Seiten

Dienstag, 7. Juli 2015

Spielregeln


Da ist einer ganz allein in dreiundzwanzig Stunden über den Atlantik geflogen, nur aus Liebe zu einer schönen Frau. Und dann kommt er in Le Bourget an, und sie ist nicht da. Wir sind im Jahre 1939, Flüge über den Atlantik sind da eigentlich nicht mehr so up to date. Aber wir vergessen mal Lindbergh, ➱Amelia Earhart und unsere Bremer ➱Helden Köhl, von Hünefeld und Fitzmaurice - schließlich sind wir in einem französischen Film.

Wenn man in Le Bourget ankommt, dann will man den großen Empfang. Den gibt es. Aber man will man auch die geliebte Frau sehen. Die noch dazu eine Marquise ist, nur ihretwegen ist man über den Atlantik geflogen. Unser Pilot heult sich erst einmal im ➱Radio aus. Aber da ist ja noch sein Freund Octave, der von Jean Renoir (der auch der Regisseur des Filmes ist) gespielt wird. Der sagt ihm über die Marquise: Du vergisst, dass sie eine Dame der Gesellschaft ist und diese Gesellschaft hat sehr strenge Regeln. Da sind sie: die Regeln des Spiels.

Aber wer stellt diese Regeln auf, in dieser fantaisie dramatique? Am Ende des Films ist unser Held der Lüfte tot, irrtümlich erschossen in einem Eifersuchtsdrama. In einem Spiel der feinen Gesellschaft, die ein Unten und Oben hat, etwas, das eine Serie wie Upstairs, Downstairs wieder aufnimmt. Oder Robert Altmans Gosford Park (I learned the rules of the game from 'The Rules of the Game' hat Altman gesagt). Oder Downtown Abbey. Wir brauchen immer - seit Shakespeare das Oben und Unten im Drama eingeführt hat - die einfachen Leute, um die feine Gesellschaft besser zu beurteilen.

Er wollte, eine Gesellschaft zeigen, die auf dem Vulkan tanzt (peindre une société qui danse sur un volcan), hat Renoir gesagt. Ein Jahr vor seinem Film war in Deutschland Tanz auf dem Vulkan erschienen, in dem Gustav Gründgens ➱singt:

Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da
die Nacht ist da, dass was gescheh'.
Ein Schiff ist nicht nur für den Hafen da
es muss hinaus, hinaus auf hohe See.
Berauscht euch Freunde trinkt und liebt
und lacht und lebt den schönsten Augenblick.
Die Nacht, die man in einem Rausch verbracht,
bedeutet Seligkeit und Glück.

Goebbels (der übrigens in Renoir unseren filmischen Hauptfeind sah) fand das sehr undeutsch. Der Film, in dem es einen Umsturz des Regimes gibt, wurde zwar nicht verboten, aber der Schlager der Filmversion kam nicht auf die Schallplatte. Das Rebellion! Rebellion in den Katakomben! konnte man da nicht hören.

Der einzige, dem man abkauft, dass er kein falsches Spiel spielt, ist André Jurieux, der Pilot. Von der ersten Minute des Films an, wenn wir ihn aus seinem Flugzeug steigen sehen, gelten seine Gedanken nur Christine - wir glauben ihm, dass er sie wirklich liebt, dass seine Gefühle ehrlich, seine Worte aufrichtig sind. Es gehört zu den brutalsten satirischen Spitzen der Filmgeschichte, wenn Jurieux, der einzige Held des Films, am Ende durch eine absurde Verwechslung zu Tode kommt; wenn er, auf fatal-geniale Weise den Kaninchen in der Treibjagdsequenz ähnlich, in vollem Lauf von einer Gewehrkugel aus Schumachers Waffe zu Boden gerissen wird. 

Sein Tod bekommt durch Renoirs außergewöhnliche Analogieknüpfung zu der Jagd eine Notwendigkeit und macht uns bewusst, dass es Jurieux war, der "die Spielregel" gebrochen hat - allein dadurch, dass ein letzter Funke Ehrlichkeit in ihm lebte. Wenn dann ganz am Ende Robert de la Cheyniest den Gästen vorlügt, sein guter Freund André Jurieux sei durch einen sehr tragischen Unfall ums Leben gekommen und einer der Anwesenden dann so trefflich bemerkt, dass Robert eindeutig "Klasse habe", und zu einer "aussterbenden Art" gehöre, wird ersichtlich und mit einer grimmigen Bitterkeit einleuchtend, was "die Spielregel" ist: 

Sie ist der selbst zerstörerische Kern eines hoffnungslos überholten Anachronismus, der diese Gesellschaft unweigerlich in den Untergang treiben muss. Sagt Janis El-Bira in seiner sehr guten ➱Besprechung des Films, die auch eine hervorragende Inhaltsangabe ist (die kann ich mir jetzt sparen). Nein, der Pilot André Jurieux (gespielt von Roland Toutain) passt mit seinem ➱Trenchcoat nicht in diese Gesellschaft. Sein Freund Octave (Jean Renoir) versichert ihm: Vous êtes un homme, vous, un vrai, c'est une race qui disparait. Und er weiß auch: Le plus terrible dans ce monde c'est que chacun à ses raisons. Das klingt nun ein wenig nach ➱Pascals Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, daß sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.

