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Sonntag, 28. Februar 2010

Washington Crossing the Delaware


Im Jahre 1850 vollendet der junge Emanuel Leutze in seinem Studio in Düsseldorf ein großes Bild. Es heißt Washington Crossing the Delaware und ist 3,48 mal 6,16 Meter groß. Die Bildgröße ist dem Gegenstand angemessen: Washington, der mit seiner kleinen Armee Weihnachten den eisigen Delaware überquert, die hessische Garnison überwältigt und in den folgenden Bataillen von Trenton und Princeton den überlegenen Engländern zeigt, dass er durchaus gegen die Übermacht bestehen kann. Der Anfang vom Ende der Herrschaft der Engländer in Amerika. 

Das Bild ist im Geiste der Revolution von 1848 gemalt, angeblich soll Leutze Ferdinand Freiligraths Gedicht Vor der Fahrt (aus der Sammlung Ça Ira! von 1846) im Kopf gehabt haben, als er sich an das Bild machte. In diesem Gedicht (zu singen nach der Melodie der Marseillaise) wird der Leser aufgefordert, auf ein Schiff zu gehen, das Revolution heißt. Washington, Kosciuszko, Franklin und Lafayette sind schon an Bord. Freiligrath wird auch in die Künstlergemeinschaft Malkasten, deren Erster Vorsitzender Leutze ist, aufgenommen, nachdem man 1849 die Statuten geändert hat. Nun ist die kurze deutsche Revolution leider schon vorbei, man malt ja auch lange an einem solchen Bild. Aber der Geist der Revolution ist noch da: in den fahlen Morgenhimmel, der Washington wie ein übergroßer Heiligenschein umgibt, hat Andreas Achenbach noch einen kleinen Morgenstern hineingemalt.

Das Bild hätte in Werner Buschs Buch Das sentimentalische Bild hineingepasst, aber er hat es leider nicht behandelt. Dafür interpretiert er John Singleton Copleys Watson and the Shark, ein Bild, das kunsthistorisch vielleicht auch etwas mit Leutzes Bild zu tun hat. Eindrucksvolle Reportagemalerei in beiden Fällen. Eine Bildgattung, die die Amerikaner Copley mit Watson and the Shark und The Death of the Earl of Chatham und Benjamin West mit dem Death of General Wolfe erfunden hatten. Der Deutschamerikaner Leutze ist davon nicht unbeeinflusst. Das große Bild verfehlt seine Wirkung nicht. Für den jungen Henry James ist no impression half so momentous as that of the epoch-making masterpiece of Mr. Leutze. Und in einer Grußadresse der amerikanischen Künstler an Leutze wird das Bild 1851 als the greatest production of the age, and eminently worthy to commemorate the grandest event in the military life of the illustrious man whom all nations delight to honor gefeiert.

Leutze hatte Schwierigkeiten, geeignete Modelle für sein Monumentalbild zu finden. Sein junger amerikanischer Kollege Worthington Whittredge kommt ihm gerade recht, kaum ist er in Düsseldorf, schon ist er auf dem Bild. Als George Washington und als Steuermann des Bootes. Er muss eine Kopie von Washingtons Uniform (die Leutze aus Amerika besorgt hatte) anziehen und stundenlang mit Hut, Schwert und Mantel still stehen. Whittredge konnte sich in seiner Autobiographie noch an die Stunden erinnern: I was nearly dead when the operation was over. They poured champagne down my throat and I lived through it. Für die Gesichtszüge von Washington orientierte sich Leutze an der Büste von Houdon. Whittredge und Achenbach malen ihm den Morgenhimmel. Für die Personen im Boot (die ein Querschnitt durch die junge Nation sind) hat Leutze Malerkollegen in Düsseldorf genommen, viele Amerikaner, für die Leutze ein Freund und Mentor wird.

Alles an dem Bild ist falsch, wie mäkelnde Historiker festgestellt haben. Es müsste Nacht sein, kein Morgen, die Boote haben anders ausgesehen, die Flagge (die der spätere Präsident James Monroe hält) gibt es noch gar nicht, das Boot zeigt in die falsche Richtung und Eisschollen wie diese gibt es zwar auf dem Rhein, aber nicht auf dem Delaware. Zugegeben, das stimmt alles. Aber ähnlich wie Mark Twains Aufzählen von Fenimore Cooper's literary offenses den Romanen von Cooper nicht ihre Wirkung nimmt, nimmt auch diese Kritik dem Gemälde nicht die Wucht. Vielleicht hat alles eher so ausgesehen wie auf dem Gemälde von George Caleb Bingham, aber das ist nun lange nicht so dramatisch und heroisch. Wenn man die wahre Geschichte von Washington in jenen Tagen lesen will, dann sollte man David Hackett Fishers Washington's Crossing zu Rate ziehen. Leutze hat in den folgenden Jahren noch mehrere Personengruppen mit Booten gemalt: Die Landung der Wikinger in Amerika, Tizian auf der Lagune und das Preisbild des Neusser Männergesangvereins, die zum Teil ähnliche Kompositionen haben. Als sich Leutze 1851 nach Amerika verabschiedet, widmet ihm seine Künstlervereinigung "Malkasten" ein Preislied, das zeigt, dass sich revolutionäres Pathos und rheinische Fröhlichkeit durchaus verbinden lassen:

Hört ihr Leute das Gedichte
von dem grossen Wasserfluss
der in der Naturgeschichte
heisst der Delawarius.

Dieser fliesst in fernen Westen
zwischen Amerika und hier,
und an seinen wüsten Küsten
haust manch grauses Ungetier.

Es geschah vor vielen Jahren,
dass ein sich'rer Washington
über diesen Fluss gefahren
mit viel Pferden und Kanon!

Und er sprach zu seiner Bande
in gar grimmig bösem Ton:
Frisch, Gesellen, seid zu Hande
folget Eurem Washington!

Und man schiffte lustig weiter
mit Juchheisa didlumdei!
Schlug den Feind und sein' Begleiter
und Amerika war frei!

Gerade an demselben Tage
kam zur Welt ein kleines Kind,
und sieh' da, es war ein Knabe
welcher Leutze war genannt.

Dieser kleine Wunderknabe,
der das alles hat geseh'n,
hat mit seiner Künstlergabe
dieses Bild gemalt gar schön.

Welches man noch jetzt bewundert
an der Kölner Eisenbahn,
das geschah achtzehnhundert
fünfzig Jahre und noch ein.

Dass man das Bild 1851 in Köln bewundern kann, hat einen Grund, es gehört jetzt der Kölner Brandversicherung Colonia, die stellt es im Gürzenich aus. Das Bild war kaum fertig, da wurde es das Opfer eines Atelierbrandes. Danach stehen Washington und Monroe in einem seltsamen Nebel, der Rest des Bildes bleibt unbeschädigt. Leutze restauriert das Bild und macht sich sofort an das Anfertigen einer Kopie, die noch ein wenig größer wird (3,78 mal 6,47). Die Brandversicherung verkauft das Bild, nachdem es durch ganz Deutschland getourt ist (es wird Furore machen, Theodor Fontane fühlt sich bei seiner Überquerung des Limfjords an das schöne Leutzesche Bild erinnert), an die Kunsthalle Bremen

Leutze geht mit der Kopie nach Amerika, sie hängt heute im Metropolitan Museum in New York, eine kleinere Kopie befindet sich im Weißen Haus. Das Original bleibt vom Unglück und vom Feuer verfolgt, es verbrennt 1942 in einer Bombennacht. Englische Fliegerbomben, die letzte Rache der Engländer für den verlorenen Unabhängigkeitskrieg? Was hätten die amerikanischen Besatzungssoldaten 1945 gedacht, wenn es erhalten geblieben wäre und sie dieses Stück amerikanischer Geschichte hier hätten bewundern können? Immerhin haben die Amerikaner aus der Kunsthalle keine Stehbierhalle gemacht wie aus dem Bremer Rathaus, sondern wollten das Amerika-Haus hier unterbringen. Der Plan wurde aber wieder aufgegeben. Heute scheint man sich in meiner Heimatstadt Bremen nicht mehr daran erinnern zu wollen, dass man dieses Bild jemals besessen hat. In dem im Internet zugänglichen Katalog der Gemälde der Kunsthalle Bremen ist es nicht gelistet. Und schon in der ersten Publikation der Kunsthalle nach dem Krieg, Museum - Heute von 1948, erwähnt der Kustos Dr Günter Busch das Bild nicht. Er spricht zwar vom Brand der Bibliothek von Alexandria, dem Sacco di Roma, den Greueln des Dreißigjährigen Krieges und dem Verlust der Dürer Aquarelle, aber nicht von Emanuel Leutze. Und auch vierzig Jahre später ist in seiner sich ein wenig sehr beweihräuchernden Selbstdarstellung Die Kunsthalle in Bremen in Vier Jahrzehnten kein Satz über Leutzes Bild zu finden.

Die Tragödie dieses Bildes, vom Geiste der 48er Revolution bis zum Feuertod, wäre nichts ohne ein Satyrspiel. Im Jahre 1999 hat ein amerikanischer Schulleiter in Muscogee die Abbildungen von Washington Crossing the Delaware, die in jedem amerikanischen Schulbuch sind, in dem Schulbuch übermalen lassen. Es ist nicht das Muskogee, über das Merle Haggard sein berühmtes Okie from Muskogee gesungen hat. Dies ist Muscogee County in Georgia. Was hat den Superintendent Guy Sims dazu bewogen, das Buch des Verlages Prentice-Hall zu zensieren? Es ist Washingtons Taschenuhr. Noch nicht die, die sein Freund Gouverneur Morris für ihn in Paris bei Lépine kauft, und die ihm Jefferson nach Amerika mitbringt. Dies ist noch eine englische Uhr, er trägt sie wie alle Gentlemen dieser Zeit, an einer Chatelaine unten an seiner Weste. Nun könnte diese Uhr bei der Pose, die Whittredge alias Washington beim Malen des Bildes eingenommen hat, so aussehen (und für die amerikanischen Moralwächter sieht es so aus), als wäre da etwas anderes im Schritt des Landesvaters zu sehen. Das ist nun wirklich so bescheuert, dass es wohl nur in Amerika passieren kann.

