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Montag, 31. Mai 2010
Song of Myself
So sah er aus, der Dichter. Auf der linken Buchseite neben dem Titel Leaves of Grass. Dann nur noch Brooklyn, New York: 1855. Kein Name. Dichter erlauben sich damals ja vielleicht mal, auf eine Krawatte zu verzichten und tragen einen Schiller-Kragen oder einen Byron-Kragen. Aber dies hier, das hat noch keiner gewagt, so vor sein Publikum zu treten. Amerikanische Bohème. Dichter inszenieren sich in der Mitte des Jahrhunderts ja noch als Herren von Welt, elegante schwarz gekleidete viktorianische Gentlemen. Dieser Dichter, der uns so frech und herausfordernd anguckt, hat seine erste Auflage von Leaves of Grass selbst gestaltet und selbst gedruckt. Sein Name, Walter Whitman, erscheint nur in der Copyrightangabe und einmal im Text: Walt Whitman, an American, one of the roughs. Und er hat dem noch hinzugefügt: a kosmos. rough ist er sicherlich, so wie er auf dem Stahlstich aussieht, der poet of commonsense, der poet of the body und poet of the soul. Der Dichter aus New York, der 1855 seine Gedichtsammlung mit den Worten I celebrate myself beginnt, will der Dichter des gemeinen Mannes sein, der Dichter von ganz Amerika. Es ist kein Zufall, dass der Band am Nationalfeiertag, dem vierten Juli erschienen ist.
Das amerikanische literarische Establishment im puritanischen Boston hätte die erste schmale Ausgabe (95 Seiten) der Leaves of Grass nicht zur Kenntnis genommen, hätte nicht Ralph Waldo Emerson dem jungen Dichter einen Brief geschrieben, in dem der Satz stand The most extraordinary piece of wit & wisdom that America has yet produced. Und der zwei Jahre ältere Henry David Thoreau, der ein Jahr zuvor Walden, Or Life in the Woods veröffentlicht hatte, war von Whitmans Gedichten so angetan, dass er den Dichter in New York besuchte. Leaves of Grass wird der Titel von Walt Whitmans lyrischem Werk bleiben, von 1855 bis zur so genannten deathbed edition von 1892 wird der Band immer voluminöser werden. Wenn man als Dichter Amerika singen hört, dann braucht man viele Seiten um das aufzuzeichnen. Dreaming of your enumerations hat Allen Ginsberg in A Supermarket in California geschrieben, und diese endlosen Aufzählungen werden Whitmans Langgedichte charakterisieren. Mitunter schwer erträglich, aber wenn man es laut liest, dann kommt das Ganze ins Rollen. Whitman wirft alle Konventionen der Lyrik wie Strophe und Reim weg. Darin ist er revolutionär. Viele amerikanische Dichter werden ihm folgen.
Whitman ist gerne in die Oper gegangen, viele Kritiker haben einen Einfluss der Oper auf seine Dichtung gesehen, die weniger Gedichte als große Arien auf Amerika sind. Walt Whitman schreibt nicht nur über Amerika, er ist Amerika, hat Ezra Pound gesagt. Der Dichter, der erklärt, dass washes and razors for foofoos seien, für ihn gäbe es nur freckles and a bristling beard, ist am heutigen Tag geboren worden. Im Jahre 1819 haben noch andere bedeutende Schriftsteller das Licht der Welt entdeckt: Herman Melville und Theodor Fontane.
Wenn man ihn heute lesen will, sollte man nicht versuchen, Leaves of Grass von vorne bis hinten lesen zu wollen. Aber Starting from Paumanok und Out of the Cradle Endlessly Rocking (die man auf www.bartleby.com findet) geben schon einen guten Eindruck. Wenn man dann noch When Lilacs Last in the Dooryard Bloom'd liest, ist man schon beinahe ein Whitman Fachmann. In dem Film Dead Poets Society bekommt Robin Williams eine Prep School Klasse dazu, dass sie auf Tischen und Bänken stehen und Whitman deklamieren. Wäre doch gelacht, wenn wir das nicht auch hinkriegen würden.
Sonntag, 30. Mai 2010
Admiral Brommy
Was steigt denn da am Horizont für'n schwarzer Rauch empor? Das ist des Kaisers Segelyacht, die stolze Meteor, dichtete man vor hundert Jahren an der Küste. Ja, unser Kaiser und sein Flottenwettrüsten. Weil er eine Kaiserliche Marine haben wollte, so wie die Engländer eine Royal Navy haben. Die Royal Navy hat England groß gemacht, 1588 die spanische Armada geschlagen, im 18. Jahrhundert die halbe Welt erobert. Eine Royal Army haben die Engländer nicht, seit sie die Demokratie erfunden haben, achten sie argwöhnisch darauf, dass der Monarch keine Armee hat. Wenn das englische Parlament dem Verteidigungshaushalt nicht zustimmen würde, wäre die englische Army aufgelöst. Aber die Navy, die ist royal, und die Flotte rules the waves.
So etwas möchte Willem auch haben, seit der Admiral Mahan die Bedeutung von See- und Landstreitkräften am Beispiel von Wellingtons Spanienfeldzug verdeutlicht hat. Also wird Wilhelmshaven (vulgo Schlicktown) gebaut und das verschlafene Kiel wird zur Marinestadt. Und die Sektsteuer wird erfunden, für die Finanzierung der Schlachtschiffe. Wir haben keine Schlachtschiffe mehr, und wir brauchen auch nicht mehr die Preußen durchzufüttern, aber die Sektsteuer haben wir immer noch. Denken Sie mal dran, wenn Sie eine Bouteille Heidsieck oder Pommery & Greno aufmachen (ich erwähne diese beiden Marken nicht, weil ich mit denen einen Werbevertrag habe, sondern weil sie 1905 in Bremen dem Kaiser während eines Festessens serviert wurden). Unsere Flotte verteidigt unsere Freiheit am Horn von Afrika, fragen Sie jetzt nicht nach dem Wie und Weshalb oder nach der Begründung der Sektsteuer. Am Horn von Afrika schwimmt alles, was einsatzfähig ist, der Rest rottet auf Reede. Kann nicht repariert werden, weil die Marine kein Geld hat. Schreiben alle Zeitungen in diesen Tagen.
Brauchen wir überhaupt eine Marine? Wir sind jahrhundertelang ohne sie ausgekommen. Es würde ja ausreichen, wenn wir eine Küstenwache hätten. Vor Willems Großmannssucht hatten wir nur zweimal eine Marine. Einmal zur Zeit des Großen Kurfürsten, und das zweite Mal unter Admiral Brommy. Den kennen Sie jetzt nicht? Der ersten deutschen Flotte Admiral, wie Hermann Allmers für seinen Grabstein gedichtet hat? Also ich kenne ihn von klein auf, weil der Mann, der Brommy als Befehlshaber der ersten deutschen Flotte nach Deutschland geholt hatte, mal im 19. Jahrhundert bei uns gegenüber gewohnt hat. Eine riesige Gedenktafel erinnerte an den Gründer der deutschen Reichskriegsflotte.
Auf jeden Fall solange, bis der Besitzer des Hauses den Landsitz des Bremer Bürgermeisters und deutschen Handelsministers Arnold Duckwitz aus dem 19. Jahrhundert abreißen ließ (das hier ist jetzt das einzige Bild der Villa im Internet). Stand zwar unter Denkmalschutz, aber wen kümmert das? Das verschiebt den Baubeginn um ein Jahr, und die Konventionalstrafe wird auf die Mieten in den beiden potthäßlichen Neubauklötzen aufgeschlagen, die anstelle des schönen Landhauses nun das Weserufer verunzieren. Später hat sich der Mann, der das Duckwitzsche Anwesen zerstört hat, als Bremens größter Kunstförderer und Retter der nach dem Krieg in die Sowjetunion gelangten Bilder der Bremer Kunsthalle inszeniert.
1848 schreibt Duckwitz an den königl. griechischen Marinekapitän Herrn Brommy einen Brief, die Bildung einer deutschen Kriegsmarine betreffend. Er bietet ihm im Namen der provisorischen Frankfurter Bundesregierung das Oberkommando an. Erst einmal mit dem Rang eines Kapitän zur See, zum Admiral kann man ja schlecht jemanden machen, wenn die Flotte noch kein einziges Schiff hat. Der in Anger bei Leipzig geborene Carl Rudolph Bromme hat seinen Beruf richtig gelernt, Hamburger Navigationsschule, dann auf Hamburger Seglern, danach in der amerikanischen Handelsmarine. Jetzt ist er offiziell noch bei der griechischen Marine, obgleich er nach der Revolution von 1843 auf Halbsold gesetzt ist. Als er da 1827 als Leutnant anfing, hatte er noch unter dem sagenumwobenen Lord Cochran gedient, der das Vorbild für die Seeromane von C.S. Forester und Patrick O'Brian gewesen ist.
