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Freitag, 30. Dezember 2016

Klassentreffen


Der Konny war unser Klassensprecher in der 10 L1, er organisiert heute noch immer die Klassentreffen. Ich war sein Stellvertreter, aber ich organisiere nichts. Klassentreffen sind nicht so meine Sache, das habe ich schon in dem Post ▹Ehemalige gesagt. Und so habe ich dem Konny letztes Mal absagen müssen, obgleich ich mit dem Gedanken spielte, da mal im Havenhaus in Vegesack zu erscheinen. Da haben wir auch unser Abitur gefeiert, ich erkenne mich noch auf dem Gruppenphoto vor dem denkmalgeschützen Haus. Ich weiß von der Feier wenig, außer dass ich gesagt habe, dass ich mit dreißig einen grünen ▹Jaguar mit roten Ledersitzen haben würde. Ich war wohl schon ziemlich betrunken. Um einen Kasten Sekt habe ich mit dem ▹Klaus gewettet, aber niemand hat sich später daran erinnert. Old men forget.

Über das Klassentreffen im vorletzten Jahr war ich bestens unterrichtet, weil ich lange mit dem Burchi, der so phantastisch Klavier spielen konnte, telephoniert habe. Er hat mir beiläufig gestanden, dass er überhaupt keine Noten lesen konnte. Ob der Lizzie, der Jazzpianist hätte werden können, Noten lesen konnte, das weiß ich nicht. Unser Musiklehrer ▹Ernst Meißner war von Lizzies Künsten überhaupt nicht beeindruckt, Jazz war für ihn keine Musik. Für uns schon.

Burchi ist Arzt geworden wie sein Vater. Bei ihnen zu Hause lag ein Eisbärenfell, mit einem richtigen Eisbärenkopf dran, im Wohnzimmer vor dem Klavier. Also so etwas, worüber der Butler in ▹Dinner for One immer stolpert, aber ich glaube, da ist es ein Tiger und kein Eisbär. Und der Peter aus Glückstadt (auch Arzt wie sein Vater) hat mir Dutzende von Photos zugeschickt, die er dann per Telephon kommentierte. Das wird er dieses Jahr nicht tun, denn er ist im April gestorben. Leben ist Brückenschlagen über Ströme, die vergehen, haben seine Kinder auf die Traueranzeige setzen lassen. Das ist jetzt das Problem mit den Klassenfesten der Kriegsjahrgänge, wir werden von Jahr zu Jahr weniger. Für meinen Klassenkameraden ▹Wuddel habe ich schon vor Jahren einen Nachruf geschrieben. Der Konny hat den ausgedruckt und an alle aus der Klasse geschickt, der Konny kümmert sich. Ich bewundere das.

Irgendwie hängen wir immer noch zusammen, ob wir es wollen oder nicht. Es ist ein unsichtbares Netz, das manchmal an einem zieht und zerrt, wenn die Erinnerungen zusammen mit den Todesanzeigen kommen. Immmer dann, wenn Faulkners Satz Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen wieder einmal wahr wird. Manche aus der Klasse bleiben für ewig verschwunden. Der Dieter, der uns in ▹Paris soviel Ärger bereitete, soll irgendwo im südamerikanischen Dschungel geblieben sein. Ich besaß immer Listen, auf denen alle aus der Klasse mit Adressen (und später mit ihren E-Mail Adressen) standen. Der Achim und der Eckehart haben diese Listen zuerst erstellt. Eckehart hat immer die Mütter angerufen, um nach der Adresse des Sohnes zu fragen. Er konnte gut mit Müttern, meine Mutter schwärmte von ihm. Manche aus der Klasse waren nie auf den Listen, die waren einfach weg.