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Freitag, 26. Februar 2010

John Constables Wolken


Hat jemand schönere Wolken gemalt als Constable? Wenn man sich Weymouth Bay anschaut werden einem viele Wolken auf Landschaftsbildern als kümmerlicher Ersatz erscheinen. Die mittelalterlichen Maler hatten es noch einfach, ein schöner goldener Hintergrund reichte aus, mehr braucht man vom Himmel nicht zu sehen. Aber irgendwann schleicht sich die Landschaft, die uns umgibt, doch auf die Bilder. Goldene Hintergründe sind dann eines Tages nicht mehr modern (spätestens bei den Brüdern Limbourg), man will Wolken und die grünen holländischen Wiesen im Hintergrund. Landscape into Art hat Kenneth Clark (später Sir Kenneth, dann Lord Clark of Saltwood) sein Buch über diesen Vorgang genannt. Kenneth Clark ist Englands beliebtester Kunsthistoriker gewesen, Millionen von Engländern haben seine Fernsehsendungen gesehen. Heute hat bei der BBC Simon Schama diese Rolle, der mit Landscape and Memory auch ein wunderbares Buch über unsere Rezeption der Natur geschrieben hat. Wir haben in Deutschland niemanden, der annähernd an Leute wie Clark oder Schama heranreichen kann. Wir sind die Nation der Dichter und Denker.

Die Engländer lieben ihre Natur, die Engländer lieben John Constable. Zu dessen Lebzeiten allerdings nicht. Nur zwanzig Bilder verkauft er während seines Lebens in England, nach Frankreich verkauft er mehr als zwanzig Bilder in wenigen Jahren. Und über seinen Einfluss auf die französische Malerei, Impressionisten inklusive, wollen wir hier gar nicht reden. Turner hat großen Erfolg, Constable bleibt arm.

Turner hat es nicht nötig, dass er wie Constable eines Tages Wirtshausschilder malen muss (I have received a commission to paint a Mermaid for a sign for an Inn in Warwickshire...no small solace to my previous labours at landscape for the last 20 years. However, the Lady may help to educate my children). Der viktorianische Kunstkritiker und Millonär John Ruskin verehrt Turner und kauft seine Gemälde, für Constable hat er kein Lob und kein Geld übrig. Und gegen das Urteil des moralinsauren viktorianischen Kunstpapstes kann kein Genie bestehen. Es wundert mich immer wieder, dass jemand, der einen solch schlechten Geschmack wie Ruskin hatte, überhaupt Turner gut finden konnte. Aber das negative Urteil von Ruskin hat natürlich weitreichende Folgen. So erwähnt in einem Artikel über die englische Kunstszene im Quarterly Review ein gewisser Lord Francis Egerton ein Jahr nach Constables Tod den Namen Constable überhaupt nicht mehr. Egerton, der später Lord Ellesmere heißt, ist der Sohn des Herzogs von Sutherland, des reichsten Mannes von England. Dessen trauriger Ruhm besteht darin, das er im großen Stil etwas betrieben hat, was man im 18. und 19. Jahrhundert so nett als highland clearances bezeichnet. Sein Sohn wird einer der größten Kunstförderer der viktorianischen Zeit. Aber eben nicht für John Constable. Das einzige, was die beiden verbindet, ist ein Rahmenmacher namens John Smith, den Constable wegen seiner Qualität schätzt und der auch für Egerton Bilder rahmt.

Einer der wenigen, der Constables Talent ganz früh erkennt und ihn zeitlebens fördert, ist Benjamin West, der gute Mensch aus Pennsylvania. Der ist jetzt Präsident der Royal Academy. Er rät dem jungen Constable, eine gut dotierte Stelle als Zeichenlehrer an einer Militärakademie nicht anzunehmen, weil sie ihn in seiner künstlerischen Entwicklung behindern würde. Und obgleich Constable Wests Historienbilder scheußlich findet, für diesen Rat ist er ihm seinen Lebtag lang dankbar.

Wenn Constable in der Natur malt, vergisst er, dass es Bilder und Landschaftsmalerei gibt. Er hat den Blick des Naturwissenschaftlers auf den Himmel und die Wolken, notiert sich auf der Rückseite von Skizzen alle Details von Wolken und Wetter. Painting is a science and should be pursued as an inquiry into the laws of nature, sagt Constable in einer Vorlesung in der Royal Institution, Why, then, may not be landscape painting be considered a branch of natural philosophy, of which pictures are but the experiments? Das sagt der Mann, der Thomas Forsters Buch über atmosphärische Erscheinungen so kenntnisreich mit Kommentaren verziert hat, dass man erkennen kann, dass er Luke Howards Forschungen sehr gut kannte. Der Londoner Apotheker Howard ist Hobbymeteorologe, irgendwann hat er sein System der Wolken perfektioniert und wird damit berühmt, The Godfather of Clouds. Goethe wird ihm zu Ehren unter dem Titel Howards Ehrengedächtnis kleine Wolkengedichte schreiben. Und wenn man mehr über Luke Howard wissen will, dann sollte man das charmante Buch The Invention of Clouds von Richard Hamblyn lesen. Und einen Band mit Bildern von John Constable griffbereit haben.

Ein englischer Meteorologe namens John E. Thornes hat mit seinem Buch John Constable's Skies etwas gewagt, auf das die Kunsthistoriker so nicht gekommen wären. Er nimmt Constable beim Wort, dass die Landschaftsmalerei eine Naturwissenschaft sei und setzt Constables Bilder in Relation zu allen bekannten meteorologischen Daten. John Constable's Skies ist ein erstaunliches Buch, und man kann dem Professor Thornes nur dankbar dafür sein. In der Bibliographie der benutzten Literatur findet sich auch ein Buch eines deutschen Kunsthistorikers, das weithin unbeachtet geblieben ist, Kurt Badts John Constable's Clouds, 1950 in London erschienen. Da ist der jüdische Emigrant noch in London, erst 1952 kehrt er in die Bundesrepublik zurück. Badt ist einer der originellsten deutschen Kunstschriftsteller des 20. Jahrhunderts gewesen, aber er bekommt keinen Professorenposten in der Adenauerrepublik. Oder, wie es Metzlers Kunsthistoriker Lexikon so schön formuliert: Dem nicht habilitierten Badt ermöglichte das restaurative Wissenschaftssystem der 50er Jahre keine universitäre Wirksamkeit. Man versteckt sich heute auch noch in der Sprache der Wissenschaft hinter solchen Euphemismen und setzt den Satz nicht mit und das ist eine Affenschande fort. Denn in einer Zeit, in der ein Hans Sedlmayr vom Verlust der Mitte schwafelt und sich von diesem Buch zigtausend Exemplare verkaufen, wird niemand ein Buch über die Wolken von John Constable lesen. Constable und Badt scheinen beide nicht in ihre Zeit zu passen.

Die Holländer des 17. Jahrhunderts haben eine Zauberformel für die Landschaftsmalerei gefunden, den tief liegenden Horizont. Da bleibt dem Maler viel Platz für den Himmel. Da bleibt ihm auch Platz für kleine revolutionäre Experimente wie in der Seelandschaft mit Regenwolke. Was kann man da noch sagen? Vielleicht Wow?











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Charles Willson Peale


Der Maler ➱Benjamin West führt einige Gäste durch sein Londoner Studio, als die ein wenig durch Handwerkerlärm erschreckt werden. Das, sagt West, sei nur the ingenious Mr. Peale, der so nebenbei alles im Haushalt von West repariere. Sein amerikanischer Landsmann war noch keine Woche in London, da hatte er bei West schon die Holztreppe und mehrere Türen repariert. Er wird auch Wests Lieblingspalette reparieren, die der Meister schon in den Müll geworfen hatte. West wird sie danach bis zu seinem Lebensende benutzen. Der ingenious Mr. Peale ist eigentlich aus Amerika nach London gekommen, um bei seinem berühmten Landsmann das Malen zu lernen. Denn West, dessen Vorfahren mit William Penn nach Amerika gekommen waren, hat es in London geschafft. Der Historienmaler, der nach Reynolds der zweite Präsident der neugegründeten Royal Academy wird, ist der Lieblingsmaler des Königs. Manchmal ist er sogar der einzige Freund des Königs George III, wenn der wieder seine Phasen der Umnachtung hat. Leider hat ➱Alan Bennett ihn nicht in The Madness of King George hineingeschrieben. West ist Quäker, und er ist ein guter Mensch. Er wird sich rührend um junge Maler kümmern. Vor allem um seine amerikanischen Landsleute, die jetzt wie Peale zu ihm kommen, und die die American School of Painting in London begründen.

Charles Willson Peale lernt jetzt bei West (der ihn auch portraitiert hat, links) richtig malen. Vorher war er Sattelmacher gewesen, hatte Schnupperkurse bei John Hesselius und John Singleton Copley genommen. Jetzt haben ihm reiche Gönner die Schiffspassage nach London bezahlt. Er ist daneben ein Tüftler, ein Multitalent. Wird tausenderlei nützliche und unnütze Dinge erfinden. Wird ein Gebiss für George Washington anfertigen, nicht das berühmte, über das Robert Darnton den bezaubernden Essay George Washington falsche Zähne geschrieben hat. Nein, eins für zwischendurch im Unabhängigkeitskrieg. Da ist Peale Hauptmann der Miliz von Pennsylvannia und ist in vielen Gefechten an Washingtons Seite, ist beim Übergang über den Delaware und dem Winterlager in Valley Forge dabei, wo der Baron von Steuben Washingtons Armee den preußischen Drill beibringt.

