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Sonntag, 30. April 2023

Wenn milder Regen, den April uns schenkt


Whan that Aprille with his shoures soote,
The droghte of March hath perced to the roote,
And bathed every veyne in swich licóur
Of which vertú engendred is the flour;
Whan Zephirus eek with his swete breeth
Inspired hath in every holt and heeth
The tendre croppes, and the yonge sonne
Hath in the Ram his halfe cours y-ronne,
And smale foweles maken melodye,
That slepen al the nyght with open ye,
So priketh hem Natúre in hir corages,
Thanne longen folk to goon on pilgrimages,
And palmeres for to seken straunge strondes,
To ferne halwes, kowthe in sondry londes;
And specially, from every shires ende
Of Engelond, to Caunterbury they wende,
The hooly blisful martir for to seke, 

So fangen die Canterbury Tales von Geoffrey Chaucer an, das berühmteste Aprilgedicht der englischen Sprache. Das hier ist noch nicht das Englisch, das Sie kennen, das ist Mittelenglisch. Ich habe das schon in meinem ersten Jahr als Blogger in dem Post April zitiert. Und in dem Post Aprille with his shoures soote steht 2014 alles, was Sie über die Canterbury Tales wissen sollten. Ich habe zu der Textstelle des Anfangs eine deutsche Übersetzung für Sie:

Wenn vom Aprillenregen mild durchdrungen 
Der Staub des März recht gründlich ist bezwungen
Und so von Säften jede Ader schwillt,
Daß aus dem Boden Blum' an Blume quillt,
Wenn Zephyr dann mit seinem süßen Hauch
In Wald und Haide jeden zarten Strauch
Durchwehet; wenn der Strahl der jungen Sonnen
Zur Hälfte schon dem Widder ist entronnen,
Wenn lust'ge Melodie das Vöglein macht,
Das offnen Auges schläft die ganze Nacht 
– So stachelt die Natur es in der Brust –:
Dann treibt die Menschen auch die Wanderlust;
Wallfahrer ziehen hin zu fernem Strande
Zu Heiligen, berühmt in manchem Lande.
Besonders sieht man aus den Gauen allen
Von England sie nach Canterbury wallen
Dem segensreichen Märtyrer zum Dank,
Der sie errettet, als sie siech und krank.

Die Übersetzung ist von Wilhelm Hertzberg, einem Altphilologen, der die beiden letzten Jahrzehnte seines Lebens in der Hansestadt Bremen lebte, wo er 1866 Direktor des Alten Gymnasiums wurde. Obgleich er am liebsten über lateinische Klassiker schrieb und die übersetzte, konnte er es nicht lassen, aus dem Englischen zu übersetzen: Chaucer, Shakespeare und Tennyson. Er sitzt hier mit den Abiturienten des Jahres 1876 zusammen (der dritte von links), und einer seiner Schüler ist mit ihm beinahe schicksalhaft verbunden. Das ist in der ersten stehenden Reihe der dritte von rechts. Wilhelm Hertzberg hat ihm das Studium der Geschichte empfohlen, und dem Rat folgte der junge Mann auch. 

Und eines Tages, er hat schon einen Doktortitel und einen Posten, liest er in dem Buch Geschichte des römischen Kaiserreichs seines alten Klassen- und Lateinlehrers: Als ich im Jahr 1889 in Königsberg aus irgendeinem Anlaß in Hertzbergs Geschichte des römischen Kaiserreichs (Onckens Weltgeschichte in Einzeldarstellungen) die Seiten las, die von Gajus Caesar Caligula handeln, fielen mir sehr überraschende Parallelen zu Tagesereignissen und zu Beobachtungen an dem im Vorjahr zur Regierung gelangten jungen Kaiser Wilhelm auf. Er wird ein Buch darüber schreiben, das ihn schlagartig in ganz Deutschland berühmt macht: Caligula: Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn. Jeder Leser merkt, dass dies eine Satire ist, und dass das Buch nicht von Caligula handelt, sondern von Wilhelm II. Majestät ist von dem Werk gar nicht angetan, der Autor entgeht knapp dem Staatsanwalt (lesen Sie hier alles dazu), seine Karriere als Historiker ist zuende. Das berührt ihn nicht so sehr, er kommt aus einer sehr reichen Bremer Kaufmannsfamilie. Er wird noch einmal richtig berühmt werden, diesmal nicht durch eine Satire, sondern weil er den Friedensnobelpreis erhält. Er heißt Ludwig Quidde.

Ich habe noch eine andere Übersetzung der Canterbury Tales für Sie, die viel schöner ist als die von Wilhelm Hertzberg. Sie stammt von einem Mann mit einer ganz erstaunlichen Karriere, der in diesem Monat in dem Post Emsland schon einmal erwähnt wurde, nämlich dem hannöverschen Offizier Adolph von Düring:

Wenn milder Regen, den April uns schenkt,
Des Märzes Dürre bis zur Wurzel tränkt,
In alle Poren süßen Saft ergießt,
Durch dessen Wunderkraft die Blume sprießt;
Wenn, durch des Zephyrs süßen Hauch geweckt,
Sich Wald und Feld mit zartem Grün bedeckt;
Wenn in dem Widder halb den Lauf vollzogen,
Die junge Sonne hat am Himmelsbogen;
Wenn Melodieen kleine Vögel singen,
Die offnen Augs die ganze Nacht verbringen,
Weil sie Natur so übermüthig macht: –
Dann ist auf Wallfahrt Jedermann bedacht,
Und Pilger ziehn nach manchem fremden Strande
Zu fernen Heil'gen, die berühmt im Lande;
In England aber scheint von allen Enden
Nach Canterbury sich ihr Zug zu wenden,
Dem heil'gen Hülfespender aller Kranken,
Dem segensvollen Märtyrer zu danken.


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