Was immer aus meinem Freund ▹Charlie geworden ist, der mich damals zur Lektüre von ▹Jack Kerouac gebracht hat, und mit dem zusammen ich Kartenabreißer bei Jazzkonzerten war. Wenn alle drin waren, durften wir auch rein, umsonst. Als ich ihn das letzte Mal sah, trug er die ▹Uniform eines Leutnants der Feldjäger, danach habe ich ihn nie wiedergesehen. In unserer Stammkneipe, wo ich routinemäßig nachfragte, hatte niemand etwas von ihm gehört. Eckehart ist auch schon tot. Er schrieb Gedichte und schickte mir immer seine Bände. Ich mochte ihm nie sagen, wie schlecht die Gedichte waren. Leben ist Brückenschlagen über Ströme, die vergehen ist nicht von ihm, das ist von ▹Gottfried Benn.

Der Eckehart war eine gute Seele, ich mochte ihm nicht wehtun. Unsere Klasse hat keine wirklichen Dichter oder Romanciers hervorgebracht. Die ▹Gedichte, die wir schrieben, hüteten wir in der Schreibtischschublade. Da waren sie gut aufgehoben. In der Parallelklasse gab es mal einen, der mit mir in der Theater AG war, der hat später Romane geschrieben. In der Jugend sah er aus wie der junge ▹Parzival, da hatte ich ihn während der Proben photographiert. Im Alter ist er fett geworden, als ich ihn vor Jahren traf, hat er mich nicht wiedererkannt. Ich ihn auch nicht.

Der Klassenlehrer unserer Lateinklasse, den ich schon in dem Post ▹Bremer Klausel erwähnt habe (auf dem Photo hier sitzt er neben dem Konny), ist im letzten Jahr ▹gestorben. Er hat mir vor Jahren das Du angeboten, damals haben wir uns lange über das Leben unterhalten. Er ist ein guter Mensch gewesen. Er hat meiner Cousine Hannelore vor vielen Jahren mal beim Kaffee erzählt, dass ich einer der besten Schüler der Schule gewesen sei. Das stimmt nun wirklich nicht, aber es zeigt, wie nett der Gustav war. Der in dem Post Bremer Klausel erwähnte Jürgen, dem Gustav Nachhilfeunterricht in Matte gab, ist natürlich Jürgen Trittin gewesen. Der war auch auf meiner Schule.

Wie auch ▹Bernd Neumann, der Erich Frieds Werke verbrannt sehen wollte. Für den haben wir uns schon damals geschämt. Hatte noch kein Abitur und war schon in der Partei. Ich schäme mich noch immer für ihn. Ist fremdschämen hier das richtige Wort? Ich brauchte keinen Nachhilfeunterricht in Matte bei Gustav. Die Fünf, die ich mir einmal bei ▹Walter Dohrmann (der schon meine Mutter am Lyceum unterrichtet hatte) eingefangen hatte, habe ich ganz einfach dadurch ausgebügelt, dass ich die Schularbeiten gemacht habe. Und sie nicht morgens vom Klassenbesten abschrieb, wie es meine Art war. Und dann habe ich das ganze Schuljahr eine Eins nach der andern geschrieben, bei den schwierigsten Kurvendiskussionen. Das hat das kleine mathematische Weltbild von Dohrmann zum Einsturz gebracht.

Von meiner Volksschulklasse kenne ich noch alle mit Namen, ich brauche nur ein Photo (wie das von der ▹Hafenrundfahrt in Hamburg Anfang der fünfziger Jahre) zu sehen und kann jeden identifizieren. Meine Sandkastenlieben zuerst. Dann die aus der Nachbarschaft. Und die kleine Schlampe unten aus dem Ort, die mit sechzehn mit einem gehäkelten Bikini aus grüner Wolle zum ▹Schönebecker Sand kam, die habe ich natürlich auch nicht vergessen. In der Volksschule (sechs Jahre, dafür hatten die amerikanischen Besatzer gesorgt) gab es selbstverständlich Mädchen, im Gymnasium nicht. Frauen gingen zum Lyceum, dazwischen war eine Straße, die durften wir nicht überqueren. Wir wussten, wovon das Lied von den zwei Königskindern handelte. Irgendwann wurde auch bei uns die Koedukation eingeführt. Ich weiß noch genau, wann das war. Das war das Jahr, als mir Renate ▹Liebesbriefe nach Frankreich schickte.

Die Leute auf dem Photo vom ▹Abtanzball kenne ich beinahe auch alle - bis auf die Frau neben mir, die mir für den Abend zugelost worden war. Ich weiß zwar immer noch, wo sie wohnte, weiß aber nicht mehr, wie sie hieß. Weil ich nur Augen für eine andere hatte. Von vielen kenne ich die ganze Lebensgeschichte. Nicht von allen. Manche habe ich auch schon in diesen Blog hinein geschrieben, der häufig ein Stückchen Autobiographie ist. Wie die Annegret, die so schön singen konnte, die sich jetzt in dem Post ▹Ingeburg Thomsen wiederfinden könnte. Wenn sie diesen Blog lesen würde. Das ist übrigens ein Post, der mir sehr gefällt. Nicht nur, weil er bei Google ganz oben steht, sondern auch, weil so viel tausend Leser den schon angeklickt haben. Annegret, die so herzzereißend schön You are my sunshine singen konnte, war bei uns in der Volksschule ein Star. Im wirklichen Leben nicht, obgleich sie auch mit vierzig noch gut aussah, als sie aus Kalifornien zu Besuch in ihren Heimatort gekommen war. Ingeburg Thomsen, die ich in Hamburg singen hörte, war mal ein Star, aber sie ist leider in der Versenkung verschwunden.

Manche aus der Klasse sind ein bisschen berühmt geworden. Der Konny unbedingt. Hat alle möglichen Titel und war Richter an höchsten Gerichten. Ist aber dank der Siegrun, mit der ich in der Volksschule war, auf dem Boden geblieben. Die machen immer noch Urlaub auf Langeoog, nicht in der Karibik. Langeoog bedeutete uns damals viel, das steht aber ▹hier schon. Und dann ist da noch der Edu, der ist ein hohes Tier bei der Weltbank in Washington geworden. Hätte ihm niemand zugetraut. Viele aus der Klasse sind Politiker geworden.

Wie ▹Gert Börnsen, der leider auch schon tot ist. Hat in diesem Blog einen Nachruf, den die ganze schleswig-holsteinische SPD gelesen hat. Weil die Gisela, die mal ▹Kultusministerin war, den Text an alle geschickt hat. Dann ist da noch der Claus, der mal Bürgermeister von Bremen war, der aber meine E-Mails nicht beantwortet hat. Das mit den E-Mails ist sowieso ein Problem. Ich wollte den Frank erreichen, aber der hat nie geantwortet. Als ich mich bei einem Klassenkameraden darüber echauffierte, sagte der: Weißt Du, der Frank ist zu doof für'n Computer, und seine Sekretärin hat das wahrscheinlich verschusselt. Wahrscheinlich ist das mit dem Claus genau so, denn das letzte Mal, dass wir uns sahen, haben wir uns umarmt und eine Stunde lang inmitten der Menschenmenge eines Volksfestes gequatscht (inzwischen funktioniert das auch mit den Mails).