Dass er Washington gut kennt, wird sich für Peale auszahlen. Denn wenn der Krieg gewonnen ist und das ganze Land Portraits von Washington haben will, dann sitzt Washington am liebsten bei seinem alten Kriegskameraden Modell für diese Bilder. Er sitzt dann in einem Stuhl (den man in der Höhe verstellen kann), den Benjamin West Peale zum Abschied in London geschenkt hat. Einmal glaubt er die Söhne des Malers im Studio zu sehen und sagt Guten Abend, meine Herren. Aber das ist nur ein Bild, trompe l'oeil Malerei. Peales Studio wird zu einer Fabrik von Washington Bildern. Auch sein Bruder James malt jetzt, hauptsächlich Kopien von Peales berühmtem Washington at Princeton

Das Bild ist vor Jahren für den Preis von 21.3 Millionen Dollar verkauft worden, der höchste Preis, der je für ein amerikanisches Porträt bezahlt wurde. Viele von Peales vielen Kindern werden auch Maler. Es bliebt ihnen nichts anderes übrig, weil ihr Vater sie Rembrandt, Rubens, Rapahelle und Tizian getauft hat. Wenn es mal eine Tochter ist, heißt sie Angelica Kauffmann nach der berühmten Malerin. Peales Washington at Princeton gilt als das ikonische Bild des Revolutionshelden, nur ➱Gilbert Stuarts berühmtes unvollendetes ➱Atheneum Portrait kann ihm diesen Platz streitig machen. Es ist heute auf den 1 Dollar Banknoten. Stuart, der mehr als 70 Kopien davon angefertigt hat, pflegte sie als my hundred dollar bills zu bezeichnen. Peale hat beinahe so viele Washington Portraits gemalt wie Stuart. Er kann, zugegeben, nicht so hervorragend in der grand manner des swagger portraits malen, aber dafür gelten seine Bildnisse als lebensechtere Portraits.

Aber bei der Revolution dabei gewesen zu sein und ein berühmter Maler zu sein, das reicht Charles Willson Peale nicht aus. Er wird auch ein dilettierender Naturwissenschaftler sein, irgendwie ist er ein Renaissance Man. Er wird das erste Mastodon Americanus ausgraben (mit Hilfe von Gerätschaften für deren Bereitstellung der Präsident Thomas Jefferson sorgt) und ausstellen Und er wird das erste naturkundliche Museum Amerikas begründen. Er wird sich 1822 stolz malen, wie er einen roten Samtvorhang hebt, der den Blick auf seine Sammlungen (und das Mastodon im Bild rechts) freigibt.

Einige Knochen vom Mastodon sind im Vordergrund plaziert. Die Palette des Malers liegt auf einem Tisch mit einer grünen Decke. Das Bild scheint zu sagen: Seht, dies kann ich alles malen, das alles habe ich geschaffen! Leider wird nach Peales Tod der größte Teil des Museums verkauft, unter anderem an P.T. Barnum. Das ist der Mann, der das amerikanische Schowgeschäft ins Rollen bringt. Mit Washingtons angeblicher negro mammy (angeblich 161 Jahre alt). Was im Geiste der Aufklärung begonnen wurde, wird jetzt Show Business. Diesen Weg Amerikas hat Neil Postman in seinem Buch Amusing Ourselves to Death nachgezeichnet. Es wäre für Amerika besser gewesen, wenn die Nation mehr Charles Willson Peales und weniger P.T. Barnums gehabt hätte.

Donnerstag, 25. Februar 2010

Truthähne



Die pilgrims der Mayflower sollen mit den Indianern Erntedankfest gefeiert haben, und seitdem gibt es am Thanksgiving Day Truthahn in Amerika. Der Tag wird inzwischen auch turkey day genannt. Wie alle schönen Geschichten, ist auch diese wohl nicht so ganz wahr. Nationalfeiertag ist der Tag erst seit Abraham Lincoln, und davor gibt es ganze Jahrhunderte, wo wir keinerlei Berichte vom Truthahn auf der Speisekarte des Festtags finden. Aber es stimmt natürlich, dass der Truthahn ein amerikanischer Vogel ist. Obgleich es ja auch in Schleswig-Holstein im Mittelalter Truthähne gegeben haben soll. Die kommen 1937 bei der Restaurierung frühgotischer Wandmalereien im Dom zu Schleswig ans Licht. Ein junger Maler namens Lothar Malskat ist damals der Assistent des Restaurators Professor Ernst Fey. Man hat den Auftrag, die Wandmalereien zu restaurieren, die 1888 vom Restaurator August Olbers übermalt worden waren. Nach dem Ablösen der Malschichten bleibt von der frühgotischen Malerei so gut wie nichts mehr übrig, also malt Malskat, von Fey angetrieben, alles neu. Es fällt niemandem auf, dass die Heiligen plötzlich so aussehen wie die Freunde von Malskat. Eine Maria sogar wie eine Filmschauspielerin (man ist entzückt vom nordischen Typus der mittelalterlichen Heiligen). Malskat, der seine Zusammenarbeit mit Fey mit dem Streichen des Gartenzauns des Professors in Berlin-Lichterfelde begonnen hat, wird jetzt übermütig.

Malt Truthähne ins mittelalterliche Getier, unter den betlehemitischen Kindermord. Truthähne! Da hätten ja nun die Alarmglocken bei den Kunsthistorikern schrillen müssen. Tun sie aber nicht. Man nimmt die Truthähne an der Kirchenwand als Beweis dafür, dass die nordischen Wikinger Amerika entdeckt haben und die Truthähne mit nach Haithabu gebracht haben. Nur der Kieler Professor Alfred Kamphausen spricht 1941 von einem Treppenwitz der Forschungsgeschichte, der Rest der germanischen Kunstkritiker ist begeistert. Lothar Malskat wird sein Unwesen wenig später zusammen mit Fey in der Lübecker Marienkirche fortsetzen. Vorher hatte er für Fey Bilder großer Meister gefälscht, die dieser gewinnbringend verkaufte. Ein Konrad Kujau der Nachkriegszeit. In Lübeck kommen dann zwar keine Truthähne mehr an die Wände, aber Fey malt alles selbst, wo vorher kahle Wände waren.

Es wird der erste Kunstskandal der Bundesrepublik, immerhin ist Bundeskanzler Adenauer zur Eröffnung gekommen, und die Bundespost hat eine Sondermarke mit den mittelalterlichen Kunstwerken von Malskat herausgebracht. Der Landeskonservator Peter Hirschfeld hatte sich mit seinen Bedenken bei den vorgesetzten Stellen kein Gehör verschaffen können, erst eine Selbstanzeige des in seiner Künstlerehre gekränkten Malers führt zum Prozess. Es gibt Gefängnisstrafen für Fey und Malskat. Günter Grass wird den Lothar Malskat in seinen Roman Die Rättin hineinschreiben.

Der bald headed eagle wird zum Wappensymbol Amerikas. Der Adler ist natürlich nicht glatzköpfig, das Wort bald besitzt damals auch noch die Bedeutung weiß, im Deutschen heißt er ja auch Weißkopfadler. Ein Glatzkopfadler wäre doch ein komisches Nationaltier. Benjamin Franklin hat es nicht gefallen, dass man den Adler als nationales Symbol genommen hat. So schreibt er am 26. Januar 1784 an seine Tochter Sarah Bach: For my own part, I wish the Bald Eagle had not been chosen as the Representative of our Country; he is a bird of bad moral character; he does not get his living honestly. Moralische Überlegungen gegenüber Tieren sind ja immer ein wenig seltsam, aber Franklin hätte da auch einen anderen Kandidaten für den Wappenschild des Präsidenten der vereinigten dreizehn Staaten gehabt: in Truth, the Turk'y is in comparison a much more respectable Bird, and withal a true original Native of America.

Franklin hat noch andere Tiersymbole verwendet, 1751 macht er in der Pennsylvannia Gazette den Vorschlag, dass wenn England ständig verurteilte Strafgefangene in die Kolonien schicke, man den Engländern doch Klapperschlangen nach England schicken könnte. Und drei Jahre später wird er den ersten Cartoon in eine amerikanische Zeitung setzen: eine zerstückelte Schlange (deren Stücke die einzelnen Kolonien repräsentieren) mit dem Titel JOIN, or DIE. Das ist noch kein Aufruf zur Revolution, lediglich eine Ermahnung an die Kolonien, im French and Indian War gegen die Franzosen zusammenzustehen. Aber zwei Jahrzehnte später wird Franklins Schlange doch zu einem Symbol der Revolution. Da schreibt er in dem pennsylvannischen Journal über die Schlange: ... She may therefore be esteemed an emblem of vigilance. She never begins an attack, nor, when once engaged, ever surrenders: she is therefore an emblem of magnamity and true courage. Die rattlesnake findet ihren Weg auf eine der ersten Flaggen der Kolonien, zusammen mit dem drohenden Satz Don't tread on me! Sie wird auch mit diesem Satz über den rotweißen Streifen auf der ersten Gösch amerikanischer Kriegsschiffe auftauchen. Diese Flagge hat die US Navy nach den Anschlägen vom 11. September wieder hervorgeholt. Don't tread on me. Was wäre aus Amerika geworden, wenn man statt Klapperschlange und Adler doch den Truthahn als nationales Symbol genommen hätte?


Der Künstler John James Audubon nimmt den Adler nicht als die Nummer 1 seines Werkes The Birds of America, No. 1 ist der wilde Truthahn. Der Adler kommt erst nach einer Vielzahl von amerikanischen Piepmätzen auf Platz 31.

Lesen Sie auch: ➱Lothar Malskat.

Mittwoch, 24. Februar 2010

Raumnutzwerk


Im Jahre 1934 bringt die Firma Urofa in Glashütte ein Uhrwerk auf den Markt, das dank der geschickten Vermarktung zu einem kleinen Mythos werden wird. Es hat sogar einen Namen, es heißt Raumnutzwerk. Wenn man schon angeblich ein Volk ohne Raum ist, will man jetzt den Raum in den neuen rechteckigen Uhren richtig nutzen. Heute bekommt das Urofa Kaliber 58 noch das Epitheton legendär verpasst, das lässt kein Ebay-Verkäufer und kein Flohmarkthändler aus. Und es funktioniert immer wieder, ähnlich wie bei dem Begriff Wehrmachtswerk. Das ist nun kein deutsches Werk, sondern das Kaliber 1130 vom Schweizer Anton Schild. Aber es war in den meisten Uhren der Wehrmacht, und deshalb heißt es bei uns Wehrmachtswerk. Es ist schon erstaunlich und auch ein wenig beunruhigend, dass deutsche Uhren nur mit zwei Begriffen aus der Zeit der Nationalsozialisten in Verbindung gebracht werden. Das ist schon etwas anderes, als wenn preiswerte Uhrwerke aus Besançon L'Alouette oder La Melissa heißen. Für das Urofa 58 startet man in Glashütte eine Werbekampagne, wie es sie in Deutschland bis dahin nicht gegeben hat. Für die Illustrationen gewinnt man den bekannten Künstler Wassili Masjutin, der Exilrusse lebt jetzt in Berlin. In schönen Holzschnitten, die vom Bibliographischen Institut in Leipzig gedruckt werden, stellt er die Qualitäten des Uhrwerks aus Glashütte heraus.

Rechteckige Uhren sind jetzt Mode, in der Nachfolge des Art Deco und in dem Stil des amerikanischen Depression Modern kann man sie auf der Leinwand am Arm jedes amerikanischen Filmschauspielers bewundern. Man wird sie auch am Arm aller Nazigrößen bewundern können. Die Werke, die in den schweizer oder den amerikanischen Uhren sind, haben aber nicht einen so schönen Namen wie Raumnutzwerk. Obgleich die, wie zum Beispiel das Gruen Kaliber 123 oder das Hamilton 980 ästhetisch viel schöner und qualitativ viel besser sind. Es kommt offensichtlich nicht darauf an, wenn man eine Legende werden will, dass ein Produkt ästhetisch schön und qualitativ hochwertig ist, es kommt darauf an, dass einen schönen griffigen Namen hat. Die Uhrenfabrik Glashütte hat die Zeichen der Zeit erkannt. Sie kämpft auch gerade um ihr Überleben. 

Wenige Jahre zuvor war hier in Glashütte alles pleite. Nur dank des geschickten Handels eines jungen Juristen namens Dr Ernst Kurtz, den die Banken zur Rettung der Glashütter Uhrenindustrie eingesetzt haben, kommt man jetzt aus der Misere. Der hat die Uhrenfabrik (UFAG) und die Uhrenrohwerkefabrik (UROFA) in Glashütte gegründet. Und er setzt auf Armbanduhren, das hat man in Deutschland völlig verschlafen. Denn als das Raumnutzwerk auf den Markt kommt, werden weltweit genau so viele Armbanduhren wie Taschenuhren verkauft. Von da an ist der Siegeszug der Armbanduhr nicht aufzuhalten. Das Raumnutzwerk kommt also genau im richtigen Augenblick. Es wird sich bis zum Kriegsende eine halbe Million mal verkaufen. Und wird wenig später in der DDR als Kaliber GUB 62 noch 200.000 Mal gebaut werden. Dr Kurtz hat das in Trümmern liegende Glashütte bei Kriegende verlassen. Er wird in einem kleinen Kaff bei Delmenhorst namens Ganderkesee noch das letzte Armbanduhrenwerk nach Glashütter Tradition bauen, das Kaliber Kurtz 25, das einzige deutsche Werk, das eine Breguetspirale besitzt (lesen Sie mehr dazu in dem Post Kurtz).

Wenn man sich das legendäre Raumnutzwerk anschaut, fällt auch einem Laien auf, dass es eine sehr grosse Unruhe und ein sehr grosses Federhaus besitzt. Beides Garanten für einen guten Gang, wie es Professor Masjutin in seinen Werbeillustrationen verdeutlicht. Die Unruhe ist 12 Millimeter groß, das reicht schon an die Unruh einer Taschenuhr heran. Aber an dieser Stelle müssen wir doch, bevor wie den deutschen Erfindergeist loben und das Raumnutzwerk weiter verherrlichen, die Frage stellen, die das kleine Ricola Männchen den fetten Finnen in der Sauna stellt. Wer hat's erfunden? Und die Antwort ist natürlich auch hier: die Schweizer. 

Wenn man das Revue Thommen Werk 54 betrachtet Revue Thommen cal. 54 wird jedem klar sein, es ist das gleiche Werk. Dieses hier ist allerdings sechs Jahre früher, und es besitzt schon eine Stoßsicherung. Die wirklichen Tüftler sitzen nicht in Glashütte, sie sitzen im schweizerischen Waldenburg. Die Fabrik gehört gehört Reinhard Straumann, der in den dreißiger Jahren die weitreichendsten Erfindungen für die Welt der Uhren überhaupt macht. Er findet die Metalllegierungen, die die Unruhe und die Unruhspirale unabhängig von Temperatur und Magnetismus machen, das ist mehr als man in Glashütte seit den Tagen von Ferdinand Adolph Lange hinbekommen hat. Nebenbei erforscht er auch als erster wissenschaftlich den Skisprung, das tut in Glashütte auch niemand.

Eine Uhr aus Glashütte mit dem Raumnutzwerk kostet in den dreißiger Jahren mit knapp vierzig Reichsmark das Doppelte von dem, was die Konkurrenz aus Pforzheim wie Junghans oder Bidlingmaier für ihre Rechteckuhren verlangt. Man wirbt in Glashütte in Weihnachtsbriefen (die Mit Deutschen Gruß unterschrieben sind) mit der Qualität: Das Werk einer wirklich guten Uhr ist so zuverlässig und solide gebaut, daß man sich nicht ein zweites Mal eine Uhr zu kaufen braucht. Das ist richtig, gut gepflegte Urofa Werke funktionieren heute immer noch. Aber das tun die Uhren von hunderten von schweizer Firmen aus den dreißiger Jahren auch, die aus ihren Uhrwerken keinen nationalen Mythos gebastelt haben.

Dienstag, 23. Februar 2010

Albert Stagura


Albert Stagura (1866-1947) ist ein bedeutender Maler gewesen, aber irgendwie ist er von der Nachwelt etwas sträflich behandelt worden. Es gibt keine Bücher über ihn, er hat keinen Wikipedia Artikel, lediglich der Artikel Chiemseemaler bei Wikipedia erwähnt seinen Namen. Eigentlich ist das schade, denn er war ein guter Maler. Es hat ihm zu Lebzeiten auch nicht an Ehrungen gefehlt, die Dresdener Künstlergenossenschaft wählt in schon in jungen Jahren in ihren Vorstand.

Und unter ↝Gotthard Kuehl (hier ein Bild von dem unterschätzten ganz großen Maler) ist er 1897 und 1899 in der Leitung der Großen Internationalen Kunstausstellung. In München wird er jahrelang im Vorstand und in der Jury der Glaspalast Ausstellungen sein. Er erhält eine Titularprofessur des Staates Bayern und die silberne und goldene Staaatsmedaille für bildende Kunst in Österreich. Bei Auktionshäusern, die ja griffige Zuordnungen lieben, wird er als Chiemseemaler oder als Mitglied der jüngeren Münchener Schule geführt. Er taucht nicht im Band Die Münchener Malerei im 19. Jahrhundert von Rudolf Oldenbourg auf, aber das kann nicht verwundern. Denn zu der Zeit, über die Oldenbourg schreibt, ist Stagura noch in seiner Heimatstadt Dresden.

Immerhin hat die Münchener Schule mit Rudolf Oldenbourg schon 1922 einen Chronisten. Und das mit einer Widmung, die Stil hat: Seiner Königlichen Hoheit dem Kronprinzen Rupprecht von Bayern widmet diesen Band in dankerfüllter Bewunderung seines erlauchten Urgroßvaters, König Ludwigs. I, der Münchens Glanz und Weihe schuf, ehrfurchtsvoll der Verfasser. Manche Städte brauchen ja etwas länger, um ihre Maler zu würdigen. Während es längst Bücher über die Maler Weimars und Düsseldorfs gab, dauerte es bis 1990 bis Wolf Jobst Siedler den verlegerischen Wagemut hatte, das 550 seitige Buch Berliner Malerei im 19. Jahrhundert von Irmgard Wirth herauszubringen. Die bauen da in Berlin U-Bahnen zum Kanzleramt, die keiner braucht, aber für die Erforschung der Berliner Malerei haben sie kein Geld. Irgendwie haben die Bayern mehr Stil.

Albert Stagura wird wahrscheinlich von der Kritik nicht geliebt, weil er kein Revolutionär der Malerei ist, er bleibt zeitlebens dem Realismus verhaftet. Mit einem impressionistischen Touch. Und sein Hauptwerk besteht aus Pastellmalerei, die ist für die Kunstgeschichte seit den Tagen von Rosalba Carriera, Jean Siméon Chardin und Anton Graff eigentlich tot (obgleich natürlich auch Degas und Picasso in Pastell gemalt haben). Der junge Stagura hat als Schüler der Dresdener Akademie die hier reichlich vorhandenen Pastellportraits von Graff kennengelernt und sich an ihnen geschult.

Stagura ist Schüler von Friedrich Leon Pohle und Friedrich Preller d. J. gewesen und hat bei ihnen eine solide zeichnerische Ausbildung erfahren. Obgleich es auch einige Ölbilder von ihm gibt, hat er sich schon früh auf großformatige Naturstudien in Pastell spezialisiert, die sich auch gut verkauften. Er wird als einziger deutscher Künstler im 20. Jahrhundert die Pastellmalerei zu einer nie gekannten Höhe führen. Um die Jahrhundertwende zieht er nach Bayern, seit 1918 hat er ein Atelier in München. Im Alter von 60 Jahren entdeckt er den Chiemsee, und die Landschaft des Chiemgaus wird für die nächsten zwanzig Jahre seine künstlerische Heimat.

Stagura malt in der freien Natur, beinahe immer allein. Nur den jüngeren Willibald Demmel duldet er manchmal neben sich. Er trägt eine Lodenjacke, einen Filzhut und raucht immer eine Zigarre. Das erwartet man von einem Künstler. Er kann die Zeichen der Natur voraussagen, er ist stolz darauf, dass er eine halbe Stunde vorher einen Wetterwechsel erkennt. Also ihm wäre das nicht passiert, dass er wie Heinrich Drendorff im Gebirge vor einem Gewitter Schutz suchen muss. Und so bleibt ihm auch der Freiherr von Risach mit dem sanften Gesetz erspart. Uns als Lesern von Stifters ↝Nachsommer leider nicht. Die ständigen wechselnden Stimmungen des Lichts, wenn die Wolken aus Italien über die Chiemgauer Alpen hereingeschossen kommen, das ist sein Thema. Er ist in seinen Bildern manchen Malern der Haager Schule, die ↝licht en lucht einfangen, wie zum Beispiel Hendrik Weissenbruch, sehr ähnlich. Er ist zwar einmal in Holland (und auch einmal in Venedig) gewesen, aber diese Aufenthalte haben ihm nichts gegeben. Wenn man die bayrischen Alpen liebt, ist Holland nichts für einen.

Es hat 1989 auf der Insel Frauenchiemsee eine kleine Gedächtnisausstellung für Albert Stagura gegeben. 32 Werke waren ausgestellt, Fritz Aigner hat ein kurzes Vorwort zu dem schmalen Katalogbändchen geschrieben. Der Linzer Maler, in einer gerade erschienenen Publikation als Wunderkind & Malmaschine bezeichnet, hatte sich zu Lebzeiten mit Ausstellungen und Buchpublikationen immer um Kollegen der Chiemseemaler gekümmert.

Die Künstlerkolonie Frauenchiemsee hat es in der Kunstgeschichte ja nicht geschafft, in einem Namen mit Worpswede genannt zu werden. Der große Katalog Künstlerkolonien in Europa vom Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg 1982, erwähnt die Maler vom Chiemsee überhaupt nicht. Und es ist sicherlich eine kleine Ironie der Kunstgeschichte, dass die erste wissenschaftliche Studie, Ruth Negendancks Künstlerlandschaft Chiemsee, im Jahre 2008 im Verlag Atelier im Bauernhaus in Fischerhude erschienen ist. Fischerhude liegt nicht am Chiemsee. Das liegt auf der Landkarte neben Worpswede und ist der Ort, wohin Otto Modersohn und andere gezogen waren, als ihnen ↝Worpswede nicht mehr gefiel.

Nachdem sein Studio in München 1944 einem Bombenangriff zum Opfer gefallen waren (wobei alle Werke und Skizzen durch Feuer oder Löschwasser vernichtet wurden), zog Stagura ins österreichische Gstadt. Da hatte er bei der Huber Sali noch von seinem letzten Malaufenthalt Farben und Leinwand liegen. So etwas gibt es jetzt in München nicht mehr. Albert Stagura fängt noch einmal neu an. So alt wie diese Bäume möchte ich gerne werden, aber immer dabei malen können, sagt er in seinem letzten Lebensjahr unter den Linden von Frauenchiemsee zu seiner Frau Maria. Wenn er schon keinen Wikipedia Artikel hat, und es keine Bücher über ihn gibt, immerhin hat Gstadt eine Straße nach im benannt.

Das Boot auf seinem Bildern ist immer das gleiche, Stagura hatte es einmal für zehn Mark gekauft. Aber die Landschaft und der See, die sind immer anders.











Montag, 22. Februar 2010

Bilder


In dem wunderbar komischen Roman Stars and Bars von William Boyd findet der Romanheld Henderson Dores einen Kollegen in der Frick Collection weinend vor einem Bild. Henderson Dores ist Engländer, in der Midlife Crisis, schüchtern und verklemmt. Er ist Kunsthistoriker. Kunsthistoriker weinen nicht vor Bildern, Engländer erst recht nicht. Sein Kollege steht vor einem Vermeer.

Der junge Marcel Proust hatte Bilder von Vermeer gesehen, sie haben ihn nicht mehr losgelassen. Als es in Paris im Frühjahr 1921 eine Vermeer Ausstellung gibt, in der auch das von ihm geliebte Bild der Ansicht von Delft hängt, verlässt der kranke Schriftsteller zum ersten Mal seit langem das Haus. Ein befreundeter Diplomat hatte dafür gesorgt, dass die Ansicht von Delft bei den Exponaten im Jeu de Paume war. Wir haben ein Photo von Proust von diesem Tag, das letzte, das ihn lebend zeigt. Er trägt einen ➱morning coat und hält sich sehr gerade, geradezu militärisch. Direkt nach seiner Schulzeit hatte er sich zum Militär gemeldet, vielleicht erinnert er sich jetzt daran. Wahrscheinlich hat ihm der Photograph gesagt, dass er so stehen soll. Man muss damals noch lange belichten.

Er hält seinen Zylinder so, dass man das Innenfutter und die Marke des Herstellers sehen kann. Offensichtlich macht man das in der feinen Pariser Gesellschaft so. Proust hat eine ganze Seite in seinem Roman A la recherche du temps perdu darüber geschrieben, wie man seinen Zylinder richtig in der Garderobe plaziert. Proust trägt noch einen Stehkragen, das tut 1921 eigentlich niemand mehr. Er wirkt wie aus einer anderen Zeit, die Tage sind vorbei, an denen man zu einem Museumsbesuch einen morning coat trägt. Proust weint nicht vor dem Vermeer, aber er hat einen Schwächeanfall. Das hat wohl nichts mit dem Kunsterlebnis zu tun, er ist einfach lange nicht mehr in der wirklichen Welt gewesen. Also der Welt außerhalb des Bettes in einem mit Kork ausgekleideten Zimmer, da schreibt er. Wie Jahrzehnte vor ihm hier in Paris ein anderer Dichter, der das Bett auch nicht mehr verlassen kann. Aber Harry Heine hatte es ja nicht mit Vermeer und dem Wiederheraufbeschwören eines ästhetischen Erlebnisses. Das ganze Leben auf der Suche nach einem vergangenen Augenblick, das ist die Sache von Marcel Proust. Literaturkritiker haben bereitwillig den Schwächeanfall im Museum als Vorahnung des Todes mit dem Tod von Bergotte in Die Gefangene in Verbindung gebracht. Es kann so schlimm nicht gewesen sein, Prousts Kraft reicht noch dafür, eine Ingres Ausstellung in einem Nachbarmuseum zu besuchen und hinterher noch ins Ritz zu gehen.

Der Schriftsteller Bergotte besucht in Prousts Roman eine Vermeer Ausstellung, obgleich ihm der Arzt wegen eines verhältnismäßig leichten Anfalls von Urämie Bettruhe verordnet hat. Er will die Ansicht von Delft sehen, ein Bild, das er liebte und sehr gut zu kennen meinte. Ein Kritiker hatte geschrieben, dass es eine kleine gelbe Mauerecke (an die er sich nicht erinnerte) enthalte, die so gut gemalt sei, dass sie allein für sich betrachtet einem kostbaren chinesischen Kunstwerk gleichkomme, von einer Schönheit, die sich selbst genüge. Bergotte hat (wie Proust) einen Schwindelanfall, als er endlich auch die kostbare Materie des ganz kleinen gelben Mauerstücks entdeckte. Er stirbt vor dem Bild, während er sich noch verzweifelt bemüht, Haltung zu bewahren: Ich möchte dabei doch nicht, sagte er sich, für die Abendzeitungen die Sensation dieser Ausstellung sein. Aber die Schönheit des kleinen Mauerstücks vernichtet sein eigenes Kunstwollen: So hätte ich schreiben sollen, sagte er sich. Meine letzten Bücher sind zu trocken, ich hätte mehr Farbe daran wenden, meine Sprache in sich selbst so kostbar machen sollen wie diese kleine gelbe Mauerecke es ist. Wir sind immer auf der Suche nach der kleinen gelben Mauerecke in unserem Leben.

Die petit pan de mure jaune, wo ist sie? Nicht auf dem Bild von Vermeer. Literaturkritiker und Kunsthistoriker sind dem nachgegangen. Dieter E. Zimmer, dessen Weggang von der Zeit dem Wochenblatt einen irreparablen Substanzverlust bescherte, hat 1996 in der Süddeutschen Zeitung über die vergebliche Suche nach dem kleinen gelben Mauerstück geschrieben. Man kann dank des Internets seinen Artikel jederzeit lesen, ebenso wie man sich jederzeit die Seite ➱diese Seite aufrufen kann. Eine Seite, die so perfekt gemacht ist, dass man als Kunsthistoriker nur staunen kann. Ich weiß nicht, wie es in dem Fach heute aussieht, aber als ich studierte, wurde man darauf trainiert, Bilder an den kleinsten Ausschnitten zu identifizieren. Der Rest des Bildes interessierte erst einmal nicht, nur ein Quadratzentimeter war wichtig. Das schult das Auge, man wird gut in der Detailbetrachtung. Aber irgendwie ist es auch eine déformation professionelle. Man weint dann natürlich auch nicht mehr vor Bildern.

