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Freitag, 30. September 2016

Botulismus


Was Botulismus ist, wusste ich schon, als ich noch klein war. Ich las immer auf die Schnelle die Lesemappen, bevor mein Vater die ins Wartezimmer legte. Und in der Kristall gab es einmal eine abenteuerliche Fortsetzungsgeschichte (alle Illustrierten hatten in den fünfziger Jahren abenteuerliche Fortsetzungsgeschichten), worin alle Passagiere eines Flugzeugs von Botulismus befallen waren. Ich weiß nicht mehr, wie die Sache ausging, aber ich beschloss, niemals in einem Flugzeug Bohnensalat zu essen. Dabei kann der sehr lecker sein. Jahre später sagte ich beim Mittagessen: Ich möchte lieber keinen Bohnensalat. Ich dachte dabei allerdings nicht an die Insassen des Flugzeugs. Meine Mutter guckte mich erstaunt an, da sagte ihre Freundin Marietta, die an dem Tag mit uns am Tisch saß: Wahrscheinlich ist wieder Willi Klevenhusen schuld. Sie hatte auch Kinder auf dem Gymnasium und kannte die Sache schon. Sie ahnte, dass der Biologielehrer Dr Willi Klevenhusen mal wieder seine flammende Rede über die Gefahren des Botulismus gehalten hatte.

Dem war auch so. Dr Klevenhusen, der ansonsten ein eher ruhiger Naturwisssenschaftler war - und der schon über die Selbstreinigungskraft des Flußwassers geforscht hatte, als die Politik dieses Thema noch nicht entdeckt hatte - steigerte sich bei seinem Botulismus Vortrag immer ein wenig ins Melodramatische. So ähnlich wie ➱Charles Dickens auf seinen Vortragsreisen, der nicht glücklich war, wenn bei der Mordszene aus Oliver Twist nicht in den ersten Reihen einige Damen ohnmächtig wurden. Willi Klevenhusens rhetorischer Erfolg war, dass die Schüler zu Hause den Bohnensalat verschmähten.

Aber die Gefahren sind natürlich da, wie wir hier an diesem Botulismus Opfer sehen können. Dies ist ein Bild aus dem Tatort Feierstunde, den uns die ARD am letzten Sonntag bescherte. Wir sind in Münster, einer der kriminellsten Städte Deutschlands, nicht nur wegen der anarchistischen Radfahrer. Dass Münster kriminell ist, das wissen wir aus Wilsberg und den Tatort Sendungen mit Boerne und Thiel. Es gibt ja Städte, die für das Verbrechen geschaffen scheinen. Wie ➱Oxford (Oxford [ist] die ideale Brutstätte für Mordgedankenund ➱Midsomer. Oder eben Münster.

Für diesen neuen Tatort vom Sonntag brauchen wir einen verrückten Professor. Wie diesen Herrn hier. Der hat sich im letzten halben Jahr im Darknet so viele Waffen verschafft, dass er eine halbe Infanteriekompanie damit ausrüsten könnte. Weil er seinen Kollegen Boerne umbringen will: Ich schieße ihn vor allen Leuten in sein kleines selbstgerechtes Herz. Ich will ihn krepieren sehen, sein Ego, seine Hybris, seine Eitelkeit. Das mit den Waffenkäufen ist natürlich niemandem aufgefallen. Und seine Psychiaterin findet die Waffenkäufe auch nicht bedenklich. Im erzkatholischen Münster ist so etwas offensichtlich üblich. In Oxford oder Midsomer würde das auffallen.

Nun kommt es leider zu unschönen Szenen. Hier bedroht unser verrückter Professor (der gar kein richtiger Professor, sondern nur ein Juniorprofessor ist) gerade den Dekan seiner Fakultät. Das tut man nicht unter Akademikern. Einen Dekan redet man mit Spectabilis an, aber hält ihm keine Pistole an den Kopf. Der verrückte Professor hat ja eine lange Tradition in der populären Kultur, von Doktor Victor Frankenstein bis zu Dr Emmett "Doc" Brown.

Nicht immer tritt der mad scientist so auf. Man erkennt den verrückten Professor nicht gleich, vor allem, wenn er wie Professor Götz im Tatort Feierstunde ständig therapiert wird. Allerdings hat die Sache hier einen kleinen Haken, denn die Therapeutin ist auch komplett verrückt. Und will ebenso wie ihr Patient den guten Professor Boerne unter die Erde bringen. Und an dieser Stelle bietet sich das gute alte Botox an. Damit hat sie mit tödlichen Folgen mal experimentiert, bis sie von der Uni flog.