Das letzte Mal, das letzte Mal ... Jedes Treffen kann das letzte Mal sein. Das letzte Mal, dass ich den Konny gesehen habe, ist auch schon Jahrzehnte her. Das war ein Treffen der Evangelischen Jugend mit unserem alten Diakon ▹Nebelung, der inzwischen längst Pastor war. Es war ein schöner Abend. Der Konny war damals wohl schon Staatssekretär. Ich bin hinterher mit dieser ▹schönen Frau abgeschwirrt, die die Liebe meines Lebens war, und die heute nicht mehr mit mir reden will. Richtig zickig. Da kannste nichts machen, die iss einfach so, hat mir Ute gesagt. Wir kennen uns alle zu gut, wir waren alle in einer Klasse in der Volksschule in der Nachkriegszeit, zusammengepfercht auf engstem Raum. In meiner Erinnerung hat die Nachkriegszeit etwas Klaustrophobisches, dem man am besten entkam, wenn man auf Weserdeichen spazierenging. Die schöne Frau war immer eifersüchtig auf die singende blonde Annegret, denn sie konnte selbst auch sehr schön singen. Das habe ich schon in dem Post ▹Mein Dänemark geschrieben. Ein Post, der offensichtlich ganz viele Leser erfreut. Auch das ▹Schreiben ist Brückenschlagen über Ströme, die vergehen. Ich bin hemmungslos subjektiv, ich erzähle meine Geschichte. Wieder und wieder. Sieh, liebes Kind, das ist ein Vorzug, den die Leute haben, die nicht schreiben: sie kompromittieren sich nicht.

Der Konny, mit dem ich immer abends beim Bauern Pundt Milch geholt habe, ist zu der Beerdigung von Wuddel und der von Pastor Nebelung gefahren. Ich vermeide Beerdigungen. Wie Klassenfeste. Aber ich habe eine Stunde mit Wuddels Frau telephoniert und Frau Nebelung einen langen Brief geschrieben, ich wahre die Konventionen. Und der Konny hat meinen großen Respekt, weil er sich immer kümmert. Nachdem ich mein Abiturzeugnis bekommen habe, bin ich nie wieder in meiner Schule gewesen. Non vitae, sed scholae discimus. Ich bin ein paar Mal zu den Treffen in der Strandlust gewesen, die von dem Verein der Ehemaligen organisiert wurden und jedes Jahr nach Weihnachten stattfanden. Aber bei diesen Frühschoppen traf man nur die falschen Leute. Die schönen Frauen gingen da nie hin. Weil sie au pair in Frankreich waren. Oder aus Hass auf die Eltern nie wieder in diesen Ort hier zurück wollten. Ich mochte die ▹Strandlust eh nicht besonders, ich konnte den Direktor nicht leiden. Eins, zwei, drei Bälle und der Abtanzball (und ▹Franz Josef Strauß) haben mir da gereicht. Wenn mich der Konny zum nächsten Klassentreffen einlädt, dann schicke ich ihm diesen Post vorbei - und wenn der Klaus dabei sein sollte und sich an die Wette mit dem Jaguar erinnert: ich bin bereit, nach mehr als einem halben Jahrhundert den Kasten Sekt zu bezahlen.

Einen grünen Jaguar mit roten Ledersitzen habe ich immer noch nicht. Brauche ich auch nicht, ich kann jederzeit beim ▹Keith in einem Daimler Double-Six oder einem Bentley sitzen. Ich habe auch nie einen Zettel an meinen Schreibtisch geklebt wie Herman Melville, auf dem steht Keep true to the Dreams of thy Youth. Ich hatte nie große Zukunftserwartungen, mir genügte die middle station of life, die der Vater von Robinson Crusoe seinem Sohn empfiehlt. Der Vater war ja bekanntlich Bremer. Die bleiben vernünftig. Heute träume ich nur noch von der Vergangenheit, häufig sind es Alpträume. Aber manchmal sind es auch schöne Träume, in denen die schönen toten ▹Frauen wieder lebendig sind. Und die zickige Frau, der ich einen Brief mit Oh! je voudrais tant que tu te souviennes des jours heureux où nous étions amis. En ce temps-là la vie était plus belle, et le soleil plus brûlant qu'aujourd'hui vorbei geschickt habe, und die dann nicht mehr böse ist und nur für mich L'amour est un oiseau rebelle singt. Man wird ja noch träumen dürfen.

1 Kommentar:

  1. Leben ist Brückenschlagen...
    Das kenne ich aus einem Lied von Konstantin Wecker.

    Manchmal, also selten, entbehren Ihre Texte nicht einer gewissen Melancholie.
    Das gefällt mir.
    Viele Grüße und einen Guten Rutsch.

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