Als er bei der amerikanischen Marine war, hat Bromme seinen Namen in Brommy geändert, das klingt richtig englisch. Und unter dem Namen ist auch 1848 sein Buch Die Marine erschienen, das im 19. Jahrhundert ein viel gelesenes Standardwerk wurde. Man kann es als Reprint heute immer noch kaufen. Der Seezeugmeister der Nordsee, so sein offizieller Titel, baut für den Deutschen Bund in kürzester Zeit eine kleine Flotte auf. Die Schiffe werden aus England gekauft, Marineoffiziere und Unteroffiziere werden aus Amerika, England und Belgien angeworben. Die Mannschaften kommen aus Deutschland, nachdem man ihnen versichert hat, dass der Dienst in der Flotte des Bundes auf die Zeit der Wehrpflicht angerechnet wird. Es wird 1849 auch eine kleine Seeschlacht mit den Dänen vor Helgoland geben, die allerdings mit Abukir oder Trafalgar nicht zu vergleichen ist.
Man befördert Brommy zum Contre-Admiral, zahlt ihm eine Abfindung von 2.500 Talern und setzt ihm eine kleine Pension aus. Aber er hat reich geheiratet und verbringt seinen Lebensabend in einer Villa an der Lesum. Da gibt es am Lesumufer heute noch einen Admiral Brommy Weg. Wäre Brommy ein Engländer gewesen, es gäbe Bücher und Romane über ihn, die Engländer lieben ihre Seehelden. Aber hierzulande gibt es so gut wie nichts, außer einem kleinen netten Büchlein eines Amateurhistorikers namens Claus Uhlrich. Der überzeugte Demokrat Brommy wird nicht zu einem deutschen Helden. Für den Marschendichter Hermann Allmers, der auch ein alter 48er Revolutionär ist, ist Brommy aber ein zu Unrecht vergessener Held. Und so sorgt er nach Brommys Tod für ein Ehrenmal, auf dem seine Verse stehen:
Karl Rudolf Brommy ruht in diesem Grabe
Der ersten deutschen Flotte Admiral
Gedenkt des Wackren und gedenkt der Tage,
An schöner Hoffnung reich und bittrer Täuschung,
Und - welche Wendung dann durch Gottes Fügung.
Die letzte Zeile, aus der sich die Wandlung des 48er Revolutionärs Allmers zum Bismarckanhänger ablesen lässt, hatte Allmers erst nachträglich hinzugefügt. Eigentlich sollte das kleine Gedicht mit der Erinnerung an die Revolution, an schöner Hoffnung reich und bittrer Täuschung, enden. 150 Jahre ist Carl Rudolph Brommy nun tot, aber so weit ich sehen kann, hat es keine großen Gedenkfeiern gegeben. Als Admiral Nelson 200 Jahre tot war, wurde das in England mit einer großen Zeremonie gefeiert (➱BBC). So etwas kriegen wir hier nicht hin, wahrscheinlich hat der Verteidigungsminister Herr von und zu Guttenberg von dem Demokraten Brommy noch nie etwas gehört. Hätte er wirklichen Stil und nicht nur stilvolle Anzüge, dann hätte er am 9. Januar einen Gedenkkranz unter Allmers' Verse gelegt.
Samstag, 29. Mai 2010
Schneider
Ejn hinckender Schneider ist hinauff kommen zu den Pforten der Himmel / vnnd hat begeret von Sanct Peter / er soll jhn hinein lassen / das hat ihm aber Sanct Peter abgeschlagen / von wegen seiner vielfaltigen Diebstal / die er vollbracht hatte / wie dann der Schneider brauch ist. So fängt die Geschichte an, sieht ein bisschen gewöhnungsbedürftig aus, meinem Schreibprogramm gefällt das gar nicht. Aber vor fünfhundert Jahren, und so alt ist der Text beinahe, gab es natürlich noch keine Computer mit Rechtschreibprogrammen. Der Verfasser des Textes heißt Heinrich Bebel, er war Professor für Poesie und Eloquenz in Tübingen. Seine Libri facetiarum iucundissimi (Ausgabe letzter Hand Straßburg 1514) waren sein größter Erfolg, Anekdote, Schwänke, Parodien. Bebel hat Latein geschrieben, ist aber schon wenig später durch ein guoten Gesellen auß Latein in das Teutsch gebracht worden (1558). Das Erstaunliche ist, wir können das Frühneuhochdeutsche heute noch lesen und mit ein wenig Eingewöhnung verstehen. Engländer hätten da größere Schwierigkeiten, ich bezweifle, dass ein normaler Engländer Sir Thomas Malorys Le Morte d'Arthur so einfach lesen könnte. Das liegt daran, dass sich das Mittelenglische gerade erst zum Frühneuenglischen wandelt, Caxtons Druckerpresse ist daran nicht unschuldig. Dieses Deutsch, in dem uns der hinckende Schneider begegnet (was umgangssprachlich noch Jahrhunderte später eine Beleidigung ist) ist das Deutsch der Lutherzeit. Immer noch lesbar, Luthers Bibelübersetzung ist sprachgewaltiger als alle neuen Übertragungen, die von irgendeiner Art political correctness infiziert sind. Das gleiche gilt sicher für die King James Version der Bibel.
Schneider haben es nicht leicht im Volksmund, es gibt wohl keine Berufsgruppe, die in Sprichworten derartige Schmähungen ertragen muss, wie die Schneider. Die wunderbare enzyklopädische Bibliothek der deutschen Literatur, Zeno, hat da eine ganze Sammlung. (Zeno) Manche Schneider haben es zu Höherem gebracht, wie der alte Derfflinger, über den Fontane schreibt:
Die Stettiner hatten sich unterfangen
Eine Schere auszuhangen
Dem Feldmarschall zum Hohn.
"Wart, ich will euch auf der Stelle
Nehmen Maß mit meiner Elle,
Kreuzmillionenschockschwernoth."
Und Andrew Johnson, der Vizepräsident des ehemaligen Holzfällers Lincoln (damals beherrschten amerikanische Präsidenten noch ein Handwerk), ist nach Lincolns Tod Präsident geworden. Hatte aber nicht eine so tolle Karriere wie der alte Derfflinger. Der Schneider aus Tennessee musste ein Amtsenthebungsverfahren erleiden, weil er immer besoffen war.
Unser Schneider an der Himmelstür hat offensichtlich keine gute Reputation von wegen seiner vielfaltigen Diebstal. Aber er bittet und bettelt, er wolle deß Ofen dahinden hueten / auch allerley schlechteste Arbeit außrichten. So weit, so gut, er kriegt den himmlischen 1 Euro Job. Natürlich kann die Geschichte hier noch nicht zu Ende sein, ebenso wie ein Theaterstück braucht eine gute Geschichte eine Komplikation. Als aber auff ein Zeit der Himmlisch Fuerst mit dem gantzen Himmlischen Heer / von kurtzweil wegen hinauß in ein Garten / vnnd spacieren gegangen ausserthalb den Himmel / ist der Schneider allein daheime bleiben. Das tapfere Schneiderlein allein zu Haus, remansit solus ille sartor, wie es im Original heißt. Und wir ahnen schon, das geht nicht gut. Unser Schneider setzt sich auf Gottes Thron, an welchem Ort / als er weit vnd breit sehen kondte aller Menschen thun vnd lassen. Und da sieht er ein altes Weib, das einer anderen Frau am Bach die Kleider stiehlt. Da ward er vnwillig (dann er befandt bey ihm selber / wie eine grosse Suende das stelen were) erwuescht des Koeniges Fußschemel und warf denselbigen in das alte Weib. Als der Himmelskönig vom Spaziergang zurückkommt fehlt ihm sein Fußschemel, der Schuldige ist schnell gefunden. Der Schneider gesteht seine Tat, und im letzten Satz des Schwanks heißt es von Gott: nun da er die vrsach deß wurffs von jhm vernommen hat / saget er: O lieber Son / wann ich so rachgirig were als du / so weren mir jetzund weder Baenck noch Stuel mehr vberig. Bei dem, was Gott da jeden Tag voller Zorn vom Himmel schmeißen müsste, würden ja alle Ikea Möbelwagen der Welt an der Himmelspforte nicht ausreichen.
