drucken.

Aber es ist schon dieser Geist der englischen Admiräle, der bei dem Engländer Bewunderung erregt. Wie der Admiral ➱John Jervis, der in der Schlacht von St Vincent feststellt, dass ihm die Spanier haushoch überlegen sind. Und während sein Flaggoffizier noch die Schiffe zählt, sagt er: Enough, sir, no more of that; the die is cast, and if there are fifty sail I will go through them. Es ist diese stiff upper lip, die der Engländer bewundert.

Eine andere berühmte Kampagne, die allerdings nicht vom Ministry of Information sondern vom Kriegsministerium kam, hatte den Titel Your Britain: Fight for it Now. Aus ihr stammen die Bilder in diesen drei Absätzen. Ich habe dies Plakat von ➱Frank Newbould (von dem auch die Bilder oben sind) schon einmal in dem schönen kleinen Post ➱Wolle (in dem der woolsack im englischen Parlament, John Keats, Peter Zadek und die Schafe der ➱Baronin von Stoltzenberg vorkommen) abgebildet.

Frank Newbould brauchte seinen Stil als Illustrator nicht zu ändern, wie man an diesem Werbeplakat für Camping Coaches (so etwas bietet die Deutsche Bahn nicht an) sehen kann. Er war spezialisiert auf sogenannte Travel Posters. Das ist eine Sonderform des Plakats, die in England zwischen den Kriegen eine erstaunliche Form und Vielfalt erreicht. Wenn Sie ➱dies hier anklicken, bekommen Sie davon einen Eindruck davon. Der Stil bleibt bei Newbould (und anderen Graphikern) der gleiche, nur Sujet und Text wechseln.

Aus dem Travel Poster wird das Propagandaplakat. An example of how an inter-war travel poster style was used unchanged during the war to arouse patriotic feelings for an idealised pastoral Britain, defined by the landscape of southern England, heißt es auf der Seite des Imperial War Museums. Und bei dieser Werbung für das Wye Valley hätte man nur The Wye Valley durch eine patriotische Botschaft ersetzen müssen, schon hätte man ein Propagandaplakat gehabt. Es ist ein ländliches, pastorales England, das hier heraufbeschworen wird. Das erste Bild von Newbould oben erinnerte damals natürlich jeden Betrachter an John Constables ➱Salisbury Cathedral, das zweite zeigt ein idealisiertes englisches Dorf im Süden Englands.

Englische Dörfer verbinden wir ja heute dank vieler englischer Krimis eher mit Namen wie Namen wie ➱Mayhem Parva oder ➱Midsomer. Und da wird gemordet. Mit einer murder rate that would shame the Bronx, wie eine Bloggerin im Guardian schrieb. Das dritte Plakat von Newbould zeigt eine idyllische Landschaft in den South Downs. Die Schafe dürfen natürlich nicht fehlen, die Wolle hat einst England reich gemacht. Dieses Plakat von Charles H. Baker für die London Midland & Scottish Railway könnte ebenso von Frank Newbould sein. Es zeigt, dass die ➱Moderne jetzt nach England gekommen ist.

Nicht alle Poster der ➱Kampagnen der verschiedenen Ministerien präsentieren ein friedliches England, in manche - wie hier bei diesem von Norman Wilkinson (der schon im Ersten Weltkrieg die dazzle camouflage für die Royal Navy erfand) dringt die Wirklichkeit des Krieges in den Alltag ein. Wenn Sie sich einmal die Schrifttype auf dem Plakat genauer ansehen, werden Sie sehen, dass es auf diesen Plakaten beinahe immer die gleiche Schrifttype (wie auch bei Keep Calm and Carry On) ist. Sie wird Edward Johnston und Eric Gill zugeschrieben. Zu Eric Gill sage ich nichts. Weshalb nicht, können Sie in dem Post ➱Alfred Wallis lesen.

