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Dienstag, 24. November 2015

Nachtfahrt


Ich hatte den Namen dieses kleinen Kaffs am Deich über die Jahre beinahe vergessen, da hörte ich ihn morgens im Verkehrsfunk. Ich hatte den Namen natürlich nicht wirklich vergessen, weil da diese Freitagnacht im November vor fünfzig Jahren war. Ich dachte mir, ich schreibe mal drüber. Ich hatte auch sofort einen Titel: Nachtfahrt.

Der Titel kam mir schnell, weil die Musik von der neuen CD Nachtfahrten von dem Jazzpianisten Michael Wollny in diesen Wochen immer wieder durch meine Wohnzimmer schwappt. Ich kannte Wollny bisher immer nur zusammen mit Heinz Sauer (den ich schon in dem Post Don Byas erwähnt habe), von den beiden habe ich auch mehrere CDs. Ich wusste nicht, dass Nachtfahrten eine Themen CD ist, aber das weiß die Welt ganz genau: In Frankreich und England ist er der Jazzmusiker der Stunde. Mit seiner neuen CD 'Nachtfahrten' tut der Pianist Michael Wollny das, was die Deutschen besonders gut können: Der Welt das Gruseln lehren. Wir lassen mal den Dativ durchgehen, es ist halt die Welt. Die uns versichert, dass 'Nachtfahrten' das reifste Werk von Deutschlands unheimlichstem zeitgenössischen Musiker ist.

Wir sind angeblich in der Welt der Gothic Novel (zu der es hier einen langen Post gibt), ich habe das leider beim bisherigen Hören nicht gemerkt. Michael Wollny soll seinem Produzenten das Buch Nachtmeerfahrten: Die dunkle Seite der Romantik von Simone Stölzel geschenkt haben, und als die neue CD einen Titel brauchte, hat der sofort gesagt: Nachtfahrten. Das Buch Nachtmeerfahrten von Simone Stölzel ist ganz nett, es ist sozusagen Mario Praz' Buch Liebe, Tod und Teufel (The Romantic Agony) in einer light Version. Ich kann nichts gegen das Buch sagen, das auch schön bibliophil (Die Andere Bibliothek Band 338) aufgemacht ist. Und mich einen Euro beim Hinterhofhöker gekostet hat. Gegen solche Bücher sage ich überhaupt nichts. Und den Roman von Brigitte Kronauer für einen Euro habe ich nach meinem endgültig letzten Leseversuch wieder zurückgebracht und wieder dort ins Regal gestellt. Eschi wollte ihn nicht haben.

Aber ich wollte eigentlich über etwas anderes schreiben, über diese Fahrt in der Nacht, die nichts mit Michael Wollnys CD und literarischen Nachtfahrten zu tun hat. Wenn man zu viele Bücher von Henry Fielding und Laurence Sterne gelesen hat, färbt das irgendwann auf den Stil ab: man neigt zu Digressionen. Ich tue das immer. Und da ich Sterne erwähne: Es ist mir nicht so ganz klar, weshalb seit Wochen der Post Trismegistus so häufig gelesen wird (der Post Laurence Sterne dagegen gar nicht). Laurence Sterne hat erst heute Geburtstag. Ich könnte jetzt diese Abschweifung - die als Geburtstagsgruß gedacht ist - noch abschweifender ausgestalten, doch ich muss diese andere Geschichte erzählen. Nicht vom Onkel Toby und dem Festungsbau, sondern die Geschichte dieser Freitagnacht in einem November vor fünfzig Jahren. Ganz ohne Abschweifungen. Und ohne Gothic Novel. Dunkelheit, Nebel und Blut hätte ich allerdings zu bieten:

       Der Anruf kam um kurz nach zehn. Von irgendeiner kleinen Kneipe weit draußen. Die hätten da einen randalierenden betrunkenen Soldaten von uns, wir sollten den bitte schön abholen. Ich hasste das, wenn es einen am Wochenende mit dem Job des Offiziers vom Dienst erwischte, aber das half nun mal nichts. Ich packte mir den Jeep voll mit halbwegs zuverlässigen Soldaten und fuhr los. Es war zappenduster, und es regnete. Die Scheibenwischer von dem Bundeswehr Jeep kann man vergessen. Als wir aus der Stadt heraus waren, hörte der Regen auf, doch als wir den Deich erreichten, kamen Nebelschwaden auf.

Wir fahren quälend lange auf dem schmalen Deich, der nie aufzuhören schien. Dann sehen wir die kleine Kneipe im Kegel der Scheinwerfer, alle Lichter sind an. Alle Scheiben der Fenster und der Tür sind zerschlagen. Es riecht nach Blut. Ich weiß mittlerweile aus vielen Manöverunfällen, wie Blut riecht. Den Geruch vergisst man nie wieder. An der Theke hängt ein völlig besoffener Soldat, die Ärmel seiner Uniform sind zerfetzt. Hier war eine Hochzeit, aber die Hochzeitsgesellschaft ist verschwunden. Die Braut war mal seine Freundin. Auf die Idee ihn zu verbinden und einen Krankenwagen zu rufen, seid ihr wohl nicht gekommen, was? herrsche ich den Wirt an. Und dann zwinge ich ihn, seine besten Tischdecken herauszugeben. Das Leinen ist halbwegs steril, damit verbinden wir ihm die Arme, die er sich an den Glasscheiben aufgeschnitten hat. Die Hände verbinden wir mit dem Verbandszeug aus dem Jeep. An den Armen suppt das Blut zwar noch durch, aber es ist erstmal besser als nichts.

Der betrunkene Soldat will mir die ganze Geschichte seiner Liebe erzählen, sie seien doch schon beinahe verlobt gewesen, dann hätte sie diesen anderen aus dem Nachbardorf genommen. Ich will das jetzt nicht hören, ich will ihn nur schnell ins Krankenhaus bekommen. Ich lasse zwei Mann von der Wache zurück, wir passen nicht mehr alle in den Jeep, weil der Verletzte die Rückbank bekommt. Kriegt vom Fahrer noch etwas übergeworfen, wofür Pferdedecke ein höflicher Ausdruck wäre. Ich sage dem Wirt, dass er den Soldaten, die ich zurückließe, ein Taxi rufen solle. Das er dann bezahlen würde. Warum sollte ich das tun? fragt er. Weil ich Sie sonst wegen unterlassener Hilfeleistung rankriege, sagte ich. Das sind diese dumm-bräsigen Bauern hier, die brauchen diese Sprache. Ich kenne die Gegend. Zu meinem Fahrer sage ich: Tritt drauf! Und dann drehe ich mich um und sage zu dem Soldaten, der auf dem Rücksitz liegt: Und jetzt erzähl mir Deine Geschichte. Ich will nicht, dass er einschläft oder ohnmächtig wird. Solange er die traurige Geschichte einer verlorenen Liebe erzählt, hat er einen Grund, wach zu bleiben. Das ist die Magie von Geschichten, in dieser kalten Nebelnacht oder in tausendundeiner Nacht. Plaisir d'amour ne dure qu'un moment, chagrin d'amour dure toute la vie.

Sie werden ihn in der Chirurgie zwei Stunden lang operieren, das warte ich aber nicht ab. Wenn ich zur Wache zurückkomme, sind die beiden Soldaten dank des Taxis längst da, sie bewundern die Art, wie ich mit dem Wirt umgesprungen bin. Sie riechen nach Alkohol, haben natürlich ein Bier getrunken, obgleich das bei Wachsoldaten ein Dienstvergehen ist. Hat’s geschmeckt? frage ich sie, sie kriegen einen roten Kopf. Bei der Aufnahme im Krankenhaus wurde festgestellt, dass der Soldat überhaupt nicht zu unserer Kaserne gehört. Für den wäre ein ganz anderer OvD in einer ganz anderen Kaserne der Stadt zuständig gewesen. Ich rufe am nächsten Morgen das Krankenhaus an. Er wird überleben, aber es sei sehr knapp gewesen, sagt mir der Chirurg.

Was mag aus ihm geworden sein? Das Leben besteht aus Geschichten, von denen man manchmal nur einen Schnipsel kennt. Manchmal schreibt man sie im Kopf weiter. Wie Träume. War die Braut so schön, dass einer in einem Verzweiflungsakt beinahe sein Leben aufs Spiel setzt? Oder war sie nur eins von den Bauerntrampeln, die er beim nächsten Schützenfest wieder aufreißen kann? Voi che sapete che cosa e amor, Donne, vedete s'io l'ho nel cor.

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