In seiner kleinen Theorie der Photographie Die helle Kammer hat Roland Barthes uns den Begriff des punctum offeriert, ein kleines Detail des Bildes, das uns nicht mehr loslässt (im Gegensatz zum studium, dem Gesamteindruck des Bildes). Für Bergotte und Proust ist die petit pan de mur jaune das punctum. Aber muss es sie in der Welt des Romans wirklich auf dem Bild Vermeers geben? Beauty in things exist merely in the mind which contemplates them, hat David Hume gesagt. Das kleine gelbe Mauerstück bleibt genauso elusiv wie die Sonate, die Charles Swann bewundert. Ist es Saint-Saéns, Fauré oder César Franck? In unserem Kopf schreiben wir beim Lesen immer unseren eigenen Roman. Wir füllen die Leerstellen, von denen Wolfgang Iser gesprochen hat, mit Eigenem auf.

Bilder enthalten Geheimnisse, die Farben enthalten Geheimnisse. Das unwirkliche Grün in den Landschaften der alten Niederländer hat vor Jahrhunderten ganz anders ausgesehen. Der verwendete Grünspan verändert sich chemisch. Das Bleizinngelb, das Vermeer verwendete, gibt es seit dem 18. Jahrhundert nicht mehr. Hat sich Jean-Louis Vaudoyer, der Proust zur Ausstellung begleitete (und dessen Artikel mit der Erwähnung des kleinen gelben Mauerstücks in L'Opinion Proust gelesen hatte), nur vorgestellt, wie das Gelb 1660 ausgesehen haben könnte? Aber das Bleizinngelb ist im Gegensatz zum Grünspan eine beständige Farbe, es verändert sich kaum. Das sagt uns Anita Albers, die mit Die Kunst der Künste: Erinnerungen an die Malerei ein seltsames, aber hochoriginelles, wunderbares Buch geschrieben hat.

Wenn sich am Ende von Die wiedergefundene Zeit der Erzähler Marcel darüber Gedanken macht, wie viel Zeit ihm bleibt, um seine Kathedrale der Erinnerung zu bauen, sagt er, dass alles in einem Buche aus zahllosen Eindrücken besteht. Die von vielen jungen Mädchen, von vielen Kirchen, von vielen Sonaten her entnommen, dazu dienen, eine einzige Sonate, eine einzige Kirche, ein einziges junges Mädchen zu bilden bestimmt sind. Wahrscheinlich gibt es eine Vielzahl von sonnenbeschienenen gelben Mauerecken, die für Bergotte in seiner Epiphanie zu dem einen kleinen Mauerstück verschmelzen, das Vermeer nicht gemalt hat. Seinen eigenen Schwächeanfall im Jeu de Paume brauchte Proust für die Sterbeszene von Bergotte nicht, die Idee hatte er schon lange im Kopf. Als er im September 1898 in Holland eine Rembrandt Ausstellung besucht, hatte er den Plan, einen Roman zu schreiben, in dem der von ihm verehrte englische Kunstkritiker John Ruskin in einer Rembrandt Ausstellung stirbt. Wenn Bergotte angesichts der Schönheit des Vermeer Bildes sein eigenes Werk gering einschätzt, dann ist er nicht der einzige Schriftsteller im 20. Jahrhundert. Robert Lowells letztes Gedicht Epilogue in seinem letzten Gedichtband nimmt das Thema von Vermeer und dem eigenen dichterischen Versagen wieder auf:

Those blessèd structures, plot and rhyme -
why are they no help to me now
I want to take
something imagined, not recalled?
I hear the noise of my own voice:
The painter's vision is not a lens,
it trembles to caress the light.
But sometimes everything I write
with the threadbare art of my eye
seems a snapshot,
lurid, rapid, garish, grouped,
heightened from life,
yet paralyzed by fact.
All's misalliance.
Yet why not say what happened?
Pray for the grace of accuracy
Vermeer gave to the sun's illumination
stealing like the tide across a map
to his girl solid with yearning.
We are poor passing facts,
warned by that to give
each figure in the photograph
his living name.

Sonntag, 21. Februar 2010

Winter


Wenn ich aus dem Fenster blicke, sieht es draußen aus wie auf Brueghels Winterlandschaft. Und das schon seit Wochen. Enervierend, man wünscht sich den Frühling herbei. Dabei hatten wir schon viel strengere Winter in den letzten fünfzig Jahren. Aber wir sind verwöhnt durch den Klimawandel. Bei Breughel sieht der Winter noch nicht nach Klimawandel aus. Sein Bild mit den Jägern im Schnee von 1565 erfreut sich offensichtlich auch nach Jahrhunderten großer Beliebtheit, im Internet werden hunderte von Kunstdrucken angeboten. Es hat im zwanzigsten Jahrhundert erstaunlich viele Dichter herausgefordert: Walter de la Mare, William Carlos Williams, Joseph Langland und John Berryman haben Gedichte über dieses Bild geschrieben. Dichter schreiben sowieso gerne über den Winter, vor allem in Zeiten, als es das Wort Klimawandel noch nicht gibt. Thomas Campion, Robbie Burns, Robert Frost, David Gascoyne, und wie sie alle heißen.

Das längste Gedicht über den Winter stammt von James Thomson, es ist Teil seiner berühmten The Seasons. Den Winter hat er zuerst geschrieben (1726), obgleich in der Gesamtausgabe der Seasons der Frühling von 1728 natürlich ganz vorne steht. 1745 hat der Hamburger Barthold Heinrich Brockes die Jahreszeiten für die anglophilen Hamburger ins Deutsche übersetzt. Obgleich die ja eigentlich Englisch können sollten. Und so bringt John (eigentlich Johann) Timaeus 1791 in Hamburg eine englische Ausgabe heraus. Mit einer zweiseitigen Widmung an Christian Daniel Ebeling. Der ist eigentlich Professor für Geschichte und Griechisch am Akademischen Gymnasium in Hamburg, aber er interessiert sich für England und Nordamerika. Er ist heute erstaunlicherweise in Amerika berühmter als in Hamburg. Er heißt auch nicht Christian sondern Christoph. Erstaunlich, dass Timaeus den Vornamen seines Mentors aus der gemeinsamen Zeit an der Hamburger Handelsakademie (zu deren Schülern kein Geringerer als Alexander von Humboldt zählte) von Johann Georg Büsch auch bei der zweiten Auflage des Werkes (Leipzig 1794) noch nicht richtig hingekriegt hat. Für einen Philologen ein wenig peinlich. Vor allem, wenn er im Vorwort in Bezug auf seinen Text des unrivalled masterpiece of the British Bard das Wort correctness gebraucht.

Das steht neben dem Wort cheapness. Timaeus möchte, dass seine Ausgabe in den Schulen verwendet wird und dass das Werk be more universally spread and acknowledged amongst my countrymen. Die Aufklärung ist doch eine schöne Zeit, wo man annehmen kann, dass solche Langgedichte wie The Seasons in den Schulen gelesen werden. Heute verstehen deutsche Schüler häufig deutsche Texte nicht mehr, von englischen ganz zu schweigen. Aber auch Leute, die studiert haben, sprechen seltsames Englisch, wie der Herr Doktor Westerwelle oder der Herr Oettinger, der Schwänglisch spricht. Da sehnt man sich doch nach den Hamburger Aufklärern wie Brockes, Büsch oder Timaeus zurück. Timaeus, der selbst übersetzte (so hat er Johann Heinrich Campes Robinson der Jüngere ins Englische übertragen), mag sich mit seiner deutschen Neuausgabe auch gegen die ins Kraut geschossenen deutschen Übersetzungen gewandt haben. So gab es neben Brockes' Übersetzung (an der Gottsched herumgenörgelt hat), auch eine von Johann Franz Pahlten von 1766, die Lessing annehmbar fand. Dazu eine von Daniel Schubart und eine schlimme Version vom Baron van Swieten (über die sich Haydn bei der Vertonung des Gedichtes immer ärgerte). Später (1796) erschien noch eine Übersetzung in deutschen Jamben von Heinrich Harries aus Flensburg im dänischen Altona.

The Seasons ist ein seltsames Gedicht. Ein Lehrgedicht, zuweilen tief religiös, zuweilen sehr detaillierte Naturbeobachtung, die schon ahnen lässt, das irgendwann die Romantik kommen wird. Und dann immer wieder Lobhudeleien auf seine jeweiligen aristokratischen Gönner, die den jungen Dichter finanzieren. Und voll von dem, was man in der Nachfolge Miltons so schön poetic diction nennt, eine künstliche und kunstvolle Sprache, für die man die Klassiker kennen muss. William Wordsworth fand das furchtbar, er forderte für die Dichtung eine language near to the language of men. Und diesen Weg hat die englische Lyrik dann ja auch eines Tages genommen.

Man kann auch heute James Thomsons Seasons erstaunlicherweise immer noch lesen. Also nicht die Herren Westerwelle oder Oettinger, die kein Englisch lesen und sprechen können. Man muss sich Zeit nehmen, die zeitgenössischen Leser von Thomson wurden natürlich noch nicht von allen möglichen Massenmedien abgelenkt. Es ist ein Buch, das auch grosse Ruhe ausstrahlt, eine Ruhe, die uns heute vielleicht fehlt. Am Anfang von Spring ist der Winter, wie jetzt bei uns, immer noch gegenwärtig:

As yet the trembling year is unconfirm'd
And WINTER oft at eve resumes the breeze,
Chills the pale morn, and bids his driving sleets
Deform the day delightness; so that scarce
The bittern knows his time, with bill ingulphr,
To shake the sounding marsh; or from the shore
The plovers when to scatter o'er the heath,
And sing their wild notes to the listening waste.