Zu den Plakaten und der neuen englischen Moderne zwischen den Kriegen findet man viel in dem informativen Katalog Thirties: British art and design before the war aus dem Jahre 1979. Und ja, Eric Gill ist da auch drin. Es gibt in der Kampagne Your Britain: Fight for it Now auch Plakate, die Hoffnung machen sollen. Auf diesem Plakat von Abram Games (der official war artist war und über hundert Poster kreierte) für das Army Bureau of Current Affairs aus dem Jahre 1942 kann man hinter den vom Bomben zerstören Mauern schon schemenhaft den neuen Wohlfahrtsstaat wachsen sehen.

England gewinnt zwar den Krieg, aber es wird lange dauern, bis der Premierminister Harold Macmillan den berühmten Satz you've never had it so good sagen kann. Wenn man sich die Travel Posters (hier noch einmal Frank Newbould) der dreißiger Jahre anschaut und die Bilder in dem Buch von ➱Timothy Wilcox Day in the Sun: Outdoor Pursuits in the Art of the 1930s betrachtet, gewinnt man den Eindruck, dass diese Zeit für die Engländer ein einziges Freizeitvergnügen gewesen ist.

Doch die meisten Engländer werden die Welt wohl nicht in den schönen bunten Farben gesehen haben, wie sie auf dem Travel Poster erscheinen. Für viele bedeutet ein Urlaub nur einen Aufenthalt in einem ➱Butlins Camp oder einen Trip an die Südküste Englands. Oder eine Erfrischung am Strand von Blackpool. Beachten Sie bitte die Form der Teekanne bei diesem Verkaufswagen aus den dreißiger Jahren. Da sieht der Strand von Clacton-on-Sea auf Newboulds Plakat sehr viel eindrucksvoller aus.

Allerdings ist an dem Gedanken einer gewissen Vergnügungssucht der Engländer in den dreißiger Jahren etwas Wahres daran. Man will die Schrecken (und die Toten) des Ersten Weltkriegs vergessen, das Edwardianische Zeitalter, das für Engländer eine Art golden age gewesen ist - und es in Filmen und Romanen häufig noch ist, man denke an Filme wie A Room with a View und ➱The Go-Between - ist zu Ende. Never such innocence again, heißt die letzte Zeile in ➱Philip Larkins ➱Gedicht, das den Titel MCMXIV trägt.

In ihrem 1940 erschienenen Buch The Long Week-End haben Robert Graves und Alan Hodge die Zeit genauer untersucht, allerdings ohne 1940 schon einen historischen Abstand haben zu können. Dennoch bleibt diese Social History of Great Britain 1918-1939 eins der besten Bücher über diese Zeit. Robert Graves hat ➱hier schon einen Post, und zu Alan Hodge sollte man noch sagen, dass er der Ghostwriter für ➱Churchills History of the English Speaking Peoples war. Ohne Hodge hätte Churchill seinen Literaturnobelpreis wohl nicht bekommen.

Wir haben glücklicherweise keinen Krieg mehr, aber die Ruhe und die Gelassenheit, die kann man immer gebrauchen. Von Keep Calm and Carry On gibt es mittlerweile tausenderlei Produkte (man kann es auch als Äpp kaufen). Einen Teebecher mit der Aufschrift Keep Calm and Carry On besitze ich schon lange. Der wird aber nie gebraucht, er steht dekorativ neben einer signierten Autogrammkarte von ➱Jean-Louis Trintignant auf dem Kasten mit Bachs ➱Cellosuiten. Von dem Spruch Keep Calm and Carry On hat es inzwischen auch schon eine Vielzahl von Varianten gegeben. Eine ganz besondere bekam ich vorgestern zugeschickt, die musste natürlich sofort veröffentlicht werden. Damit Sie immer wissen, wenn Sie in eine Krise oder eine leichte Verzweiflung geraten, was Sie tun sollen: Keep Calm and Read Silvae. Teebecher und T-Shirts sind leider noch nicht lieferbar. Ich melde mich, wenn das soweit ist.