Botox wird normalerweise von Schönheitschirurgen für die kurzzeitige Verschönerung von Filmstars und Filmsternchen verwendet. Wie zum Beispiel dieser Dame. Die, ich wiederhole das noch einmal, nicht mit ➱Donald Trump verwandt ist. Botox ist - wie der schlecht gewordene Bohnensalat - ein tödliches Zeug. Das der arme Boerne jetzt intus hat, weil sein Intimfeind es in die Partyhäppchen injiziert hat. Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis macht's, daß ein Ding kein Gift sei, sagt Paracelsus.

Ich nehme an, dass Drehbuchautor und Regisseur auch ganz viel von diesem Nervengift in sich gehabt haben, als sie diesen Schwachsinn produzierten. Der Spiegel urteilte: Der gesellschaftspolitische Auftrag: Keiner vorhanden. Zwar wird hier - von ALS und Sterbehilfe bis Darknet und Amoklauf - reichlich öffentlich-rechtlicher Debattenstoff verwurstet, aber lediglich als Erzählgimmicks für eine Thrillergroteske. Statt aufklärerischem Gestus gibt es nur kranken Humor, als Talkshowfutter taugt das nicht. Ich habe übrigens bei diesem Schwachsinn in aller Ruhe acht Hemden gebügelt.

Am Ende des Tatorts ist Boerne tot. Gottseidank, möchte man ausrufen. Aber er ist nicht wirklich tot, dann wäre der 30. Tatort aus Münster ja der letzte gewesen, und die Münsteraner Tatorte sind die beliebtesten in Deutschland. Boerne und Thiel bekommen pro Tatort 120.000 Euro. Jeder. Jetzt wollen sie das Doppelte. Da kann man mal sehen, was der Genuss von Botox anstellt. Der gute Boerne wird nicht auf das viele Geld verzichten, er hat sich ja nur tot gestellt. Pathologen wissen, wie man so etwas macht. Und deshalb verzichtet die Psychotherapeutin, ihn zu erschießen, so wie sie gerade den Juniorprofessor erschossen hat. Mitten ins Herz. Just, als der die Sinnlosigkeit seines Tuns einsah. Seit ➱Rudyard Kipling wissen wir: the female of the species is more deadly than the male. 

Diesen Herrn konnte man am Sonntag auch sehen. Er war aber nicht im Tatort, obgleich er mit dem Gesicht und seinem miesen Charakter prima einen Verbrecher spielen könnte. Caesare Lombroso hätte seine Freude an ihm gehabt. Er hat am Sonntag auch gemeuchelt, nicht mit der pumpgun oder Botox, nur mit dem Telephon. Und hat später, von Reportern bedrängt, den wunderbar schwachsinnigen Satz gesagt: Ich bin nicht für die Außendarstellung verantwortlich. Es wird Bruno Labbadia sicher trösten, dass Dietmar Beiersdorfer vor Jahren in einem Gespräch mit Chrismon gesagt hat: Ja. Demut ist ein Führungsprinzip. Ich möchte nach außen wie nach innen in den Club hinein derjenige sein, der geerdet ist, der sich zurücknimmt, der versucht, allen mit Toleranz zu begegnen. Ich verstehe unter Demut, jeden Menschen so zu achten und so zu behandeln, wie ich auch gern behandelt werden möchte.

Um Demut ging es in dem Krimi Feierstunde auch, der arrogante Boerne sollte ein besserer Mensch werden. Dies ist die Münsteraner Version einer griechischen Tragödie, hier geht es um ➱Katharsis. Für den Regisseur Lars Jessen war der Film über weite Strecken ein Kammerspiel. Glücklicherweise hat er nur von Kammerspiel geredet und es nicht gewagt, seinen Zelluloidschrott zu einer Art Huis Clos zu stilisieren. Diese drei Akademiker knobeln gerade aus, wer dem Professor Boerne zu einem schnelleren Tod verhelfen soll. Gott schuf den Professor, aber der Teufel die Kollegen. Oder, um bei Sartre zu bleiben: l' enfer c'est les autres.

Ist jemand für die Außendarstellung der ARD verantwortlich? Könnte dieser Lutz Marmor, der mehr als 300.000 Euro im Jahr verdient, nicht mal dafür sorgen, dass solcher Schwachsinn wie der Tatort Feierstunde gar nicht erst produziert wird? Nein, das kann er nicht. Weil er schon den ➱Til Schweiger Tatort ganz toll fand. Da hat er nicht daran gedacht, dass da im Gesetz steht, das für die ARD gilt: Gewalt darf nicht verharmlost oder verherrlicht werden. In dem Zusammenhang muss ich sagen, dass ich in dem Post zu ➱Frank Finlay geschrieben habe: Man finanziert diesem grenzdebilen Til Schweiger seinen Zelludloidschrott Tschiller: Off Duty (ein krachender Action-Film, der richtig viel Spaß macht, so der NDR). Das darf man über Deutschlands beliebtesten Schauspieler nicht sagen, der hat Abitur. Es ist einem damals bei Manta, Manta nicht aufgefallen. Hat der Juniorprofessor Götz die Til Schweiger Tatorte gesehen? Hätte er sich auch für die Beseitigung von Boerne eine Panzerfaust im Darknet bestellen sollen?

Es ist Til Schweiger nicht gelungen, dass die ARD den Vorspann für den Tatort aufgegeben hat. Das hätte er gerne gehabt. Der Vorspann ist das einzige, was die Tatort Sendungen noch eint, vom ➱Usambaraveilchen bis zur Feierstunde. Ich habe das Usambaraveilchen erwähnt, weil hier Kriminalhauptkommissar Melchior Veigl (gespielt von Gustl Bayrhammer) seinen letzten Fall hatte. Bayrhammer hat dann bei seinem Abgang so nett gesagt: Des Krimifach, des is doch scho lang a abg’mahte Wies’n. Doa passiert nix mehr.

Beinahe jeden Tag gibt es Kochshows im deutschen Fernsehen. Wenn Clemens Wilmenrod das noch erlebt hätte! Jeden Tag neue Gerichte, von belgischer Moppelkotze bis zum Avocado Papaya Salat. Doch selten bereiten die Fernsehköche einen guten Bohnensalat zu. Die Fernsehsender tischen uns noch etwas anderes auf: jeden Tag kann man quer durch die Sender 19 Stunden Krimis sehen, mindestens 50 Krimis gibt es jede Woche. Ist unsere Gesellschaft kriminell?

Gibt es überhaupt Beziehungen zwischen Krimi und Gesellschaft? Siegfried Kracauer war der Meinung, dass man die Filme einer Nation als eine Art Psychogramm der Gesellschaft sehen kann. Sein From Caligari to Hitler (➱hier im Volltext) ist ein überzeugendes Buch. Doch wir möchten lieber nicht daran denken, was dabei herauskäme, wenn man alle deutschen Krimiserien (➱hier eine Liste von dem, was da so gesendet wird) auf ihren ideologischen Gehalt untersuchen würde. Die Krimiserien sind fiktive Geschichten, dies sind nicht die Stahlnetz Filme von Jürgen Roland, die auf wahren Begebenheiten basierten. Und auch die meisten Kriminalromane, deren illegitime Kinder die Fernsehkrimis ja sind, haben nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Sagt auch eine Romanfigur in ➱Michael Innes' Roman Lament of a Maker: I have always felt a curious attraction in romances of detection—a species of popular fiction which bears much the same relation to the world of actual crime as does pastoral poetry to the realities of rural economy.

Es juckt mich ja ein wenig in den Fingern, zu dem Thema etwas zu schreiben, vielleicht fange ich irgendwann mal mit den deutschen Regionalkrimis an. Zum Beispiel dem Polizeiruf 110, dem Tatort Pendant der DDR. Ich würde mir die Folgen aus Schwerin mit Kurt Böwe und Uwe Steimle nehmen. Und natürlich München Mord oder Kluftinger. Die ➱Nachtschicht nicht zu vergessen, wahrscheinlich das Beste, das hierzulande produziert wird. Diese drei Damen hier sind nicht auf deutschen Straßen unterwegs. Sie sind die Hauptdarstellerinnen der englischen Serie ➱No Offense, hundert Mal besser als der Tatort Feierstunde.

Der deutsche Tatort ist hier schon in den Posts ➱Tatort und ➱Tatorte ein Thema gewesen. Sie könnten auch noch diese Posts lesen: Sjöwall WahlööHenning MankellInspector LewisEndeavourInspector GentlyGiftmord, Derrick

Der Tatort Feierstunde ist noch zwei Tage in der ➱Mediathek, aber erst ab 20.00, weil der Film nicht jugendfrei ist.

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