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Samstag, 9. September 2017
Egmond aan Zee
Ich stehe hoch und kann und muß noch höher steigen; ich fühle mir Hoffnung, Mut und Kraft. Noch hab ich meines Wachstums Gipfel nicht erreicht; und steh ich droben einst, so will ich fest, nicht ängstlich stehn. Das sagt jetzt nicht der Blogger Jay, der gerade eine halbe Million Leser mehr hat als am Tag von Donald Trumps ➱Amtseinführung. Das lässt Goethe den Grafen Egmont sagen. Der heute vor 450 Jahren vom Herzog von Alba wegen Hochverrats gefangen genommen wurde. Egmont war Ritter des Goldenen Vlieses, er unterlag keiner weltlichen Gerichtsbarkeit. Nur die Ordensritter konnten über ihn richten. Und so sagt er auch bei Goethe: Wir werden uns verteidigen können. Er rufe die Ritter des Vlieses zusammen, wir wollen uns richten lassen.
Und zum Fürsten von Oranien, der mit einer seiner Verwandten verheiratet ist, sagt er: Nein, Oranien, es ist nicht möglich. Wer sollte wagen, Hand an uns zu legen? – Uns gefangenzunehmen, wär' ein verlornes und fruchtloses Unternehmen. Nein, sie wagen nicht, das Panier der Tyrannei so hoch aufzustecken. Der Windhauch, der diese Nachricht übers Land brächte, würde ein ungeheures Feuer zusammentreiben. Und wohinaus wollten sie? Richten und verdammen kann nicht der König allein; und wollten sie meuchelmörderisch an unser Leben? – Sie können nicht wollen. Ein schrecklicher Bund würde in einem Augenblick das Volk vereinigen. Haß und ewige Trennung vom spanischen Namen würde sich gewaltsam erklären. Es wäre Zeit zur Flucht gewesen, ein Freund sagt ihm: Seigneur comte, les oiseaux qui ont la liberté du champ chantent bien mieux que ceux qui sont caigés.
Nicht bei Goethe steht, dass Egmond zum Abschied zu Wilhelm von Oranien gesagt hat: Adieu, Graf ohne Land! Worauf Oranien ihm antwortete: Adieu, Graf ohne Kopf! Das findet sich in einer in einer volkstümlichen holländischen Erzählung. So wird es kommen, der Herzog Alba (Bild) schert sich einen Dreck um das Goldene Vlies. Oranien entkommt dem Spanier, Graf Egmont wird hingerichtet. Friedrich Schiller hat uns das sehr genau ➱beschrieben. Man weiß aber nicht, ob alles stimmt, was der Historiker Schiller sagt. Was uns Goethe in seinem ➱Egmont schildert, das stimmt so auf keinen Fall.
Man hat Alba den Henker der Niederlande genannt, und man hat ein Schmähgebet für ihn erfunden:
Teufel unser, der zu Brüssel du haust, verflucht sei dein Name, vor dem uns graust; von uns dein Reich sich wende zu lang ersehntem Ende; dein Wille mag nie erfüllet werden, wie nicht im Himmel, so nicht auf Erden. Du nimmst uns heute unser täglich’ Brot, Weiber und Kinder leiden viel Not; keinem erläßt Du seine Schuld, drum bewahr’ uns alle vor deiner Huld. Stets wirst du uns in Versuchung führen, so lang diese Lande dein Wüten spüren. Himmlischer Vater, der über uns thront, mach, daß dieser Teufel uns verschont, samt seinem falschen, blutigen Rat, der stets nur Böses im Sinne hat, und schick’ seine spanische Kriegermeute zurück in die Hölle, dem Satan zur Beute. Amen
In den Niederlanden gibt es heute immer noch einen Ort Egmond, der aus mehreren Ortsteilen besteht, hier hat ihn Jacob van Ruisdael gemalt. Der größte Ort ist Egmond aan Zee, ein Badeort, heute mit Hotels und Appartementwohnungen zugepflastert bis an den Strand. Furchtbar. Vor fünfzig Jahren war das anders, damals war ich mit meiner Familie da im Sommerurlaub. Wir wohnten in einem Hotel, das um 1900 bestimmt einmal vornehm gewesen war, aßen abends aber immer in einem Lokal, das in den Strand hineingebaut war. Ich bestellte jedes Mal das Paprikaschnitzel und ein Tuborg. Auf keinen Fall Heineken, oder wie die holländische Grachtenpisse so heißt. Ich habe nie wieder so gutes Paprikaschnitzel gegessen.