Aber das muss man dem Humanisten Henricus Bebelius lassen, er ist immer witzig, manchmal auch richtig frech gegen die kirchliche Obrigkeit, nie salbadernd moralisierend. Bebel hat diese Schwänke auf Wanderungen in Dörfer, Klöstern und in Kneipen gehört, sie aufgeschrieben und in elegantes Neulatein gebracht. Es ist kein Wunder, dass die Fazetien des schwäbischen Gelehrten im 16. Jahrhundert ein Bestseller waren. Heute ist es recht schwer, an eine Ausgabe der Fazetien zu kommen, obgleich seit der ersten vollständigen Übertragung durch Albert Wesselski 1907 immer wieder kleinere Sammlungen erschienen sind. Und im letzten Jahr ist sogar eine Dissertation veröffentlicht worden, die nicht nur dem lateinischen Original, sondern auch dem unbekannten deutschen Übersetzer wissenschaftliche Gerechtigkeit widerfahren lässt, Stephanie Altrock: Gewitztes Erzählen in der Frühen Neuzeit: Heinrich Bebels Fazetien und ihre deutsche Übersetzung (Böhlau 2009).
In einem Punkt betrügt uns allerdings der Übersetzer. Im Original steht da noch zum Schluss: Ad quod alludit Ovidius: Si quoties peccant homines, sua fulmina mittat, Iuppiter, exiguo tempore inermis erit. Dieses Bildungszitat lässt der Übersetzer weg. Und so erfährt der Leser im Jahre 1558, der seinen Ovid nicht kennt, dass da beinahe schon das Gleiche steht. Dass wenn Jupiter jedes Mal einen Blitz auf die Erde schleudern würde, wenn die Menschen sündigen, er bald waffenlos dastehen würde. Das mit den Blitzen, das passt natürlich zu Jupiter. Aber das mit den Möbeln, das ist viel witziger.
Freitag, 28. Mai 2010
Militäruhren
Das ist eine schöne alte Militäruhr, die Sie da tragen, sagte ich zu dem älteren Herren im Laden meines Uhrmachers. Die habe ich von meinem Onkel Herbert, sagte der Herr. Der war im Krieg bei der Marine, war irgendwas in der Schreibstube in Kopenhagen. Immer wenn er auf Urlaub kam, habe ich ihn gefragt, ob ich nicht seine Uhr kriegen könnte. Und immer hat er gesagt, vielleicht später mal. Und dann 45, da war Onkel Herbert plötzlich wieder da, ohne Uniform. "Junge, hast Du Zigaretten?" hat er gefragt. "Aber Onkel Herbert, ich bin doch erst vierzehn, ich darf noch keine Zigaretten haben." "Hast Du nun welche oder nicht?" "Na ja, ich habe vier Päckchen." "Gib her, kriegst die Uhr dafür." Solch schöne Geschichten kann kein Romanautor erfinden, außer vielleicht Kay Hoff, der in Bödelstedt, oder Würstchen bürgerlich ähnlich schöne Geschichten erzählt.
Militäruhren sind von Sammlern gesucht, und deshalb deklarieren hunderte von kleinkriminellen Händlern bei Ebay erstmal alles, was ein schwarzes Zifferblatt hat, als Militäruhr oder Wehrmachtsuhr. Wenn da noch die Reichskrähe mit 'nem Hakenkreuz drauf ist, wird es richtig teuer. Kurz hinter der polnischen Grenze sitzen die Fälscherwerkstätten, die auf alles Adler, Hakenkreuz und DH (Dienstuhr Heer) drauf gravieren. Und auch Adolf Hitlers Unterschrift haben sie schon täuschend echt auf eine goldene Lange Taschenuhr draufgekriegt. Das ist ein schmutziges Geschäft, aber im Zweifelsfall schluckt der amerikanische Markt alles. Ich habe auch eine gefälschte Omega Militäruhr (das da oben ist wahrscheinlich eine echte), aber das wußte ich schon beim Kauf, dass hier jemand ein neues Zifferblatt mit dem broad arrow (dem Pfeil des Königs, der alles Regierungseigentum markiert) hatte drucken lassen (die Firmen Bethge und Causemann machen so etwas ja sehr gut. Nicht dass sie in diesem Geschäft tätig wären, aber wenn's der Kunde bezahlt, machen sie das auch). Und dann hat jemand auf den Boden die WWW Markierung (waterproof wrist watch) geprägt. Aber man kann die Zeit sehr gut ablesen, und es ist eine echte Omega.
Omega hat im Zweiten Weltkrieg die Royal Air Force beliefert (ebenso wie die IWC, Longines oder Cyma), die Uhren wurden im Diplomatengepäck aus der Schweiz geschmuggelt. Die Besitzer von Omega, die jüdische Familie Brandt, haben Deutschland nicht beliefert. Die Engländer haben niemals Rolex Uhren für Army, Navy oder RAF gekauft, die wussten weshalb. Militäruhren haben den Ruf, unkaputtbar zu sein. Die Geschichte von dem älteren Herrn und der Uhr von Onkel Herbert demonstriert das sehr schön. Die meisten deutschen Wehrmachtsuhren (auf jeden Fall die, die nicht von Manufakturen stammen) haben ein Uhrwerk, das allgemein das Wehrmachtswerk heißt. Es ist das AS 1130 von Adolf Schild in Grenchen, groß, schlicht und funktional.
Die seltsamste Form dieser Sehnsucht nach dem Militär findet sich im Zweiten Weltkrieg bei Hans Wilsdorf. Dem gehört eine Uhrenmarke namens ➱Rolex, den Namen hat der Mann aus Kulmbach erfunden. Er sitzt damals in London und betreibt mit seinem Schwager den Uhrenhandel Wilsdorf & Davis. Rolex ist keine Manufaktur, also keine Firma, die ihre eigenen Werke baut. Das, was in der feinen Welt der haute horlogerie zählt. Nein, Rolex ist (und bleibt es für die nächsten hundert Jahre) ein etablisseur. So heißt eine Firma, die sich die Teile für die Uhr bei anderen Firmen zusammenkauft und dann mit ihrem Namen versieht. Ich weiß, dass das Rolex Fans nicht gerne lesen, aber so ist es nun mal. Aber Wilsdorf, der kein Uhrmacher sondern ein Kaufmann ist, versteht etwas von Werbung. In den dreißiger Jahren (da ist er gerade von London nach Genf gezogen, weil im die englischen Zölle zu hoch sind) gibt er schon eine Million Fränkli im Jahr für Werbung aus. Zur gleichen Zeit überlegen sich die Direktoren der IWC (eine echte Manufaktur), ob sie mal zehntausend Franken für die Werbung springen lassen sollen. Und dann kauft Wilsdorf die erste Seite der Daily Mail, um zu feiern, dass die Sekretärin Mercedes Gleitze mit einer Rolex Oyster über den Kanal geschwommen ist.
Die Geschichte ist, wie beinahe alle Rolex Geschichten, nur zur Hälfte wahr (die Erstbesteiger des Mount Everest haben auch keine Rolex getragen, wie die Firma jahrelang behauptete. Tut sie jetzt kleinlaut nicht mehr). Mercedes Gleitze ist zwar schon einmal über den Ärmelkanal geschwommen, aber diesmal hat sie Englands Küste nicht ganz erreicht. Und sie hatte auch keine normale Rolex Oyster am Arm, die Uhr war mit dick Fett versehen in einer Kapsel, die sie am Hals trug. Solchermaßen präpariert hätte auch die zierliche Schmuckuhr meiner Oma den Ärmelkanal überstanden. Aber so ist das nun mal mit den selbstgestrickten Werbemythen, irgendwas von den Botschaft bleibt immer hängen.
