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Sonntag, 26. April 2015

Maria Wolkonskaja


Das Buch mit den Erinnerungen der Fürstin Maria Wolkonskaja lag in einem Stapel von Büchern, die neu angekommen waren. Unscheinbar, und doch auffällig. 1978 im Buchverlag Der Morgen erschienen, kam das Buch in einem Schuber (hergestellt vom VEB Verpackungsmaterial Leipzig), der wie das Buch mit dem gleichen marmorierten Papier bezogen war. Die Gestaltung des Umschlags stammte von dem Buchbinder Gerhard Hesse, einem in Fachkreisen berühmten Mann, der von seinem Vater die 1924 gegründete Werkstatt für Buntpapiere in Leipzig-Möckern übernommen hatte. Seine Tochter Ilona Hesse-Ruckriegel ist heute in dritter Generation in der Kunst des Marmorierens tätig. Das Buch war etwas Besonderes, keine Frage. Es hat mich einen Euro gekostet. Einen Bürger der DDR kostete es damals 11,80 Ostmark.

Es war von Lieselotte Remané übersetzt, die viel aus dem Russischen übersetzt hat, unter anderem auch Prokofjews musikalisches Märchen Peter und der Wolf. Die Gedichte, die sich in den Erinnerungen der Fürstin Maria Wolkonskaja finden (wie zum Beispiel die Gedichte Puschkins, der von der jungen Fürstin begeistert war), sind von ihrem Ehemann Martin Remané übersetzt worden. Lieselotte Remané hat auch ein ausführliches Nachwort und eine Vielzahl von Anmerkungen beigesteuert. Sie können das Nachwort ➱hier lesen, es lohnt unbedingt die Lektüre. Und ich kann mir dann eine Inhaltsangabe des Buches ersparen und brauche das Leben von Maria Wolkonskaja nicht noch einmal nachzuerzählen.

Martin Remané, der auch François Villon übersetzt hatte, konnte eigentlich gar kein Russisch, er verwendete bei seinen Übersetzungen nur bereits vorhandene Interlinearversionen. Das weiß ich allerdings nur, weil ich einen Blick in das Standardwerk Russische Literatur des 20. Jahrhunderts in deutschsprachigen Übersetzungen: Eine kommentierte Bibliographie von ➱Friedrich Hübner geworfen habe. Das Ehepaar Remané hat auch gemeinsam übersetzt, zum Beispiel Lewis Carroll. Von ihrer Übersetzung des Jabberwocky kann ich mal eben ➱hier ein Beispiel präsentieren.

Die Puschkin Nachdichtungen von Martin Remané haben auch Eingang in die deutsche Ausgabe von Christine Sutherlands Die Prinzessin von Sibirien: Maria Wolkonskaja und ihre Zeit gefunden. Ds Buch ist ganz nett, aber wenn man Erinnerungen der Fürstin gelesen hat, braucht man es nicht wirklich. Der Dichter Alexander Puschkin hatte die spätere Fürstin schon als kleines Mädchen am Strand des Schwarzen Meeres beobachtet und vertraute seinem Tagebuch an: Das dunkelhaarige kleine Mädchen war so anmutig, so jung und flink wie eine Katze. Ich hätte gerne wie die Wellen mit meinen Lippen um ihre Füße gespielt. Wir wollen jetzt einmal hoffen, dass dies nur eine ästhetische Begeisterung ist, und der Dichter für kleine Mädchen (na ja, sie war fünfzehn) nicht die Gefühle hat, die der ➱Autor von Jabberwocky für seine ➱Alice hatte.

Die Szene mit dem Meeresstrand wird Puschkin noch einmal gebrauchen. Dichter werfen nichts weg:

Ich sah die Wellen wild gereiht
zum Ufer ihr entgegeneilen,
um spielerisch, voll Zärtlichkeit
zu ihren Füßen zu verweilen.
Wie wünschte ich, erfüllt von Neid,
mit ihnen dieses Spiel zu teilen ...

