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Freitag, 5. April 2019

Hans-Jürgen Heise


Es lohnt sich, mal von Zeit zu Zeit auf der eigenen Blogseite unter Entwürfe nachzuschauen. Denn da habe ich diesen beinahe fertigen Post gefunden. Als der Kieler Dichter Hans-Jürgen Heise im November 2013 im Alter von dreiundachtzig Jahren starb, wollte ich zuerst eine kleine Würdigung über ihn schreiben. Sein Wikipedia Artikel ist ja eine zehn Zeilen lange kulturelle Bankrotterklärung dieses Internetlexikons. Aber dann starrten mich seine Werke vom Regal aus an - und das ist bei mir immerhin ein dreiviertel Regalmeter - und ich fühlte mich der Aufgabe nicht gewachsen. Heise ist mit seinen Verdiensten als Dichter und Übersetzer einige Nummern größer als Dirk von Petersdorff - aber dafür hat der einen längeren Wikipedia Artikel. Als ich den etwas verspäteten Nachruf für Kay Hoff schrieb, fiel mir der Heise Post wieder ein und ich dachte mir, im nächsten Jahr stelle ich den im Poetry Month endlich ein. Und das tue ich jetzt.

1958 erhielt Hans-Jürgen Heise im Kieler Institut für Weltwirtschaft dank der Empfehlung seines Vaters eine Stelle als Archivlektor am Institut für Weltwirtschaft der Kieler Universität, die er bis 1993 behielt. Obgleich er seine poesiefeindliche Tätigkeit an einem Platz raschelnden Papiers und eintöniger Abläufe in dem winzigen Büro, das er als Schuhkarton beschrieb, nicht besonders mochte, war er doch damit zufrieden. Der Job verschaffte ihm eine finanzielle Sicherheit. Es war eine Art Hassliebe zu dem Beruf: Indem ich mich an einem literaturfremden, ja literaturfeindlichen Arbeitsplatz versklavte, schuf ich mir als Lyriker, Kritiker und Essayist einen Freiraum. Und obgleich er sagte Eigentlich hätte ich für meine Archivarbeit eine seelische Schmutzzulage bekommen müssen, wusste er auch, dass er durch die geregelte Tätigkeit in der geistig reinen Provinz einen sicheren Halt für seine eigentliche Berufung in diesem Doppelleben fand. Mit Kiel fand er sich ab: Dem Longdrink der Ostsee / fehlt ohnehin nichts / als ein Spritzer Angostura.

1961 erschien sein erster Gedichtband Vorboten einer neuen Steppe, in dem Jahr heiratete er die Lyrikerin Annemarie Zornack. Er wohnte in einer der ruhigsten Straßen von Kiel, ich kenne die Straße sehr gut, weil ich da als Student auch einige Jahre gewohnt habe. So beschaulich das alles scheint, er wollte hinaus in die große Welt, die er als DDR Flüchtling zuerst nur aus den Zeitungsausschnitten kannte, die er in seinem Büro archivierte. Die Lyrik der Welt, besonders die des iberoamerikanischen Sprachraums - von der er viel übersetzte - wurde ihm eine zweite Heimat.

Aus dem lärmenden Literaturbetrieb machte er sich nichts. 1964 hatte er von Hans Werner Richter eine handschriftliche Einladung zur Tagung der Gruppe 47 im schwedischen Sigtuna erhalten. Kurz danach schrieb er einen Erlebnisbericht, in dem sich die Sätze fanden: Ich glaube nicht, daß es im Literaturbetrieb so etwas wie eine Mafia gibt. Ich vermute jedoch: es gibt, ganz wie im wirklichen Leben, mehrere Mafia-Familien, die sich untereinander teilweise aufs heftigste befehden, dabei aber irgendwie vernetzt sind — auf undurchschaubare Weise. Dass man sie mit Mafiafamilien vergleicht, das hatten die literarischen Meinungsmacher der Gruppe 47 wirklich nicht so gerne.

