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Montag, 11. September 2017

Last night of the proms


Das schönste musikalische Erlebnis an meiner Schule war keine Chordarbietung des berühmten Chors von ➱Ernst Meißner, sondern der Mann, der nur mit einem Stapel Noten auf die Bühne kommt und fünfzig Pfennig kostet. Fünfzig Pfennig kostete auch der grauenhafte, spuckende, adelige Rezitator ➱Horst Bogislaw von Schmelding, der Schillers Glocke und ähnliche ungeliebte Gedichte aufsagte. Oder der Mann, der seine Schlangen in der Turnhalle zeigte. Aber dieser kleine Mann mit den wirren Haaren lässt von einigen Schülern den Flügel über die Bühnenkante der Aula nach vorne kippen, setzt sich an das Instrument, wo ihn jetzt jeder im Saal dank des gekippten Flügels gut sehen kann, und spielt und singt die ganze Dreigroschenoper.

Zusätzlich gewürzt durch Songs aus The Beggar’s Opera von ➱Gay und Pepusch. Er verwandelt sich mit jedem Part, er ist Captain Macheath und Tiger Brown. Er ist Polly Peachum und die Seeräuber Jenny: Meine Herren, heute sehen Sie mich Gläser abwaschen und ich mache das Bett für jeden. Und Sie geben mir einen Penny und ich bedanke mich schnell. Und Sie sehen nur die Lumpen und dies lumpige Hotel, und Sie wissen nicht, mit wem Sie reden... 

Ich weiß seinen Namen nicht mehr, in meinem alten Tagebuch steht nur 20. Januar 1960 Dreigroschenoper. Ist ein bisschen doof von mir gewesen, den Namen des Mannes nicht dazuzuschreiben. Er war mit seinen Auftritten damals schon ziemlich berühmt geworden. Ich bin ihm für diesen Abend ewig dankbar, ich habe das nie vergessen.

Es ist ein ähnliches Erlebnis wie Helmut Qualtinger wenige Jahre später. Für dessen Lesung von Die letzten Tage der Menschheit im Beethovensaal in Hannover hatte ich eine Karte gekauft, kostete etwas mehr als die 50 Pfennig für die Dreigroschenoper 1960. Es sind dreizehn Leute im Saal, ein Saal, in den tausend Leute gehen. Wenn ich Qualtinger wäre, würde ich jetzt wieder gehen. Qualtinger tritt auf, blickt einmal durch den leeren Saal und bittet uns dann im schönsten Wienerisch, dass wir uns doch um ihn herum in die erste Reihe zu setzen, san’s kommod. Setzt sich auf die Bühnenkante, zum Greifen nahe und rezitiert das ganze Stück von Karl Kraus, ganz privat und ohne den Text zu konsultieren.

Der Pianist mit den wirren Haaren in unserer Aula konnte etwas, was nicht jeder kann: er konnte Kurt Weill singen. Und das ist nichts für jeden, ich kann das nur wiederholen. Das wurde uns am Sonnabendabend demonstriert, als Nina Stemme in der Royal Albert Hall in der Last Night of the Proms auftrat. Das musikalische Ereignis, das ➱Sir Henry Wood ehrt, überträgt N3 nun schon seit 35 Jahren, ich habe es selten verpasst. Ist Kult. Muss sein.

Der Dirigent am Sonnabend war der Finne Sakari Oramo. Er trug einen Frack mit einer weißen Weste. Das war allerdings keine Frackweste, sondern eine hochgeschlossene Weste. Dazu hatte er eine schwarze Schleife umgebunden, exzentrisch. Allerdings nur im zweiten Teil des Konzerts, im ersten trug er einen weißen Plastron. Er trug auch stolz seinen OBE Orden, der ihm ehrenhalber verliehen wurde. Den dürfte er als Ausländer gar nicht tragen, aber wen interessiert es? Die Last Night of the Proms ist längst zum Karneval geworden.

Nachdem Jerusalem, God Save the Queen und Auld Lang Syne gesungen waren, sendete der NDR noch die Hannover Proms. Dort dirigierte der Engländer Andrew Manze (Bild). Er trug ein Frackhemd, aber keine weiße Weste, dafür aber schwarze Hosenträger. Die Herren Dirigenten wären gut beraten, wenn sie mal den Post ➱Fräcke in diesem Blog lesen würden. In Hannover begann man mit der ➱1812 Ouvertüre, allerdings ohne Kanonen.