Das findet sich in Eugen Onegin, ich zitiere einmal die dreiunddreißigste Strophe des ersten Buches nach einer Übersetzung, die sich bei ➱Zeno findet (es ist wohl die von Th. Commichau aus dem Jahre 1916):

Ich sah das Meer an Sturmestagen:
Mit welchem Neid genoß ich dann,
Wie Flut um Flut herangetragen
Liebkosend ihr zu Füßen rann!
Wie wünscht' ich damals mit den Wellen
Im Kuß an sie heranzuschwellen!
Nein, nicht im tollsten Jugenddrang,
Da Gier mich trieb und Überschwang,
Empfand ich mich so hingerissen,
Holder Armiden süßen Mund,
Erblühten Busens volles Rund, 

Entflammter Wangen Glut zu küssen;
Nein, nie hat sonst der Sinne Macht
In mir solch heißen Wunsch entfacht!


Diese lavierte Zeichnung habe ich von der Homepage von ➱Joachim Winsmann, der die sicherlich inhaltsreichste Seite zu den russischen Dekabristen im Internet hat. Puschkin und die Wolkonskaja - wenn Dichter nicht immer übertreiben würden, wären sie keine Dichter. Und da das heute wieder einmal länger wird als geplant, können wir an dieser Stelle mal eben Fritz Wunderlich die ➱Arie des Lenski aus Eugen Onegin singen lassen. Bevor die Fürstin Maria Wolkonskaja nach Sibirien aufbricht, um ihren Ehemann, dem Dekabristen Sergei Grigorjewitsch Wolkonski, in die Verbannung zu folgen, wird sie ihren Bewunderer Puschkin noch einmal sehen. Der zwar nicht offen auf der Seite der Dekabristen stand, aber viele von ihnen kannte. Und ihren Mut bewunderte. Wie er in dem Gedicht Sendschreiben nach Sibirien schrieb:

In der Tiefe sibirischer Erze
Bewahrt Geduld, seid stolz und klug.
Euer Werk, das schicksalsschwere,
Wird wachsen im Gedankenflug.

Des Unglücks treuergebne Schwester,
Die Hoffnung, weckt im finstren Schacht
Den Mut, die Froehlichkeit, bis letztlich
Die langersehnte Zeit erwacht:

Die Liebe und die Freundschaft dringen,
Obwohl ihr eingekerkert seid,
Zu eurer schweren Zwangsarbeit,
Wie jetzt nur meine freie Stimme.

Die Kette, die den Fuß beschwert,
Wird brechen, wie des Kerkers Schranken,
Die Freiheit euch am Tor empfangen
Und Brüder reichen euch das Schwert.

Puschkin wird eine Antwort auf sein Gedicht von 1827, das ja mehr ein politisches Pamphlet als ein Gedicht ist, bekommen. Und zwar von dem jungen Fürsten Alexander Iwanowitsch Odojewski. Der gehört auch zu den Dekabristen. Er hat aber nur einen niedrigen Dienstgrad in der Armee, der Gatte der Fürstin ist immerhin General, der gegen Napoleon gekämpft hat. Odojewski kommt aus einer alten, vornehmen Adelsfamilie, etwas verarmt, aber vornehm. Und er ist Dichter, oder wird in der Gefangenschaft dazu. Er wird das Gedicht Antwort auf Puschkins Sendschreiben nach Sibirien verfassen:

Es trafen von des Sehers Saiten
die hellsten Laute unser Ohr.
Wir gierten, mit dem Schwert zu streiten,
doch fanden wir nur Ketten vor.

Stolz, Barde, sind wir auf die Ketten
und stolz auf unsere Kerkernacht.
Auch wenn wir tausend Wächter hätten,
würd heimlich doch der Zar verlacht.

Denn unser Leid wird fruchtbar sein.
Aus Funken wird die Flamme schlagen,
und unser gläubig Volk wird ein
geheiligt Banner tragen.

Aus Ketten wird ein Schwert! Entfacht
mit uns erneut das Freiheitsfeuer!
Gestürzt wird dann des Zaren Macht,
und alle Völker atmen freier.


Der Funke heißt im Russischen iskra. Und Iskra wird Lenin im Jahre 1900 seine Zeitung nennen (die übrigens in Deutschland gedruckt wird). Es hat etwas länger gedauert, bis der Funke Flammen geschlagen hat. Dass alle Völker heute freier atmen, das ist zu bezweifeln.

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