Luxuröse Automobile fahren vor einem Chateau in La Coliniere vor. Das ist der Anfang. Am Ende erklärt der Marquis De la Chesnaye seinen Gästen, dass der Tod des Piloten ein Unfall war: Messieurs, il s'agit d'un déplorable accident et rien de plus. Mon garde Schumacher a cru voir un braconnier, et il a tiré comme c'était son droit. La fatalité a voulu qu'André Jurieu soit victime de cette erreur. Das sei eine nouvelle définition du mot accident, bemerkt der Aristokrat Saint Aubin, aber ein General widerspricht ihm: Non, non, non, ce La Chesnaye ne manque pas d'classe, et ça d'vient rare, mon cher Saint Aubin, croyez moi, ça d'vient rare.

Es wird nur noch gelogen, wie Octave erkennt: on est à une époque où tout le monde ment: les prospectus des pharmaciens, les gouvernements, la radio, le cinéma, les journaux, alors pourquoi veux-tu que nous autres, les simples particuliers, on ne mente pas aussi? Doch wer zu der Klasse der De la Chesnayes gehört, bestimmt die Spielregeln. Mag die Klasse noch so korrupt sein. Das ist im England der ➱Christine Keeler nicht anders. Kenneth Tynan schickte damals einen Kranz zur Beerdigung, auf der Begleitkarte stand: To Stephen Ward, Victim of Hypocrisy.

Und was ist dazwischen in diesem Film, zwischen den Luxuskarossen und dem Tod? On va faire un drame gai, c'est l'ambition de toute ma vie, hat Renoir gesagt. Dies ist wohl das erstaunlichste Lustspiel der Filmgeschichte, eine Komödie, die auch eine Tragödie ist. Und in der es drunter und drüber geht (Prügeleien unter Gentlemen inklusive), wie in den ➱Screwball Komödien oder bei den Marx Brothers. Der Film hat auch viel vom Boulevardtheater. Sie kennen diese Sorte Theaterstück, bei der das Bühnenbild nur aus Türen besteht, die für das kommende Bäumchen wechsel Dich Spiel gebraucht werden (am Witzigsten in ➱Bogdanovichs Noises Off mit ➱Michael Caine).

Und dann haben wir da noch die Jagd. Wenn man als Marquis einen Jagdaufseher mit Uniform (mit Jagdhorn am Kragen) beschäftigt, dann muss es auch eine ➱Treibjagd geben. Und da scheint die dünne Schicht der Zivilisiertheit von der Gesellschaft abzufallen, sie ballern auf alles, was sich bewegt (manche Kritiker haben hier eine Verbindung zu The Shooting Party von ➱Alan Bridges gesehen). Einzeln mögen sie charmant und/oder skurril sein, als Gruppe werden sie zu einer Mörderbande. Renoirs Kamera (er hat bei dem Film ➱Henri Cartier-Bresson als Assistenten, der darf auch eine kleine ➱Nebenrolle spielen) ist bei der Jagd immer in Bewegung. Und was Schnitt, Montage, mise en scène und besonders den Einsatz der Tiefenschärfe betrifft, da kann sich dieser Film mit Orson Welles' ➱Meisterwerk Citizen Kane messen.

Wenn ein Gast der Marquise sein kleines Fernglas reicht, damit sie ein Eichhörnchen besser sehen kann, schwärmt er von diesem Instrument: Une lunette d'approche est une compagne indispensable. Son optique est si fine et sa disposition est telle que servant de télé-loupe à peu de distance, vous examinez ce petit écureuil sans l'intimider, et vous vous surprenez toute sa vie intime. Und gleichzeitig bieten Renoirs Kameraleute ihr bestes Teleobjektiv auf, um diese Worte ins Bild zu setzen.

Die Marquise (die Octave so umarmen darf, weil er sie schon kannte, als sie noch in Wien die Tochter eines berühmten Dirigenten war, die Marquise wird übrigens von einer österreichischen Fürstin gespielt) sieht nicht nur die intimsten Stellen des Eichhörnchens, sie sieht auch ihren Ehemann, der seine Maitresse küsst. Sie weiß nicht, dass diese leidenschaftliche Umarmung ein Abschiedkuss ist. Das surprenez toute sa vie intime wird Folgen haben. Die Szene ist einer der Wendepunkte der Handlung. Manche Kritiker haben sie (mit dem Eichhörnchen Zitat) als eine ➱Metapher des Filmschaffens von Renoir gesehen.

Dem Film vorangestellt ist ein Zitat von Beaumarchais, das Renoir als Motto auch dient:

Cœurs sensibles, cœurs fidèles,
Qui blâmez l'amour léger,
Cessez vos plaintes cruelles:
Est-ce un crime de changer?
Si l'Amour porte des ailes,
N'est-ce pas pour voltiger?
N'est-ce pas pour voltiger?
N'est-ce pas pour voltiger?