Das mit dem Paprikaschnitzel vergesse ich nie. Ansonsten war der Urlaub durchwachsen wie das Wetter. Und es gab, erstaunlich für das verschlafene Holland, die ersten randalierenden Jugendlichen, die in einer Nacht das Auto neben uns auf dem Hotelparkplatz zertrümmerten. ➱Nicolas Freeling hat dieses Phänomen in Because of the Cats beschrieben. Mein Vater liebäugelte damals mit dem neuen Modell Ford Zodiac, und wir machten viele Probefahrten durch Holland. Der Zodiac sollte in Deutschland zum Kampfpreis von zehntausend Mark auf den Markt kommen, kam aber nicht. Mein Vater kaufte dann den blauen Opel Admiral, als er sah, dass die Sache mit dem ➱Borgward P 100 keinen großen Sinn machte, weil ➱Borgward vor der Pleite stand.
Ich hatte damals schon meinen Führerschein und bekam manchmal den Wagenschlüssel. Fuhr immer nach Amsterdam, was neben dem Paprikaschnitzel das Beste an dem Urlaub war. In Amsterdam gab es damals einen Austin Reed Laden, wo es auch Chester Barrie gab. Damals bedeutete Austin Reed noch etwas. Natürlich haben wir alle auch Kirchen, Klöster und Museen in Egmond und Umgebung besucht. Die Ruine des Grafenschlosses, das seit dem 16. Jahrhundert zerstört ist, auch (es war übrigens Wilhelm von Oranien, der das Schloss zerstören ließ). Die Egmonts hatten seit dem 11. Jahrhundert die Schirmherrschaft über die älteste holländische Abtei, daher haben sie auch ihren Namen. Aber ich wusste damals nichts über die Grafen von Egmont. Gar nichts. Na ja, Beethovens ➱Egmont Ouvertüre kannte ich schon. Ich beschloss, dass ich alles über den Grafen herausfinden würde, wenn ich wieder zu Hause war. Ich war früher zu Hause als meine Eltern.
Als Kapitän Janssen an einem Sonntag zu Besuch war und noch in der gleichen Nacht zurückfahren wollte, sah ich meine Chance. Ich fragte meine Eltern, ob ich mit Hein Janssen zurückfahren dürfte, dann könnte ich am Montagmorgen noch mit der Evangelischen Jugend nach Langeoog fahren. Meine Eltern hatten nichts dagegen. Hein Janssen hatte auch nichts dagegen, denn er hatte schon so viel oude Genever und Heineken getrunken, dass er gar nicht mehr hätte fahren dürfen.
Das einzige Problem war sein ➱Opel, dessen Getriebe kaputt war. Wenn man einmal einen halbwegs geeigneten Gang drin hatte, musste man damit fahren, schalten ging nicht, nicht einmal mit Zwischengas. Ich bin in der Nacht von Holland bis Grohn im dritten Gang gefahren und durfte keinen Augenblick anhalten. Die Straßen waren damals noch nicht so gut wie heute. Wir haben uns einen kleinen Grenzübergang ausgesucht, wo alle Grenzer schon schliefen und die Schranken oben waren. Und als wir frühmorgens in Bremen waren, waren die Ampeln glücklicherweise noch nicht wieder angeschaltet, wir brauchten nie zu bremsen. Wenn Sie wissen wollen, wie dieser Sommer weitergeht, müssen Sie diesen ➱Post anklicken. Dieser Blog erzählt eine unendliche Geschichte.
Wir lassen jetzt mal für einen Augenblick junge Frauen in Langeoog, Strand und Sonnenöl weg und kommen zum Grafen Egmont zurück. Er ist nie am Strand von Egmond an Zee spazierengegangen. Er hat da auch nie gewohnt. Das erste, was ich las, war Schillers ➱Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung. Gilt heute als überholt, ist aber spannend und gut zu lesen. Es war Schillers erstes ➱historisches Werk, seine Geschichte des 30-jährigen Krieges kam später. Danach las ich Goethes Egmont, lernte einige Stellen auswendig. Wie die mit Noch hab ich meines Wachstums Gipfel nicht erreicht.
Die erste ernstzunehmende Geschichte des Grafen Egmont ist die Geschichte des Grafen Egmont von August Bercht aus dem Jahre 1810. Seit einigen Jahren gibt es das Buch ➱Egmont da capo: Eine mythogenetische Studie von Rengenier C. Rittersma, in dem die Rezeption der Figur des Grafen Egmont durch die Jahrhunderte aufgearbeitet wird. Dieses Bild konnte der Autor noch nicht kennen, sonst hätte er es bestimmt für das Titelbild genommen: ein Photo der beiden Grafen Egmont und Hoorn. Knallescharf in High Definition. Nun gibt es im Jahre 1568 noch keine Kamera, die die Brüsseler Schützengilde bei der Huldigung der beiden toten Grafen im Bild festhalten kann. Dieses Bild von dem Holländer Erwin Olaf heißt ➱Homage to Louis Gallait, der Photograph hat nichts anderes gemacht, als das Gemälde von Louis Gallait nachzustellen und abzulichten.
Sturm und Drang und Romantik kannten Egmont nur in der Version von Goethe (hier das Klärchen, von Kaulbach gezeichnet, das ➱Goethezeitportal hat da eine tolle Seite). Am Ende des Jahrhunderts
Deutschlands schreibt bester Theaterkritiker - das ist natürlich Theodor Fontane - über eine Egmont ➱Aufführung: 'Egmont' folgte. Mag da Handlung fehlen; auch das Wort hat gelegentlich sein Recht und es riß wieder mit fort und zündete, wie es schon tausendfach gezündet hat. Die Volksszenen, die Szenen Egmonts mit seinem Schreiber und Klärchen, diese wunderbaren Dialoge hatten noch ihren alten Zauber, und nur eines berührte mich wie etwas Verbrauchtes – die Freiheitstiraden des letzten Akts. Ob es ein Fluch der Phrasenhaftigkeit unserer Zeit ist, uns auch die Freude an dem verleidet zu haben, was über dem tönenden Erz und der klingenden Schelle steht, oder ob jenes Pathos von Tod fürs Vaterland, von Schergen- und Tyrannentum wirklich einer Stufe angehört, die von einer politisch reiferen Zeit überwunden werden mußte, lasse ich dahingestellt sein; kurzum ich blieb kalt. Und gerade diese Stellen sind es gewesen, die, dem Urteil der Londoner Presse nach, das englische Publikum mit fortgerissen haben. Was ist das anders, als ein neuer Beweis, daß England in Geschmacksachen zurück ist. Der Engländer verlangt alles gecayennepfeffert; Curry-powder und Mixed-pickles in Kunst, wie im Leben.
Wunderbar, dieser letzte Satz. Weil ich vor fünfzig Jahren meine Schularbeiten (die ich mir selbst auferlegt hatte) gemacht hatte, war es mir ein Leichtes, am 9. September 2010 den Post ➱Egmond zu schreiben. Da war allerdings noch kein Paprikaschnitzel und kein Cayennepfeffer drin.
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