Lassen Sie mich zu Nina Stemme zurückkehren. Die war schon im ersten Teil mit ihrem Paradestück, dem Liebestod aus ➱Tristan und Isolde, aufgetreten: As always at the Last Night a star singer was on hand, to bring some glitz to the occasion. Wagnerian soprano Nina Stemme hasn’t been having a good summer – she cancelled a string of dates at the Salzburg Festival – and her entry at the beginning of the Liebestod from Wagner’s Tristan and Isolde was tentative and oddly husky. But eventually her voice recovered its bloom, and the ending was as radiant as it should be. Klingt nicht gerade großartig. War's auch nicht.

Im zweiten Teil verließ Frau Stemme die ➱Wagnerschen Gefilde, in denen sie Hause ist, und wandte sich den zwanziger Jahren zu. Sie begann mit der ➱Loreley: Back in the days of knights and armour, There once lived a lovely charmer; Swimming in the Rhine, Her figure was divine! She had a yen for all the sailors, Fishermen and gobs and whalers; She had a most immoral eye, They called her Lorelei. She created quite a stir, And I want to be like her! Die Sopranistin bewies wieder einmal, dass Opernsängerinnen so etwas nicht singen können. Ihre Lorelei ersoff jämmerlich in der Albert Hall. Ella Fitzgerald kann das singen, Nina Stemme nicht. Vergleichen Sie einmal ➱Ella mit Nina Stemme (bei 2.10 in dieser Radiofassung). Und dann musste die Schwedin ja noch unbedingt Kurt Weill singen (Surabaya Johnny aus Happy End und The Saga of Jenny aus Lady in the dark). Hätte sie lassen sollen. Lotte Lenya hatte auch nie vor, den Liebestod zu singen.

Tja, und dann kam Surabaya Johnny aus ➱Happy End. Einer Operette mit Songs von Brecht und Weill, die bei ihrer Uraufführung floppte, aber viele ihrer Songs bekamen ein Eigenleben. Zum Beispiel der Bilbao Song, wir lassen mal eben ➱Ute Lemper singen. Der ➱Song from Mandalay war ein etwas krampfhafter Versuch, an Kiplings Mandalay anzuknüpfen (dazu gibt es ➱hier einen schönen Post, der auch eine plattdeutsche Übersetzung von Kiplings Mandalay enthält, einmalig im Internet). Aber Surabaya Johnny hat sich ewig gehalten:

Ich war jung, Gott, erst sechzehn Jahre
Du kamest von Birma herauf
Und sagtest, ich solle mit dir gehen
Du kämest für alles auf
Ich fragte nach deiner Stellung
Du sagtest, so wahr ich hier steh
Du hättest zu tun mit der Eisenbahn
Und nichts zu tun mit der See
Du sagtest viel, Johnny
Kein Wort war wahr, Johnny
Du hast mich betrogen, Johnny, in der ersten Stund
Ich hasse dich so, Johnny
Wie du da stehst und grinst, Johnny
Surabaya-Johnny, warum bist du so roh?
Surabaya-Johnny, mein Gott, ich liebe dich so.
Surabaya-Johnny, warum bin ich nicht froh?
Du hast kein Herz, Johnny, und ich liebe dich so.

Ich habe seit Jahrzehnten die CD Lost In The Stars: Songs Of Kurt Weill, da singt Dagmar Krause den ➱Surabaya Johnny. Ist nicht ganz ➱Lotte Lenya - an die kommt niemand heran - ist aber auch gut. Vielleicht hätte sich ➱Nina Stemme mal die Platte mit Lotte Lenya anhören sollen. Es gibt zu dem Thema von Mandalay und Surabaya Johnny ein interessantes Buch: Burma, Kipling and Western Music: The Riff from Mandalay von Andrew Selth. Ist sauteuer, wie alle Bücher von Routledge, aber man kann Teile davon bei Google Books lesen.

Ganz zum Schluss trat Nina Stemme noch einmal auf. Als wagnerianische Walküre verkleidet sang sie Rule Britannia. Ähnliche Gags gibt es ja in jedem Jahr, da kann man nichts falsch machen. Die Engländer singen das Lied von ➱Dr Arne gerne, vor allem seit es nach der Brexit Ankündigung mit Britannien bergab geht. Da ist nichts mehr mit Britannia rule the waves. Andererseits: Finnische Dirigenten (plus ➱Finlandia), eine finnische Komponistin (➱Lotta Wennäkoski), schwedische Soprane, deutsche Komponisten - wollen die Engländer den Brexit wirklich?

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