La Régle du Jeu ist eine andere Art von Figaros Hochzeit (lesen Sie auch ➱The Marriage of Figaro, ➱Opernhaus Hannover, ➱Hochzeitsvorbereitungen), es ist ein riesiges Fest, das die Gesellschaft an diesem long week-end feiert. Mit eleganten Roben (der Film ist auch modehistorisch sehr interessant) und elaborierten Kostümen bei der Theateraufführung, in dem Bärenfell steckt natürlich Jean Renoir.

Mit dieser Szene macht Renoir uns deutlich, dass das Ganze ein danse macabre ist. Diese Gesellschaft ist zum Untergang verurteilt. Der französische Film letztlich auch, dies ist der Höhepunkt des französischen Films der dreißiger Jahre. Wenn wir einmal von Carnés Les Enfants du Paradis, der noch während des Kriegs gedreht wurde (es gibt hier einen Post zu ➱Arletty), absehen, reicht da lange Zeit nichts an den Film der dreißiger Jahre heran.

Octave, der einen Freund verloren hat, reist vorzeitig ab. Er will nicht auf das warten, was der Marquis angekündigt hat: Messieurs, demain nous quitterons le château en pleurant cet ami exqui, ce compagnon de qualité qui avait su si bien nous faire oublier qu'il était un homme célèbre. Et maintenant mes chers amis, il fait froid, vous risquez de prendre un mal, je me permet de vous conseiller de rentrer. Demain nous rendrons nos devoirs à notre ami Jurieu. Das Spiel geht ohne ihn weiter. Ihn begleitet der Wilderer Marceau, der an so Vielem in dieser verworrenen Handlung Schuld ist. Où tu vas toi? fragt Octave Marceau: Dans les bois. J'vais tâcher d'bricoler un p'tit peu... Par ci par là... Et vous? Octave: Ah moi j'vais aller à Paris. J'vais essayer de m'débrouiller. Entwirren müssen wir uns alle nach diesem Film, ich habe ich ➱hier ein wirkliches Leckerli, das dabei helfen kann. Man kann M. Roudakoff nur dankbar für diese Seiten sein. Und wenn Sie noch mehr an Interpretationshilfe haben möchten, hätte ich hier noch einen vorzüglichen Aufsatz des Harvard Professors Arthur Goldhammer.

Obgleich Filmkritiker und Filmhistoriker La Régle du Jeu heute als einen der wichtigsten Filme des 20. Jahrhunderts sehen, und obgleich Liebesverwirrungen sonst etwas sind, das das französische Publikum liebt, war dieser Film (der teuerste Film der damaligen Zeit) ein Flop. Wurde auch nach der Erstaufführung von der französischen Regierung verboten, von den Nazis sowieso. Nach dem Krieg kam der Film als verstümmelte Fassung wieder in die Kinos. Es dauerte bis 1959, dass in Venedig eine vollständige Version gezeigt wurde. Premiere in Deutschland hatte Die Spielregel am 5. März 1968 in der ARD. Ins Kino kam er erst 1972 (obgleich man in Kommunalen Kinos schon vorher Fassungen sehen konnte).

Heute vor 76 Jahren wurde La Régle du Jeu zum ersten Mal gezeigt. Es gibt ihn heute in der vollständigen Fassung auf DVD in der Edition Cinema Francais Nr. 28 mit deutschem und französischem Ton. Ich habe eine DVD vom British Film Institute (Original und englische Untertitel), die noch 42 Minuten Extras enthält. Die englischen Untertitel haben für etwas Verwirrung gesorgt, so finden wir in der kritischen Literatur zum Beispiel Jurieux und Jurieu, La Chesnaye und La Cheysniet. Bei Diogenes ist 1981 das Drehbuch erschienen. Gleichzeitig gab es in der Reihe Medienbibliothek (die damals auch ein Transkript von ➱She wore a yellow ribbon im Programm hatten) ein Transkript von einem Kollektiv junger Filmwissenschaftler. Vor drei Tagen konnte man den Film noch in ganzer Länge bei YouTube sehen, jetzt ist er leider weg. 

Jean Renoir schreibt in seiner Autobiographie: Nous sommes mystifiés, on se fiche de nous. J'ai la chance d'avoir dès ma jeunesse appris à reconnaître la mystification. Dans 'la Règle' je fais part de ma découverte au public, et le monde n'aime pas ça. Das hat sich geändert, inzwischen liebt die Welt den Film: Ich weiß keinen anderen Filmemacher, der so viel von sich selbst - und das beste von sich selbst - in einen Film gelegt hätte wie Jean Renoir in La Regle du Jeu, hat François Truffaut gesagt. Und er hat auch in Les films de ma vie geschrieben: La règle du jeu, c'est le credo des cinéphiles, le film des films, le plus haï à sa sortie, le plus apprécié ensuite jusqu'à devenir un véritable succès commercial.

Wenn Sie den ganzen Film sehen wollen, dann klicken Sie hier.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen