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Sonntag, 12. April 2015

Sedanplatz


Wir spielten noch in der Dämmerung. Wir hätten noch gespielt, bis es ganz dunkel wurde, bis man den Wasserturm nicht mehr sehen konnte. Und wir hätten wahrscheinlich in der Dunkelheit noch das Tor getroffen. Das Tor war kein richtiges Fußballtor, die Pfosten waren der Baum in der Mitte des Sedanplatzes und ein Haufen von Jacken und Pullovern. Wir waren in der Volksschule, der Begriff Straßenfußballer war noch nicht erfunden, aber das waren wir. Meine besten Freunde waren Arbeiterkinder, die waren auch hervorragende Fußballer. Die wurden immer zuerst gewählt, wenn die Mannschaften verteilt wurden. Ich nur ganz zum Schluss. Dabei trainierte ich Dribbeln im Keller, weil ich wie Stanley Matthews werden wollte.

Am Wochenende nahm mich mein Vater mit nach Bremen zum BSV oder zu Werder, aber in der Woche hieß unsere Welt Sedanplatz. Echte Spielfeldgrenzen gab es auf dem Grantplatz nicht, aber die Regel Drei Ecken ein Elfer galt immer. Der Baum in der Mitte des Platzes war kein einfacher Baum. Es war eine deutsche Eiche, die Sedan Eiche. Sedan war ein Wort, das großartig klang, das für meinen Opa etwas bedeutete. Obgleich er erst elf Jahre nach der Schlacht geboren wurde, klang es in seinen Erzählungen immer so, als sei er dabei gewesen. Und das MetzToulesundVerdun habe ich heute immer noch im Kopf. Heute bezeichnet Sedan Eiche einen Laminatfußboden, den man im Hagebaumarkt bekommt.

Im Gegensatz zu der angeblichen Großartigkeit der Schlacht machte der Platz nichts her. Vorne war die Gerhard Rohlfs Straße, die damals noch die Bundestraße 75 war. Es gab eine Bushaltestelle der BVG und Scheffels Würstchenbude. Daneben war ein kleiner Kiosk, wo man Zeitungen und Prickel Pit kaufen konnte, da holte ich immer für Opa die Jerry Cotton Hefte, die er im Alter leidenschaftlich gerne las. Weshalb weiß ich nicht. Als Kind versteht man die Erwachsenen sowieso nicht.

Am Ende des Platzes war die Reeperbahn der Seilerei Georg Gleistein. Ein trister grauer Bau, der sich beinahe vierhundert Meter lang bis zum Fährgrund hinunter zog. Dahinter lag Aumund, das war ein anderer Ort. Vegesacker gingen nie nach Aumund, wir Kinder erst recht nicht. Die Straße mit der grauen Mauer der Reepschlägerbahn taucht manchmal noch in meinen Träumen auf, je älter man wird, desto mehr träumt man von der Kindheit.

Ich bekam vor Wochen ein Photo vom Sedanplatz zugeschickt, wie er heute aussieht. Ich weiß schon, wie wahr der Romantitel You Can't Go Home Again von Thomas Wolfe ist, ich hätte das Bild nicht gebraucht.

Es kann heute natürlich kein Gedicht auf die Schlacht von Sedan geben. Meinem Großvater wären bestimmt Ernst Scherenberg und Felix Dahn eingefallen. Aber auch die Franzosen haben ihre nationale Dichtung, Sedan scheint viele zu inspirieren. Doch zwischen dem deutschen Säbelgerassel und Paul Verlaines Les Vaincus (hier im Original und in der Übersetzung) liegen Welten. Nein, ich nehme lieber I Remember, I Remember von Philip Larkin. Das passt auch zu dem Photo oben und hier, das auch von einem Engländer ist. Der Photograph heißt Roger Mayne, in den fünfziger Jahren hat er sich durch Notting Dale (was neben Notting Hill liegt) photographiert. Für mich geben seine Photos am besten das Gefühl meiner Jugend wieder. Auch wenn zwischen der Southam Street und dem Sedanplatz eine ganze Welt liegt.

I Remember, I Remember

Coming up England by a different line
For once, early in the cold new year,
We stopped, and, watching men with number plates
Sprint down the platform to familiar gates,
"Why, Coventry!" I exclaimed. "I was born here."

I leant far out, and squinnied for a sign
That this was still the town that had been 'mine'
So long, but found I wasn't even clear
Which side was which. From where those cycle-crates
Were standing, had we annually departed

For all those family hols? . . . A whistle went:
Things moved. I sat back, staring at my boots.
'Was that,' my friend smiled, 'where you "have your roots"?'
No, only where my childhood was unspent,
I wanted to retort, just where I started:

By now I've got the whole place clearly charted.
Our garden, first: where I did not invent
Blinding theologies of flowers and fruits,
And wasn't spoken to by an old hat.
And here we have that splendid family

I never ran to when I got depressed,
The boys all biceps and the girls all chest,
Their comic Ford, their farm where I could be
'Really myself'. I'll show you, come to that,
The bracken where I never trembling sat,

Determined to go through with it; where she
Lay back, and 'all became a burning mist'.
And, in those offices, my doggerel
Was not set up in blunt ten-point, nor read
By a distinguished cousin of the mayor,

Who didn't call and tell my father There
Before us, had we the gift to see ahead -
'You look as though you wished the place in Hell,'
My friend said, 'judging from your face.' 'Oh well,
I suppose it's not the place's fault,' I said.

'Nothing, like something, happens anywhere.'

Lesen Sie auch: ➱Philip Larkin und ➱Philip Larkins Rasenmäher

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