Aber wenn die Geschäfte auch gut gehen, es schmerzt Hans Wilsdorf, dass er für seine Uhren keine Militäraufträge bekommt. Die Briten würde er gerne beliefern, denn eigentlich fühlt er sich als Engländer, im edwardianischen London hatte er seinen Karrierestart. Aber bei Kriegsbeginn denken die Engländer gar nicht daran, die Firma Rolex bei Käufen von Militäruhren zu berücksichtigen. Wenn man Uhren von Manufakturen wie IWC und Omega bekommen kann, warum soll man dann bei einem etablisseur kaufen, der Werke von Aegler, FHF, Cortebert oder Eta in seine Uhren schraubt? Und da kommt der Hans Wilsdorf aus Kulmbach auf eine einmalige Idee, um doch noch das Militär zu beliefern. Die ist allerdings eigentlich schon ein wenig degoutant. Wilsdorf bietet über die Offiziellen des Roten Kreuzes, die routinemäßig deutsche Kriegsgefangenenlager besuchen, gefangenen englischen Offizieren in deutschen Stalags Rolex Uhren zum Kauf an. Brauchen sie jetzt nicht zu bezahlen, erst nach dem Krieg. Das Angebot gilt nur für englische Offiziere, nicht etwa für Franzosen oder Russen. Denn englische Offiziere sind Gentlemen, die stehen zu ihrem Wort. Den gesamten Briefwechsel mit den Käufern führt Wilsdorf höchst persönlich. Das sieht dann zum Beispiel so aus:
Das Verkaufsgenie Wilsdorf hat mal wieder etwas Neues gefunden, aber heimlich ist ihm wohl klar, dass die Sache ein Gschmäckle hat. Wenn er ein wirklicher Gentleman wäre und nicht ein would be gentleman, dann hätte er das Ganze nicht gemacht. Deshalb wird die Aktion in der offiziellen Firmengeschichte auch nicht herausgestellt. Aber verkaufsmäßig ist das schon ein Renner, aus einem Lager in Bayern sollen allein 3.000 Bestellungen gekommen sein. Dass Wilsdorf einen Corporal wie Clive Nutting beliefert hat, ist erstaunlich, ein Corporal ist nun mal kein Offizier. Aber dieser Corporal ist in einem Luftwaffenlager, da könnte er ja ein Pilot sein, das sind auch Gentlemen. Und er hat einen Chronographen bestellt (wieder kein Rolexwerk sondern Valjoux), dann muss er ein Gentleman sein. Corporal Nutting, der im Lager der Lagerschuster ist, bekommt seine Rolex. Er wird sie nach dem Krieg auch brav bezahlen und sie bis zu seinem Tod im Jahre 2001 tragen. Wird allerdings in den 60 Jahren ein Mehrfaches des Kaufpreises für den Rolexservice ausgeben. Denn mit dem Service, den Rolex an sich gebunden hat, macht die Firma richtig Geld. Keine Schweizer Firma wird Wilsdorfs neuem Verkaufsweg folgen, Uhren über das Rote Kreuz in deutschen Stalags zu verticken.
Aber sie haben da so etwas Ähnliches jetzt in der Schweiz. Die évadés. Das sind die Amerikaner und Engländer, denen die Flucht in die Schweiz geglückt ist oder die hier mit ihrem defekten Flugzeug gelandet sind. Die wohnen in Luxushotels (sonst sind ja keine Touristen da), und die Regierung ihres Landes schickt ihnen jeden Monat einen Scheck. Zwanzig Schweizer Franken bekommen die US Soldaten pro Tag, viele Eidgenossen wären glücklich, wenn sie so viel Geld hätten. Auf die Zielgruppe dieser fünftausend Soldaten stürzt sich jetzt die halbe Schweizer Industrie, denn die kaufen bei Kriegsende auch noch für ihre Familien ein. Schweizer Uhren haben einen guten Ruf. Man kann damals allerdings kaum Rolex Uhren in der Schweiz kaufen. Rolex ist kein Mitglied im Schweizer Uhrenverband (Wilsdorf will die Mitgliedsgebühren sparen) und darf deshalb in Schweizer Uhrengeschäften (mit der Ausnahme von Bucherer, die zahlen auch keine Mitgliedsgebühren) nicht verkauft werden. Wahrscheinlich nimmt Wilsdorf das in Kauf, weil er weiß, das die Schweizer Connoisseurs sowieso keine Rolex kaufen würden.
In dem Film Der dritte Mann sagt Orson Welles: In Italien unter den Borgias, da hatten sie dreißig Jahre lang Krieg. Terror, Mord und Blutvergießen, aber sie brachten Michelangelo hervor, Leonardo da Vinci und die Renaissance. In der Schweiz, da hatten sie die Bruderliebe, hatten fünfhundert Jahre Demokratie und Frieden. Und was hat das hervorgebracht? Die Kuckucksuhr! Ist immer wieder schön zu hören, ist aber nicht ganz richtig. Die Kuckucksuhr kommt aus dem Schwarzwald, und 500 Jahre kein Krieg wäre zu schön. Und an diesem Zweiten Weltkrieg da verdient sich die Schweiz auch wieder dumm und dösig. Ist ja auch mehrfach von den Alliierten bombardiert worden, die haben sich immer dafür entschuldigt. War ein Versehen. Nur komisch, dass die Bombardierungen immer kriegswichtige Unternehmen betrafen. Aber Uhren können sie bauen. Und deshalb reißt man sie den Schweizern auch am Ende des Krieges aus der Hand. Natürlich gegen cash, nicht uri, uri wie die Russsen. Der zeitgenössische Cartoon bringt das schön auf den Punkt: eine Gruppe von évadés kurz vor der Heimfahrt, beladen mit allem, was die Schweizer Uhrenindustrie zu bieten hat. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte:
Die erste Reise nach dem Krieg führte den Omega Träger Montgomery, der nun Viscount Montgomery of Alamein heißt, nach Biel zur Firma Omega, er kam in Uniform. Kriegte auch gleich eine Omega geschenkt. Ist zwei Jahre später schon wieder da, diesmal kriegt er eine Omega Automatik. Léon Gogniat, der seit sechzig Jahren bei Omega ist, erklärt dem Feldmarschall, wie die funktioniert. Einmal stellen und schütteln und dann tragen. Generälen muss man die einfachsten Dinge erklären.
Wenn es zu einer Rolex noch einen Briefwechsel mit Hans Wilsdorf gibt, wie zu der Uhr des Corporals Clive Nutting, dann steigt der Preis dieser Uhr in unglaubliche Höhen. Rolex Sammler zahlen für alte Rolex Uhren sowieso Preise, die in keinem Verhältnis zur Uhr stehen. Weil Rolex ein Mythos ist, sagen sie. Wilsdorfs Taktik aus Trickserei und Täuschung trägt Früchte, nicht Mythos, sondern Marketing heißt das Zauberwort. Wenn bei einer Auktion wieder eine Rolex zu einem sagenhaften (geradezu mythischen) Preis verkauft wird, sollte man immer daran denken, dass diese Preise nicht den Wert der Uhr anzeigen. Nein, das sind Strafgebühren für Dummheit und schlechten Geschmack.
Donnerstag, 27. Mai 2010
Niedersachsenstein
Die Niedersachsen sind sturmfest und erdverwachsen. Sagt das Niedersachsenlied. Die Niedersachsen aus Herzog Widukinds Stamm haben ein eigenes Lied. Sie haben auch, was viele nicht wissen, einen eigenen Stein, den Niedersachsenstein. Der steht in Worpswede auf einem Berg, also was man da im Moor so einen Berg nennt. Der Weyerberg ist mal gerade 54 Meter hoch. Der Niedersachsenstein ist noch nicht so alt, das Niedersachsenlied aber auch nicht, sie stammen beide aus den zwanziger Jahren. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg sucht man offensichtlich nach Symbolen regionaler Identität.
Das seltsame adlerähnliche Gebilde aus roten Ziegeln wurde von dem Bildhauer und Maler Bernhard Hoetger entworfen, der seit 1914 in Worpswede wohnt. Als er bei Rodin in Paris war, hatte er Paula Becker-Modersohn kennengelernt. Deren Onkel Oskar Becker hatte mal versucht, den König von Preussen zu ermorden. Da hatte ihr Vater seine Beamtenstelle verloren und war von Dresden nach Bremen gezogen, wo die junge Paula in einer Ausstellung die Malerei der Künstlerkolonie Worpswede kennenlernte. Das kleine Kaff im Moor Worpswede ist neuerdings eine Künstlerkolonie. Solche ländliche Künstlergemeinschaften gibt es jetzt überall in Europa, eine der ersten war Barbizon in Frankreich. Bernhard Hoetger ist als Bildhauer berühmt, aber so etwas Großes hat er noch nicht gebaut. Er dilettiert jetzt auch als Architekt und wird berühmt dafür werden, dass er das Kaffee Worpswede baut (das im Volksmund nur Kaffee Verrückt heißt). Und die Böttcherstrasse in Bremen. Das alles baut er mit dem Geld seines Mäzens, des Bremer Kaffeekönigs Ludwig Roselius, der den koffeinfreien Kaffe HAG erfunden hatte. Auf dem Photo sind die beiden Herren vereint, Hoetger steht links.
Zuerst sollte das Siegesmal im Heldenhain ein überdimensionaler Jüngling sein, aber dann hat man Planung und Bau erst einmal eingestellt. Und nach dem verlorenen Krieg mochte Hoetger kein Siegesmal mehr bauen, sondern wollte stattdessen ein Friedensmal bauen. Als das Denkmal aus rotem Ziegelstein (die einzige expressionistische Freiplastik in Deutschland) im Entstehen war, waren die Worpsweder nicht mehr so begeistert. Der Maler Fritz Mackensen (einer der Mitbegründer der Künstlerkolonie) führte eine Protestbewegung mit dem Schlachtruf Nie-der-Sachsenstein! Nieder-Sachsenstein! an. Und Bremens Vorzeigedichter Rudolf Alexander Schröder sprach von Scheuel und Greuel und fordert den Abriss des Kunstwerkes. Aber irgendwie ist das 18 Meter hohe (das ist ein Drittel der Höhe des Weyerbergs) steinerne Monster doch noch fertig geworden. Es war nur ein bisschen peinlich, das bei der Eröffnung Karikaturen des Kunstwerks aus der Feder von Hoetger auftauchten.
Niemand wußte so recht, was der steinerne Klotz bedeuten sollte. Bis Hoetger in einer schriftlichen Erklärung sagte, dass er das Denkmal aus einer neuen Sehnsucht zur Natur und einer Sehnsucht nach Erlösung konzipiert hatte: Das Denkmal ist aus dieser neuen Sehnsucht geformt. Ein Vogel, der die Flügel ausbreitet und sich zur Sonne erhebt, ist das Gefühlsmoment, das mich leitete. Der Auferstehungsgedanke und die Sehnsucht nach Frieden und Aufbau erfüllt heute die Zeit. Für meinen Opa, kaisertreuer Hauptmann im Ersten Weltkrieg, war es aber ein Kriegerehrenmal. Er sah das gar nicht gerne, dass ich als kleiner Pöks (oder Muschepunt, wie man in Bremen in einem Platt ut de Franzosentiid so schön sagt) auf dem Ding herumkraxelte. Habe ich dann auch aufgegeben, das Ding war schon arg bröckelig geworden.
Hoetger hat seltsame Dinge entworfen, wie diesen Lichtbringer über dem Eingang der Böttcherstrasse in Bremen. Aber angesichts der einfallslosen modernen Architektur wirkt sein skurriler Expressionismus schon wieder schön. Und falls Sie zufälligerweise mal in Worpswede sind, sollten Sie unbedingt im Kaffee Verrückt einen Kaffee HAG trinken und danach den Niedersachsenstein bewundern. Na ja, den restaurierten Jugendstilbahnhof und Vogelers Barkenhoff sollte man auch noch mitnehmen.
Für diejenigen, die sich jetzt auf eine Kunstreise vorbereiten wollen, habe ich noch zwei Literaturtips: Guido Boulboullé und Michael Zeiss haben mit Worpswede: Kulturgeschichte eines Künstlerdorfes (DuMont 1989) die beste Kulturgeschichte des Künstlerdorfes geschrieben. Und Worpswede Intern: Drucksachen aus 100 Jahren (Barkenhoff Stiftung 1989) bietet die schönste Materialsammlung. Beide Titel sind noch in kleinen Zahlen bei Amazon und dem ZVAB erhältlich.
Mittwoch, 26. Mai 2010
Heidegger
Deutsche Philosophen sind immer an sich oder a priori. Große, schwere Denker wie Heidegger. Der heute ist vor 34 Jahren gestorben. Große deutsche Denker schreiben keine Aperçus wie Lichtenberg und Schopenhauer. Große deutsche Denker schreiben einen grauenhaften Kanzleistil wie Kant oder eine schlichtweg unverständliche raunende Sprache wie Heidegger. Le style c'est l'homme. Heideggers Werk, sagen vom Staat bezahlte berufsmäßige Philosophen, wird selten objektiv betrachtet, weil sich alle über Heideggers Eintreten für die Nazis echauffieren. Ja, warum denn auch nicht, das ist auch Teil seines Werkes und Wirkens. Philosophen können ja, so die Ansicht von beamteten Berufsphilosophen, auch nur von Philosophen verstanden werden. Das ist, so der witzige deutsche Philosoph Odo Marquard, als ob Sockenfabrikanten nur Socken für andere Sockenfabrikanten herstellten. Ohne Heidegger, sagt Günter Figal in der Einleitung seines kleinen Buches Heidegger zur Einführung, ohne Heidegger wären Foucault und Derrida nicht möglich gewesen. So what? Auf die könnte man doch leicht verzichten. Der sehr witzige Philosoph Paul Feyerabend hatte, seinen Tod vor Augen, über den unverständlichen Stil vieler Philosophen gesagt: Liegt es vielleicht am Wunsch, großartig, tief und philosophisch zu wirken? Aber was ist wichtiger? Von Außenstehenden verstanden oder als "tiefer Denker" betrachtet zu werden? Auf einfache Weise zu schreiben, so daß es ungebildete Leute verstehen können, bedeutet keineswegs Oberflächlichkeit. Ich rate dringend allen Autoren, die ihren Mitmenschen etwas mitteilen wollen, sich nicht mit Philosophie zu beschäftigen, und wenn sie es schon tun, sich nicht von Obskuranten wie Derrida einschüchtern und beeinflussen zu lassen, sondern stattdessen Schopenhauer oder Kants volkstümliche Schriften zu lesen. Zack, Derrida, da hast du es.
Wenn man wissen will, wer Heidegger war, so kann man Rüdiger Safranskis Ein Meister aus Deutschland: Heidegger und seine Zeit lesen. Und wenn man etwas über Heideggers Sprache erfahren will, dann sollte man den Essay Heidegger und Hebel oder die Sprache von Meßkirch von dem großen Franzosen Robert Minder lesen. Danach kann dann jeder für sich entscheiden, ob er noch Heidegger lesen will. Denn es gibt ja Besseres. Als die Berliner 68er Revolutionäre den französischen Philosophen Alexandre Kojève fragten, was sie denn in dieser entscheidenden Phase der Revolution lesen sollten, hat der gesagt: Lest die alten Griechen!
Mein Antiquar hat mir einmal die bezaubernde Geschichte erzählt, dass ihm eine Philosophieprofessorin (die ich kenne, weil sie meine Prüferin in der Doktorprüfung war) einmal eine Kiste von Büchern verkauft hat. Dabei war auch Heideggers Sein und Zeit. Erste Hälfte. Da hat er danach gefragt, ob sie auch den zweiten Teil hätte. Sie hat ihm gesagt, den hätte sie bestimmt, sie wolle danach suchen. Wenn sie ihn fände, würde er ihn auch noch bekommen. Die gute Frau, angeblich Heidegger Spezialistin, sucht heute wahrscheinlich immer noch. Wie jeder außer ihr weiß, ist der zweite Teil von Heideggers Sein und Zeit nie erschienen.
Das kleine Bild, das einen Philosophen in der Tonne zeigt (Nachdenklich liegt in seiner Tonne, der Philosoph hier in der Sonne), ist natürlich von Wilhelm Busch.
Dienstag, 25. Mai 2010
Grenzen
Turners akademischer Lehrer Wiliam F. Allen hatte über die Germanen geforscht und die Theorie aufgestellt, dass sich an der Grenze des römischen Reiches, im Kontakt mit den Germanen und im Kampf gegen die Umwelt, eine neue Kultur herausbildet. Eine Art sozialer und kultureller Evolutionslehre. Klingt nachvollziehbar, dass sich an der Grenze zweier Kulturen da etwas ganz Neues herausmendelt. Was Turner, der in einer kleinen Grenzstadt aufgewachsen ist, jetzt in seiner Rede
The Significance of the Frontier in American History sagt, ist nichts anderes als die Übertragung des Teuteburger Wald Modells (wie ich das einmal frech formuliere) auf Amerika. Ein bisschen von Darwins survival of the fittest plus Manifest Destiny und Winning of the West.
Was 500 Jahre nach Columbus eine so schöne kleine Theorie war, hat vor den Augen kritischer Historiker längst keinen Bestand mehr. Richard Slotkin hat in einer Vielzahl von Werken gezeigt, dass Turners These nur ein nationaler Mythos ist, der 1893 genau in die Zeit passte. Und in David Hackett Fischers Albion's Seeds wird Turner gar nicht erst erwähnt. Aber heimlich hält sich die frontier thesis irgendwie immer noch, so wie das Bild von John Gast American Progress immer noch im kollektiven amerikanischen Gedächtnis ist. Da schwebt die allegorische Columbia über den Siedlern, die es nach Westen zieht. Der Mississippi (oben rechts im Bild) liegt hinter ihnen, links fliehen die letzten Indianer aus dem Bild. Columbia zieht mit der einen Hand einen Telegraphendraht, in der anderen hält sie ein Schulbuch. Ja, so wird es gewesen sein. Obgleich das in Cormac McCarthys großem Roman Blood Meridian, Or the Evening Redness in the West ein klein wenig anders dargestellt wird.
Montag, 24. Mai 2010
Skandal
Vor einigen Jahren hat mich mein Freund Keith hundert Meter durch einen Gewitterregen geschleppt, damit ich seinen neuen Ferrari bewundern konnte. Der war nicht rot oder gelb, sondern elegant in grau, da hebt sich das gelbe Wapperl mit dem schwarzen Ross schön gegen den Untergrund ab. Ingridgrau, sagte ich. Er guckte mich fragend an. Roberto Rossellini hatte Ingrid Bergman einen Ferrari in dieser Farbe geschenkt, sagte ich. Die hatte es bei Ferrari noch nie gegeben, da haben sie es Ingridgrau (Nuova Grigio Ingrid) genannt. Ferraribesitzer können von Filmfreaks immer noch etwas lernen.
Verweilen wir noch einen Augenblick bei schwedischen Filmschauspielerinnen. Heute vor sechzig Jahren haben Ingrid Bergmann und Roberto Rossellini geheiratet. Da war ihr Sohn Robertino gerade geboren und die Bergmann gerade von ihrem Ehemann, dem schwedischen Zahnarzt Dr. Petter Lindström geschieden. In Mexico, da geht das schneller. Einen solchen Skandal hatten Hollywood und Amerika noch nicht erlebt. Da sind unsere Skandälchen wegen ➯Sie tanzte nur einen Sommer und Hildegard Knefs Die Sünderin nichts dagegen. Die gleiche Maschinerie, die Hollywood dafür benutzt hatte, um aus ihr einen Engel zu machen, wurde jetzt dafür benutzt, um sie zu verteufeln. Da half es auch nichts mehr, dass sie gerade eine Heilige geworden war, mit Filmen wie The Bells of St. Mary's und Joan of Arc. Jetzt geht es abwärts, das puritanische Amerika steht auf. Vor allem das Lästermaul Louella Parsons. Und ein obskurer Senator aus Colorado namens Edwin C. Johnson geißelt sie im Senat als a free-love cultist und einen powerful influence of evil. Pastoren predigen auf der Kanzel gegen die Sünderin aus Schweden, und eigentlich müsste sie jetzt mit einem roten A (für adultery) herumlaufen, wie Hester Prynne in Nathaniel Hawthornes Scarlet Letter. Oder vielleicht noch besser mit einem A+.
Sie hatte ja schon vorher eine Vielzahl von Affären gehabt, aber das war nicht in die Öffentlichkeit gelangt. Die offizielle Version war die glückliche Familie mit dem promovierten Mediziner und dem Töchterchen Pia. Aber jetzt ist die Geburtsstunde der schlimmsten Form des tabloid journalism, hundertmal schlimmer als Frauke Ludowigs Exclusiv: Das Star Magazin. Die amerikanische Doppelmoral lässt ja viel zu, solange es den mächtigen Hollywood Studios gefällt. Grace Kelly blieb ein blonder Engel, obgleich sie dutzende von Affären hatte. Aber Hollywood ist jetzt verunsichert. Seit den dreißiger Jahren tagt ein Senatsausschuss, um in Hollywood gegen Un-American activities zu ermitteln. Also eigentlich gegen alles, was nicht in das Idyll von amerikanischer Kleinstadt, sonntäglichem Kirchgang, Mom und apple pie passt. Erstaunlicherweise (oder vielleicht auch nicht) sind diese Ausschüsse gegenüber den amerikanischen Nazis blind und untätig geblieben. Was die selbsternannten guten Amerikaner in den Ausschüssen hassen, ist das rote Hollywood. Und das jüdische Hollywood, obgleich der Hass auf die mächtigen, zumeist jüdischen Hollywoodbosse nicht so ganz offen ausgesprochen wird.
Diese Senatsausschüsse, die nun HUAC heißen (House Committee on Un-American Activities), sind jetzt im Kalten Krieg mächtig geworden. Amerikas Volkssport wird die Jagd auf Kommunisten. Hexenjagd hat Arthur Miller ein Theaterstück genannt, das zwar im Salem des 17. Jahrhundert spielt, aber in Wirklichkeit das Amerika von 1950 meint. Ingrid Bergman bekommt in dieser Zeit keine Rollenangebote mehr aus Hollywood. Aber irgendwie ist das auch eine glückliche Fügung, dass sie jetzt in Italien lebt, die schlimmsten Beschimpfungen bekommt sie nicht zu lesen. Sie hat sich vorher ihre Rollen mit Bedacht ausgesucht, immer an der Seite von box office stars wie ➱Humphrey Bogart (Casablanca), Gary Cooper (For Whom the Bell Tolls), Bing Crosby (The Bells of St. Mary's), Charles Boyer (Gaslight), Cary Grant (Notorious). Jetzt hätte sie Schwierigkeiten, einen männlichen Hauptdarsteller oder einen guten Regisseur zu finden, die Hälfte von Hollywoods Stars, Drehbuchautoren und Regisseuren ist auf der schwarzen Liste. Bert Brecht ist vor dem HUAC gewesen und hat Amerika verlassen (der Komponist ➱Hanns Eisler ist ausgewiesen worden). John Huston nimmt die irische Staatsbürgerschaft an, Orson Welles verläßt die USA. ➱Joseph Losey emigriert nach England, Jules Dassin nach Frankreich. Charlie Chaplin, der im Ausland erfährt, das das HUAC gegen ihn ermittelt, kehrt nicht mehr in die USA zurück. Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Scoundrel Time wird die amerikanische Theaterautorin Lillian Hellman ihre Autobiographie über diese Zeit der nationalen Hysterie nennen.
Hangmen also Die hieß der Film von Fritz Lang, zu dem Bert Brecht das Drehbuch (und Hanns Eisler die Musik) geschrieben hat. Und die Hexenjagd wird auch die kriminalisieren, die sie angezettelt haben. Der Ausschussvorsitzende des HUAC J. Parnell Thomas landet im Gefängnis (und hat furchtbare Angst, dass er in das gleiche Gefängnis kommen könnte, in das er die Hollywood Ten gebracht hat). Und der Sturz des so mächtigen Joseph McCarthy, der so viel Unheil über Amerika gebracht hat, wird genauso dramatisch sein wie sein Aufstieg. Lediglich der Beisitzer von J. Parnell Thomas, ein junger Rechtsanwalt namens Richard Nixon, wird noch Karriere machen.
Als der gespenstische Spuk vorbei ist, alle Tätigkeiten der Ausschüsse für juristisch unzulässig erklärt worden sind, kehrt Ingrid Bergmann (die inzwischen ein halbes Dutzend italienischer Filme gedreht hat, für die sich in Amerika niemand interessiert) nach Amerika zurück. Kriegt gleich einen Oscar und einen Golden Globe für Anastasia. Und darf im nächsten Film, Stanley Donens Indiscreet, sogar das verpönte Wort damned sagen. Ihr Karriereknick, ein Kollateralschaden der McCarthy Ära, ist vorbei.
Auf dem Photo oben ist Ingrid Bergman vierzehn. Sieht schon richtig sündig aus.
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Sonntag, 23. Mai 2010
Schwedinnen
Ulla Jacobsson wurde heute vor 81 Jahren geboren. 1952 bei der zweiten Berlinale redete jeder über sie. Da war die Zweiundzwanzigjährige für einige Sekunden in dem schwedischen Film ✺Sie tanzte nur einen Sommer nackt gewesen. Die junge Republik war entrüstet. Vor allem kirchliche Kreise sahen hier die Geburtsstunde des Schwedenpornos. Die Moral ist bei der Kirche ja immer gut aufgehoben, das wird uns heute immer wieder vor Augen geführt. Die kirchlichen Blätter hatten damals aber auch durchaus bemerkt, dass der Filme antiklerikale Tendenzen hatte, der verknöcherte, puritanische Dorfpfarrer im Film ist ein bösartiger Mann.
Eigentlich war das ja ein schöner kleiner trauriger Film, furchtbar sentimental. Aber er bedeutete für die junge Republik viel mehr. Er prägte Stereotypen wie die Schönheiten der schwedischen Landschaft, die ewige Mittsommernacht und schöne Schwedinnen, sonnentrunken und liebebedürftig. Wie ein frischer, reiner Sommerwind weht dieser Film über die Leinwand schrieb ein Rezensent, und ein Ostberliner Kritiker urteilte, dass selbst die delikatesten Szenen... sauber, gesund und schön seien. Sauber, gesund, rein, diese Beschreibungen des Nordlichts von unvergleichbarer Schönheit schmecken immer noch ein wenig nach einem arischen Germanenkult, den man doch überwunden glaubte. Und von nun an träumten deutsche Männer von nackten Schwedinnen. Wenn Sie alles über die Rezeption des Films wissen wollen, lesen Sie hier den Aufsatz von Claudia Beindorf 'Sie tanzte nur einen Sommer': Konstruktion und Rezeption von Stereotypen.