Es wäre vielleicht für die Lektüre nützlicher, wenn man statt der Ausgabe von John Timaeus die Oxford Ausgabe von Thomsons Werken von James Logie Robertson benutzt. Der ändert nämlich das unverständliche ingulphr in engulfed. Macht bei der kleinen Rohrdommel auch mehr Sinn. Andererseits ist es auch immer schön, einen Text aus dem 18. Jahrhundert in einem Buch aus dem 18. Jahrhundert zu lesen. Mein Exemplar ist in den letzten zweihundert Jahren schon von zahlreichen Lesern handschriftlich kommentiert worden. Der erste Leser aus dem 18. Jahrhundert hat noch sehr gebildete Kommentare mit der Feder geschrieben, der letzte hat sich mit Bleistift in Sütterlinschrift Vokabeln notiert. Es geht mit der Bildung immer mehr bergab.

Vor wenigen Jahren hat Wolfgang Schlüter das Gedicht neu übersetzt. Der ist jahrelang Herausgeber der Arno Schmidt Ausgabe gewesen, und das schädigt doch fürs Leben. Und so klingt sein Thompson auch altertümelnder als das Original. Ich zitiere einmal den Anfang von Sommer (Winter haben wir jetzt genug gehabt):

Aus Äthers strahlendem Gefild enthüllt,
kommt jetzt der Sonne Kind: der Sommer,
prangend im Stolz der Jugend und durch alle Tiefe der Natur gefühlt,
auf seiner Bahn begleitet von den schwülen Stunden
oder luftigem Gefächel,
indes vor seinem Siedeblick der Lenz sich kehrt,
das blühnde Anlitz wendet, Erd und Firmament
All-lächelnd seiner heißen Herrschaft überlässt. 


Im Original heißt es:

From brightening fields of ether fair-disclos'd,
Child of the sun, refulgent Summer comes,
In pride of youth, and felt through nature's depth:
He comes, attended by the sultry Hours
And ever-fanning Breezes, on his way;
While, from his ardent look, the turning Spring
Averts her blushful face; and earth and skies,
All-smiling, to his hot dominion leaves.


Klingt irgendwie viel frischer als die gestelzte Sprache der Übersetzung. Wenn auch viele Engländer The Seasons nicht mehr kennen, ein Gedicht von Thomson können selbst englische Fußballfans noch volltrunken singen. Und das heißt Rule Britannia. Es ist eine kleine Ironie der Weltgeschichte, dass Thomsons Übersetzer Heinrich Harries auch etwas Vaterländisches geschrieben hat, das genau so gefürchtet wurde wie Rule Britannia, Britannia Rule the Waves. Am 27. Januar 1790 hat er im Flensburger Wochenblatt ein Gedicht auf den Geburtstag des dänischen Königs Christian geschrieben. Ich weiß nicht, was sich der Pfarrer Harries davon versprochen hat, eigentlich regiert der geisteskranke König gar nicht mehr. Aber sein Loblied Heil dir, dem liebenden Herrscher des Vaterlandes! Heil, Christian dir! (zu singen nach der Melodie von God Save the King von Dr. Thomas Arne) wird drei Jahre später von einem Deutschen namens Balthasar Heinrich Schumann umgedichtet. Es wird unter dem Titel Heil Dir im Siegerkranz! berühmt und berüchtigt werden.


Freitag, 19. Februar 2010

Havanna


Der Kapitän Charles Dwight Sigsbee sitzt nachts in seiner Kabine und schreibt einen Brief an seine Frau. Alles ist ruhig im Hafen von Havanna, es ist der 15. Februar 1898. Als der Kapitän den Brief an seine Frau versiegelt, schaut er auf seine Taschenuhr, es ist zwanzig vor Zehn. In diesem Augenblick explodiert sein Schiff. Der zehn Jahre alte Panzerkreuzer Maine sinkt sofort. Nimmt den größten Teil der Mannschaft mit in die Tiefe. Kapitän Sigsbee und 89 Seeleute können sich retten. Am nächsten Tag ist die ganze amerikanische Presse in Havanna, vor allem die, die man jetzt Yellow Press nennt.

Diese Sorte Journalismus, die die Axel Springers der damaligen Zeit, Joseph Pulitzer und Randolph Hearst, reich machen wird. Hearst wird sich ein Schloss namens Xanadu in Kalifornien bauen lassen, er hat offensichtlich Coleridge gelesen. Orson Welles wird über ihn einen Film drehen, den er Citizen Kane nennt. Pulitzer und Hearst haben den Sensationsjournalismus perfektioniert, Yellow Press heißen ihre Erzeugnisse nach einem Comic The Yellow Kid, bei dem die Figur des Yellow Kid gelb eingefärbt war. They colored the comics but they colored the news as well. Die Sensationspresse schreit Remember the Maine. To hell with Spain!, der Spanisch-Amerikanische Krieg ist unausweichlich. Das ist der Krieg, in dem Teddy Roosevelt mit seinen rough riders seine Cowboyphantasien ausleben kann. Ein anderer Cowboydarsteller im Weißen Haus namens Ronald Reagan wird noch 1987 in einer Rede vor Marinekadetten diesen Schlachtruf ausstoßen. Die Ursache für die Explosion ist niemals zweifelsfrei geklärt worden.

Captain Sigsbee wird methodisch und korrekt die Rettungs- und Bergungsarbeiten leiten. Eigentlich ist er eher ein Wissenschaftler, ein anerkannter Meeresgeologe, die Sigsbee Tiefe im Golf von Mexico heißt nach ihm. Natürlich ist er auch ein erfahrener Marineoffizier, sonst würde man ihm kein Schlachtschiff Zweiter Klasse anvertrauen. Sigsbee hat im Bürgerkrieg unter Admiral Farragut gedient. Sigsbee hat Schwierigkeiten, Marinetaucher zu finden. Die meisten vorhandenen Taucher sind schon von Journalisten unter Vertrag genommen worden. Er schickt einen Taucher in seine Kabine, damit der den militärischen Briefwechsel aus seinem Schreibtisch birgt. Der Taucher bringt noch zwei andere Dinge mit: die Taschenuhr des Kapitäns und den preußischen Roten Adlerorden. Den hat Wilhelm I. dem Kapitän Sigsbee für seine Forschungen verliehen, auf den ist er stolz. Er schreibt das mit dem Orden und der Uhr auch in seinen offiziellen Bericht. Man kann es noch im Internet lesen.

Kapitän Sigsbee nimmt seine Taschenuhr und spült sie in sauberem Leitungswasser ab. Danach gießt er Öl über sie. Diese Prozedur mag uns barbarisch erscheinen, sie ist aber völlig fachmännisch. Das Wasser beseitigt die Spuren des Salzwassers, das Öl verhindert das Rosten der Uhr. Er hat das schon zweimal gemacht, als er durch Unfälle über Bord gegangen ist. Einmal in Japan, einmal vor zwanzig Jahren hier in Kuba. Danach schickt er die Uhr per Post an den Hersteller. Er hätte natürlich seine Taschenuhr zur Firma ➱Cuervo y Sobrinos in Havanna bringen können. Die sitzen hier seit 1882 und sind die berühmteste Firma weit und breit. Winston Churchill hat hier gerade eine Taschenuhr gekauft. Und natürlich hat Churchill in Havanna auch Zigarren gekauft, er wird sich hier das Zigarrenrauchen angewöhnen. Der neue Besitzer von Romeo y Julieta wird eines Tages eine Zigarre nach ihm benennen.

Sigsbees Taschenuhr ist ein amerikanisches Fabrikat. Die Amerikaner stellen zu dieser Zeit (und das hört man in der Schweiz auch heute noch nicht so gern) die besten Taschenuhren der Welt her. Die Schweiz produziert damals, mit Ausnahme einiger Genfer Firmen, hauptsächlich Billigware. Und billige Fälschungen amerikanischer Taschenuhren. Als Georges Favre-Jacot mit einer Schweizer Delegation die Weltausstellung von Chicago besucht, kauft er eine preiswerte amerikanische Taschenuhr, die er danach allen Uhrenfabrikanten zum Studium zur Verfügung stellt. Selbst die einfachsten amerikanischen Qualitäten von Firmen wie ➱Elgin, Waltham, Hamilton und wie sie alle heißen, haben 15 Steine, eine Breguetspirale und eine Kompensationsunruh. Von den Luxusqualitäten wollen wir jetzt gar nicht reden.

Sigsbee Taschenuhr wird ihm vom Hersteller in einwandfreiem Zustand zurückgeschickt werden und wird ihn noch sein Leben lang begleiten. Er wird noch Admiral werden. Und er wird mit seinem Flaggschiff 1905 die sterblichen Überreste des amerikanischen Marinehelden aus dem Revolutionskrieg John Paul Jones von Cherbourg nach Washington bringen. Charles Dwight Sigsbee wird 1923 in Arlington beerdigt werden. Die ganze Besatzung der Maine liegt da schon. Für die letzten nicht identifizierten 67 Seeleute, die man noch aus dem Wrack der Maine bergen wird, hatte es am 23.3.1912 einen Staatsakt gegeben. Als Admiral Sigsbee ein dutzend Überlebender der Maine erkennt, vergisst er das Protokoll, stürzt auf sie zu und umarmt einen weinenden Bootsmann, der schon seit 28 Jahren in der US Navy ist. Die New York Times vom 24.3.1912 widmet diesem Ereignis mehr Raum als der Rede von Präsident Taft.