Heise hat an die 40 Bücher publiziert, seine Gedichte sind in mehr als zwei Dutzend Sprachen übersetzt, es gibt keine ernstzunehmende Anthologie ohne Heises Lyrik, er gilt als der beste Übersetzer der Gedichte des genialen, 1936 von den spanischen Faschisten ermordeten Federico Garcia Lorca, und er ist mit Ehrungen überhäuft worden. Dazu zählt der begehrte schleswig-holsteinische Kulturpreis ebenso wie der Professorentitel. Dennoch fühlt er sich nicht immer ausreichend gewürdigt. Schleswig-Holstein hat sich meiner nicht sehr bedient, formuliert er vorsichtig seine Enttäuschung, versichert jedoch, sich inzwischen darüber nicht mehr zu ärgern.

Ich verdanke ihm eine ganze Menge. Damit meine ich jetzt nicht, dass ich mal einen Nachmittag lang mit ihm Kaffee getrunken habe und ich schöne Briefe von ihm habe. Nein, es ist etwas ganz anderes: er hat mich zu Dichtern gebracht, die ich vorher nicht kannte. Ohne es zu wollen. Denn wenn er nicht die ihm gewidmeten Gedichtbände des amerikanischen Dichters Andrew Hudgins ins Antiquariat Eschenburg gebracht hätte, hätte ich den vielleicht nie kennengelernt. Und hätte nicht die Posts Andrew Hudgins, Karfreitag und Weihnachtsfeiern schreiben können.

Nach seinem Tod hat Heises Witwe eine Vielzahl von ihm zur Rezension zugeschickten Gedichtbänden ins Antiquariat getragen, die ich natürlich sofort kaufte und dadurch eine Vielzahl von Dichtern kennenlernte. Beinahe jeder deutsche Dichter und jeder deutsche Verlag hatte Heise die neuesten Lyrikbände geschickt. Manchmal waren noch Briefe der Autoren in den Büchern, das war immer interessant. In den Briefen, die ich in manchen Büchern gefunden habe, bettelten Dichter darum, dass der liebe Herr Heise sie doch in der Zeit rezensieren möge. Die Hamburger Zeit nahm gerne alles, was er schrieb, Gedichte, Übersetzungen und Rezensionen von Gedichtbänden.

Hans-Jürgen Heise hatte einmal in den Kieler Nachrichten eine Kolumne, in der er Lyrik vorstellte. Die kleinen Essays sind unter dem Titel Das Abenteuer einer Drei-Minuten-Lektüre gesammelt. Man kann das noch bei Amazon Marketplace für einen Cent kaufen, lohnt sich unbedingt. Es ist wohl unmöglich, ein typisches Heise Gedicht zu finden. Ich nehme mir mal aus Ein Kobold von Komet (2007) das Gedicht Bei Büsum:

Bei Büsum wo ein Fisch
im Maul der Katze schlief
Ich eignete dir
den Mond zu Der Kellner
gab uns Falschgeld heraus
Wir gingen durchs Watt
(Deine Augen lagen
am Boden bei den übrigen
Muschelschalen)

Und dann habe ich noch was wirklich Schönes für alle, denen die Smartphone Wischer auf die Nerven gehen. Das Gedicht stammt aus dem Band Letzter Aufruf für Mr. H. Gesammelte Gedichte und Prosagedichte 1948-2012, es hat den Titel Flatrate:

In der einen Hand
ein Smartphone
in der anderen
einen Coffee-to-go
Deine Probleme: ausgelagert
Dein Wissen: abgespeichert
(hinterlegt als Datei in einer Cloud!)
Upload
Download/zeitversetzt
In Echtzeit
LIFE IS A GAME!
Du bist
DeadManWalking
Deine eigenes Homeoffice-mobil
In jedwedem Nirgendwo
Wahrnehmungs-Schwund als
Geisteszustand
Nur auf dem Fenster mehr
auf dem Display
Der Virtualität

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