Ulla Jacobsson hat dann noch in Bergmans Das Lächeln einer Sommernacht mitgespielt. Der Film war auch ein großer Erfolg, vor allem für Ingmar Bergman. Die weitere Filmkarriere der hübschen Schwedin ist nicht so bemerkenswert. Sie ist aus Schweden weggezogen, um nicht immer die stereotypischen hübschen Schwedinnen spielen zu müssen, aber die wirklich großen Filme blieben aus. Filmtitel Sie tanzte nur einen Sommer und Lächeln einer Sommernacht sind auch ein wenig symbolisch für ihre Karriere. Ulla Jacobsson ist früh an Krebs gestorben.
Bei ihrem Tod erinnerten die Nachrufe an ihre Filmrolle vor dreißig Jahren. Als der Koreakrieg tobte, Adenauer sich der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft anschloss und Ulbricht die Sowjetisierung der DDR einleitete, da ließ die zweiundzwanzigjährige Schwedin für einen kurzen Augenblick die eskapistischen Träume von der Mittsommernacht wahr werden. Und war sechs Sekunden lang nackt. Später sollten noch viel mehr nackte Schwedinnen in deutsche Kinos kommen, in Filmen wie Drei Schwedinnen in Oberbayern, Sechs Schwedinnen auf Ibiza, Drei Schwedinnen auf der Reeperbahn und Hurrah, die Schwedinnen sind da. Aber das waren Pornodarstellerinnen für Opas Schwedenphantasien, und aus Schweden kamen sie auch nicht.
Lesen Sie auch: Schweigen, Ingmar Bergman
Samstag, 22. Mai 2010
Sir Arthur Conan Doyle
Am heutigen Tag ist Arthur Ignatius Conan Doyle geboren, der Schöpfer von Sherlock Holmes (und Professor Challenger). Conan Doyle ist jetzt schon achtzig Jahre tot, aber angeblich soll immer noch Post an die Baker Street 221b geliefert, wo Sherlock Holmes damals wohnte. Heute ist da ein Sherlock Holmes Museum. Irgendwann war Sir Arthur seine Schöpfung leid und ließ ihn 1891 im Kampf mit dem Erzfeind Professor Moriarty die Reichenbachfälle hinunterstürzen. I had fully determined at the conclusion of The Memoirs to bring Holmes to an end as I felt that my literary energies should not be directed too much into one channel. Musste ihn aber gleich wiederbeleben, so groß waren die Proteste der Leser. Schon Dr. Frankenstein hatte erfahren, dass man das Monster, das man erschaffen hat, nicht mehr los wird.
Der junge Arthur Conan Doyle hat in Edinburgh Medizin studiert. Laut Gero von Wilperts Lexikon der Weltliteratur bei einem Psychiater Bello. Das ist nun vollkommener Unsinn, ich habe Gero von Wilpert vor beinahe vierzig Jahren auf den Fehler hingewiesen. Er hat mir einen netten Brief geschrieben und gesagt, dass das in der nächsten Auflage geändert wird. Steht aber immer noch drin. Der Doktor, bei dem Doyle gelernt hat und dessen phänomenale Beobachtungsfähigkeit er in seinen Sherlock Holmes hinein geschrieben hat, hieß Joseph Bell. Er war der berühmteste Arzt Schottlands, er war der Arzt von Königin Victoria und Scotland Yard zog ihn als Sachverständigen bei den Morden von Jack the Ripper hinzu. Professor Bell war not amused, sich in den Romanen seines Schülers wiederzufinden.
Denn Holmes hat auch negative Seiten. Damit meine ich nicht, dass er grauenhaft schlecht Violine spielt oder von Zeit zu Zeit die Initialen der Königin Victoria mit einem Revolver in die Tapete schießt (die Waffe gehört wahrscheinlich Dr. Watson, der als Militärarzt in Afghanistan war). Nein, Holmes konsumiert Kokain und Morphium. Waren damals in niedriger Dosierung frei erhältlich, so wie das ganze Viktorianische Zeitalter Laudanum zu sich nahm.
Die erste deutsche Dissertation über die Sherlock Holmes Erzählungen wurde 1914 von Friedrich Depken geschrieben, erstaunlich wie wirklichkeitszugewandt die deutsche Uni damals war. Heute kann man die kritische Literatur zu Doyles Kriminalgeschichten kaum noch überschauen. Denn er gilt als Begründer einer neuen Gattung des Romans, die den Roman des 20. Jahrhunderts (und Film und TV) beherrschen wird. Aber das ist natürlich nicht ganz richtig, Krimis gab es schon vorher. Wilkie Collins' The Moonstone wäre ein schönes Beispiel. Und natürlich müssen wir Edgar Allan Poe an dieser Stelle nennen, denn von dem hat Doyle viel geklaut. Die Kombination von einem geistig übermächtigen great detective und einem nicht so begabten Ich-Erzähler (der uns als Leser repräsentiert) als sidekick, die hat einwandfrei Edgar Allan Poe erfunden. Viele Autoren werden diese Zauberformel verwenden und uns alle Rätsel der Kriminologie lösende Paare präsentieren: Holmes und Watson, Hercule Poirot und Major Hastings, Miss Marple und Mr Stringer.
In den ersten Notizen zu A Study in Scarlet von Arthur Conan Doyle hieß Sherlock noch Sherrinford, und Doctor Watson trug den extravaganten Namen Ormond Sacker. Doyle notierte da stichwortartig zu der Figur, die dann Holmes werden sollte: Reserved - sleepy eyed young man - philosopher - Collector of rare violins - An Amati - I have four hundred a year - I am a consulting detective. Dann tritt er auf den Seiten von A Study in Scarlet als Sherlock Holmes ins Leben. Und wird uns nie mehr verlassen. Am 8. Januar 1954 sendete die BBC ein Sonderprogramm zum hundertsten Geburtstag von Holmes. Schulkameraden, sein deutscher Geigenlehrer und ein Kollege (Lord Peter Wimsey) erinnerten sich an ihn. Alle gaben der Hoffnung Ausdruck, dass ihnen der Meister in der selbstgewählten Abgeschiedenheit seines Landsitzes in Sussex bei guter Gesundheit zuhören könne. Wenn er dies hier liest, ist er schon über 150 Jahre alt. Ich weiß nicht, ob ihm im letzten Jahr der Film von Guy Ritchie gefallen hat, wo er von Robert Downing verkörpert wurde. Der hat ja auch mal Charlie Chaplin gespielt. Charlie Chaplin kann Sherlocks Schöpfer Arthur Conan Doyle einmal auf der Bühne gesehen haben, als der kleine Charlie in einer Nebenrolle in William Gilettes Stück Sherlock Holmes auf der Bühne stand. Aber Sherlock Holmes wird sich in der Version von Robert Downey nicht wiedererkannt haben. Er schwärmt immer noch für Basil Rathbone.
Freitag, 21. Mai 2010
Thomas Gottschalk, Dandy?
Er war gerade sechzig geworden, als ich gezwungen war, stundenlang Autoradio zu hören. Alle möglichen Leute riefen im Sender an, um ihm zu gratulieren oder ihm einige Bosheiten auf den weiteren Lebensweg mitzugeben. Eine Anruferin empfahl ihm, seinem modischen Stil treu zu bleiben. Ich weiß nicht so genau, ob das nun Ironie war oder nicht. Zumal am frühen Morgen in Steffies Bistro in der satirischen Sendung Frühstück bei Stefanie auch über die Kleidung des Geburtstagskindes geredet wurde. Steffie (... nee, muss ich erst schmieren. Milch und Zucker nehmt ihr selber?) äußerte hier kenntnisreich die Meinung, dass Frau Gottschalk die Kleidung aus Stoffen von Möbel Roller (das war ganz klar das Modell Sitzecke Ingeborg) und Dodenhof zusammennäht. Für diejenigen, die die schöne kleine Sendung der Autoren, die auch schon Neues aus Stenkelfeld, Münte aktuell oder Detzer und Nelling auf dem Gewissen haben, nicht kennen sollten, gibt es hier einen Link. Nun ist Steffies Theorie, dass Frau Gottschalk (die auch seltsame Sachen trägt) ihm diese Kleidung näht, schon vor Jahren in den bunten Blättern, die bei Friseuren und Zahnärzten liegen, entkräftet worden. Aber wo kriegt man so'n Zeuch her? Kann er die Klamotten als Berufskleidung von der Steuer absetzen? Ende der sechziger Jahre, beim Swinging London, gab es ja auf der Carnaby Street so etwas Ähnliches. Und die Stones und die Beatles haben mal etwas in der Art getragen.