Sigsbys Uhr ist von der Firma Edward Howard hergestellt worden, zu der Zeit eine der besten amerikanischen Firmen. Leider habe ich keine Howard, aber ich habe eine ➱Illinois Bunn Special und eine erstklassige Hamilton. Traumhafte Qualitäten. Heute ist so etwas schon beinahe unbezahlbar, vor zehn, zwanzig Jahren konnte man das noch preiswert finden. Ich habe auch (ein Zufallsfund, von dem jeder Sammler träumt) eine Armbanduhr von ➱Cuervo y Sobrinos aus Havanna. Sie stammt aus den dreißiger Jahren, als amerikanische Millionäre in Kuba Urlaub machten. Und Albert Einstein und Ernest Hemingway sich bei Cuervo y Sobrinos in Havanna Uhren kauften. Da bin ich mit meiner in guter Gesellschaft.

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Donnerstag, 18. Februar 2010

Anders Zorn


Horatio Alger schreibt Romane, immer die gleichen, aber Amerika liest sie gerne. From Rags to Riches heißt die Formel, vom Straßenjungen zum Millionär. Die Formel des American Dream kommt an in einer Gesellschaft, in der jetzt viele ein Millionenvermögen machen. Wo es der Präsident Lincoln from log cabin to White House geschafft hat. Und die Millionen von armen Einwanderern, die in die schöne neue Welt kommen, glauben an diese puritanische Zauberformel. Mark Twain hat diese Zeit das Gilded Age genannt, kein goldenes Zeitalter, nur ein vergoldetes. Anders Zorn wird sich bei seinen zahlreichen Amerikaaufenthalten in der Gesellschaft der Neureichen robber barons sehr wohl fühlen. Die sind wie er: sie haben mit nichts angefangen, jetzt sind sie Millionäre.

Anders Zorn ist heute vor 150 Jahren in Mora in Schweden geboren worden. Ein uneheliches Kind der Bauerntochter Grudd Anna Andersdotter und des aus Deutschland nach Schweden gekommenen Bierbrauers Leonard Zorn, den er nie kennenlernen werden wird. Wenn er 1920 stirbt, wird er ein Millionenvermögen hinterlassen. Er ist einer der berühmtesten Maler seiner Zeit. Er hat als Maler der High Society nur einen Konkurrenten, der heißt John Singer Sargent. Aber der hat nur zwei amerikanische Präsidenten gemalt, ich habe drei gemalt, pflegt Zorn zu sagen. Er hat nicht nur Präsidenten gemalt, auch Könige zählen zu seinen Kunden. Anders Zorn ist nach seinem Tode als Maler schnell vergessen worden. Wenn der ehemalige Direktor des Zornmuseums in Mora, Erik Forssman, nicht 1976 in Freiburg eine Ausstellung des graphischen Werkes gemacht hätte und wenn nicht ➱Jens Christian Jensen 1989 eine Zorn Retrospektive in Kiel organisiert hätte, würde ihn hier in Deutschland niemand mehr kennen. Um die Jahrhundertwende kannte ihn jeder in Deutschland. Er hätte sogar beinahe zu seinen vielen Orden noch den Pour le Mérite bekommen, aber davor schreckte Wilhelm II doch zurück, zu viele nackte Schwedinnen auf den Bildern.

Anders Zorn hat Glück, er landet nicht wie Oliver Twist im Armenhaus. Die Eltern seiner Mutter nehmen ihn auf, die Gemeinde Mora kümmert sich um ihn. Sein früh verstorbener Vater, dessen Namen er eines Tages annimmt, hinterlässt ihm ein Erbteil, und die Bierbrauerfreunde seines Vaters finanzieren ihm das Studium. Er will zuerst Bildhauer werden, wendet sich dann aber der Malerei zu. Sein großes Talent wird überall schnell erkannt, seine Bilder verkaufen sich. Er bereist ganz Europa, London, Paris, Madrid, Venedig. Er freundet sich mit vielen Künstlern an, auch mit Max Liebermann (den er auch malt). Er scheint am Anfang seiner Karriere noch unsicher zu sein, wie er malen soll. Er imitiert den in England geschätzten James Tissot in seinem Bild Auf der Themse (1883). Und die Liebesnymphe (ein Aquarell, auch darin wird Zorn ein Meister sein) von 1885, die ein wenig nach Richard Dadd schmeckt, wollen wir lieber auch vergessen. Obgleich sie damals beim viktorianischen Publikum ein riesiger Erfolg war.

Irgendwann malt er wie Liebermann, dann wie John Singer Sargent. Aber wenn er auch nicht ein solches Meisterwerk wie Die Töchter von Edward Darley Boit malt, kann man den Einfluss von Velasquez, der Sargent auszeichnet, auch bei ihm nicht leugnen. Seine Palette wird grautonig wie bei Sargent, das schönste Beispiel ist sicher das Bildnis des Schauspielers Coquelin Cadet (1889) im oberen Absatz. Aber in die Monochromie kommt auch immer wieder ein roter Farbfleck. Wie bei den Spitzenklöpplerinnen von 1894 oder dem Selbstbildnis mit Modell von 1896. Zorn wird auch, so ganz nebenbei, ein Meister der Radierung. Wenn er 1890 als Neujahrsgruß eine Karte verschickt, die ihn (mit elegantem Zylinder), seine Frau und seine Mutter zeigt, dann radiert er auch noch einen kleinen Rembrandt mit auf die Karte. Er selbst betrachtet die Radierungen eher als eine Spielerei, bei seinem Publikum stehen sie in einem hohen Kurs.

Der Bauernsohn aus Dalarna hat sich seinen Platz in der großen Welt hart erarbeitet. Er wird ein großer Dandy werden. Malt sich 1915 in einem roten Anzug, und im gleichen Jahr in einem mächtigen Wolfspelz. Wenn man die Reichen und Schönen malt, die nur auf Äußerlichkeiten acht geben, muss man diese modischen Äußerlichkeiten beherrschen. Anders Zorn hat das Glück, dass er ➱Otto Gustaf Bobergh kennenlernt. Der hatte zuvor mit Charles Frederic Worth in Paris das Haute Couture Haus Worth begründet, jetzt ist er in Stockholm. Und ähnlich wie in Paris der Londoner Hofmaler Franz Xaver Winterhalter mit dem berühmten Worth zusammenarbeitet, wird Bobergh jetzt Anders Zorn alles über elegante Kleidung beibringen. Er wird auch zum "Hofschneider" von Zorn, der jetzt alle Geheimnisse der Schneiderkunst kennt. Sein Bild von König Gustav V. ist das Bild eines eleganten Dandys im Frack. Sehr monochrom, nur die blaue Ordensschärpe über der Frackweste hebt sich aus dem Schwarz und Weiß heraus. Das Bild ist vergleichbar mit Munchs Bild von Harry Graf Kessler in Charlottenburg (1906), ist nur nicht so gelb. Solch revolutionäre Malerei liegt Zorn gar nicht.

Anders Zorn wird aus der großen Welt immer zu seinen bäuerlichen Wurzeln nach Mora zurückkehren, kauft dort Grundstücke, baut ein Haus, tut gute Werke. Und wird zu einem Maler einer ewigen schwedischen Mittsommernacht, wie in Mitternacht (1891) und Mittsommertanz (1903). Anstelle der Damen des amerikanischen Gilded Age kommen nun nackte Schwedinnen auf seine Leinwand. Nicht mehr kaum verhüllte Römerinnen wie bei den prüden Viktorianern. Seine Malerei erinnert jetzt manchmal an Lovis Corinth. Aber diese Frauenbilder (für die Zorn neben Skizzen auch von dem Photoapparat Gebrauch machte) sind für viele der prüden Betrachter (wie Wilhelm II) auch ein Stein des Anstoßes. Viele sehen in der Aktmalerei einen Ausdruck von Altherrenphantasien, Zorn gibt das in seinen autobiographischen Aufzeichnungen auch freimütig zu. Er hat niemals die zeremonielle Art und die gekünstelten Sitten der europäischen Stadtmenschen recht ertragen können. Er träumt von einer schwedischen, pangermanischen Einfachheit. Rausch und Sinnlichkeit sind immer die Devise des urwüchsigen Schweden gewesen. Wenn er 1920 stirbt, wird er seine Kunstsammlungen, sein Werk und sein zweistelliges Millionenvermögen dem schwedischen Staat hinterlassen. Da ist die moderne Kunst (an die er als einer der großen Realisten nie geglaubt hat) schon längst an ihm vorbeigezogen. Man wird ihn schnell vergessen. Nicht in seinem Heimatort, wo es ein Anders Zorn Museum gibt. Er ist In allem und jedem - ein Mann von seltener Kraft, seltener Energie und seltenen Fähigkeiten gewesen, wie Walter Leistikow vor über hundert Jahren urteilte.

Ich habe vor zwanzig Jahren anlässlich der großen Kieler Zorn Ausstellung einen Artikel über Zorn in einer kleinen skandinavistischen Zeitschrift namens norröna geschrieben. Das brachte zwar kein Honorar, aber eine Handvoll Freiexemplare. Eins davon habe ich dem Mann geschenkt, der mir meine sauteure HiFi Anlage installierte. Der war ein großer Anders Zorn Fan, es gibt sie also irgendwo, die Anders Zorn fans. Ich bekam von ihm einen wunderbaren kleinen Plüsch Waschbären namens Knudsen von der dänischen HiFi Firma Dynaudio. Wanda und Carlo lieben ihn. So ist Anders Zorn irgendwie immer noch in meinem Wohnzimmer, wenn ich schon kein Bild von ihm besitze.


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