Oder sollte John Steed sein Vorbild sein? Aber so outriert das ist, hier scheint ja immer noch der Gentleman durch. Und es steckt auch die gute alte englische Schneiderkunst dahinter, das kann man über die Herrenoberbekleidung des Quizmasters (ein englisches Wort, das die Engländer nicht kennen) nicht unbedingt sagen. Denn so freakige Sachen John Pearse für seine Kunden gemacht hat, man merkte immer noch, dass es vom Schneider kam. Für diejenigen, die noch nie von der Legende John Pearse gehört haben sollten, gibt es auch hier einen kleinen Hinweis. Es ist ja nun nicht so, dass Thomas Gottschalk immer so herumgelaufen wäre. Früher als der noch mit Mike Krüger (Sie müssen nur den Nippel durch die Lasche ziehn) in Die Supernasen aufgetreten ist, da hatte er einfach nur einen schlechten Geschmack.
Aber jetzt bei dieser Sendung, die er von Frank Elstner geerbt hat, da beschäftigt seine Kleidung die Nation. Also den Teil, der das sieht. Bösartige Stimmen sagen, dass man Wetten, dass...? ja nur wegen der Klamotten von Gottschalk guckt. Ich gucke immer nur 120 Sekunden, weil ich die sartoriale Eleganz des in Amerika lebenden Bayern bewundern will, dann zappe ich weg. Andere haben nicht dieses Glück, die liegen im Krankenhaus im Bett oder sitzen im Altersheim und kommen nicht an die Fernbedienung heran. Und obgleich die arg gesunkenen Zuschauerzahlen dank dieses Schweizer Schnuckelchens (das so schön Thomás hauchen kann) ein klein wenig nach oben gegangen sind, man weiß in der Chefetage schon, dass Wetten, dass...? nur noch in Krankenhäusern und Altersheimen geguckt wird.
Dennoch bleibt mir die modehistorische Herkunft dieser Kleidung ein Rätsel, ich bleibe bei der Suche noch ein wenig in England. Ich hätte da jemanden anzubieten, der ein wenig vergessen ist, aber in seinen besten Zeiten als Screaming Lord Sutch berühmt war:
Das ist er, rechts neben seinem Rolls Royce. Erinnert Sie ein wenig an Austin Powers? Da sind wir doch schon ganz nah dran. Das ist nichts anderes als der gute alte Neo Edwardian Style der Teddy Boys, der jetzt in den Sixties wieder aus der Kühltruhe der Modegeschichte geholt und psychedelisch aufgerockt wird. Und schon haben wir das, was Ted Polhemus in seinem Buch Street Style: From Sidewalk to Catwalk auf Seite 61 bis 63 behandelt. Ted Polhemus ist ein studierter Anthropologe, und sein Buch Street Style war vor Jahren das Begleitbuch zu einer Ausstellung des Victoria und Albert Museums über Jugendkulturen und ihre Mode seit den vierziger Jahren. Es gibt noch ein anderes englisches Buch, in dem man fündig werden kann. Das heißt Worst Fashions: What we shouldn't have worn... but did. Die Autorin Catherine Horwood ist Historikerin und hat über die englische Mode zwischen den Weltkriegen promoviert. Sie kennt sich in der englischen Modeszene aus, und in Worst Fashions holt sie das geschmacklich Schlimmste aus der Garderobe heraus. Alles ein wenig wie Thomas Gottschalks Kleidung. Und die Stoffe sehen auch häufig aus, als seien sie für eine Sitzecke bei Möbel Roller bestimmt gewesen.
Wenn man in den tristen fünfziger Jahren etwas trug, das farblich ein klein wenig extravagant war, war der erste Kommentare Spielste inner Band? Im Schaugeschäft darf man offensichtlich Dinge tragen, die man im normalen Leben nicht trägt. Und da gibt es eine lange modische Entwicklungslinie, die von Peter Frankenfelds Nick Knatterton Jacketts über Gottlieb Wendehals zu Kurt Krömer führt. Gottlieb Wendehals brauchte dieses Jackett, weil er kein bisschen witzig ist. Peter Frankenfeld und Kurt Krömer können anziehen, was sie wollten, sie sind witzig. Thomas Gottschalk, die fleischgewordene Haribo Reklame, muss solche Kleidung tragen, weil er kein bisschen witzig ist. Der kriegt mal gerade eben irgendwelche schweinigelnden Altherrenwitze zustande, die dann in einem peinlichen Gegensatz zu der elaborierten Kleidung stehen.
Ich habe den Verdacht, dass sich Gottschalk (der auch privat fünf bis sechsstellige Summen für geschmacklich grauenhafte neobarocke Uhren ausgibt) mit seinen Jabots und Gilets als einen der letzten Dandys in der Nachfolge des bayrischen Königs Ludwig und des Mayerling Stils sieht. Im 18. Jahrhundert wäre er in Frankreich für einen Incroyable durchgegangen.
Obgleich diese Herren auch damals schon das Gespött der Zeitgenossen waren. ➱Karl Lagerfeld zieht diese Nummer ja mit einem gewissen Stil durch. Bei Harald Glööckler ist es schon etwas zuviel des Guten. Gottschalk ist irgendwo in der Mitte zwischen unserem Karl Otto Lagerfeld und dem schrillen Glööckler. Ich warte noch auf den Tag, wo Gottschalk, der gerade Opa geworden ist, ein eigenes Modelabel kreiert und designed. Vielleicht von Möbel Roller gesponsert.
Donnerstag, 20. Mai 2010
Werra I
Ja, so sah sie aus, die Werra. Genau genommen sieht sie immer noch so aus, nur der grüne synthetische Kautschuk in der gräsig schönen Farbe der Uniform der Nationalen Volksarmee ist nach einem halben Jahrhundert nicht mehr so frisch. Ich wollte diese Kamera damals unbedingt haben, keine andere. Weil sie das berühmte Zeiss Adlerauge als Objektiv hatte und nur 128 Mark kostete (eine BRD Contax mit dem Objektiv kostetet das fünffache). Der Photoladen in meinem Heimatort musste sie erst bestellen, dafür kam sie dann auch mit einer DDR Ausfuhrbescheinigung. Die mir in den folgenden Jahren den Übertritt über die Zonengrenze sehr erleichterte. Illegal aus der SBZ ausgeführte Ihagee Exactas gab es hunderttausendfach, aber wenn einer mit einer DDR Kamera mit Ausfuhrbescheinigung in die DDR kam, das gefiel den Sachsen an der Gränse.
Die Werra sollte eine Volkskamera sein und 100 Mark kosten, man kalkulierte damals in Eisfeld bei Carl Zeiss Jena noch 1:1, obgleich jeder, der sich noch an diese Zeit erinnern kann, weiß, dass die Ostmark das nicht wert war. Das mit den hundert Mark war wohl als Kampfpreis für den Export gedacht (die Werra wurde bei Quelle dann für 99 Mark verkauft), denn allein das Zeiss Tessar mit dem Synchro Compur Verschluss kosteten die Fabrik schon 40 Mark (es hat auch ständig Modelle für den inländischen Verkauf gegeben, die ein billigeres Novitar 1:2,8 oder das Novonar 1:3,5 Objektiv hatten). Der erste Prototyp der Kamera mit dem Druckgußgehäuse und der grünen Buna- Kautschukdecke wurde 1954 gebaut, ab 1955 war man in der Produktion, ab 1957 konnte man täglich 250 Kameras bauen. Bis dahin musste man grosse Zahlen von Reklamationen zurücknehmen, man konnte zwar in Saalfeld hervorragende Objektive bauen, hatte aber im Werk Eisfeld noch keine Erfahrung mit dem Bau von Kleinbildkameras.
Aber das Design war damals schon revolutionär, es erinnert an die besten Produkte aus dem Hause Braun. Der Filmtransport funktionierte über den Drehring um das Objektiv, die Gegenlichtblende wurde umgekehrt eingeschraubt zur Objektivabdeckung, das war schon durchdacht. Einen Entfernungsmesser und einen Belichtungsmesser besaß die Werra I nicht, das war (ebenso wie Wechselobjektive) späteren Modellen vorbehalten.
Später habe ich mir eine japanische Spiegelreflex gekauft und irgendwann eine kleine Sammlung der schönsten deutschen Kameras der fünfziger Jahre zugelegt. Was in den fünfziger Jahren unbezahlbar war, wird heute auf Flohmärkten verramscht. Die west- (und) ostdeutsche feinmechanische Industrie gibt es nicht mehr, die Japaner haben alles übernommen. Mit der Werra zu photographieren, ist noch ein elementares Erlebnis, ein Stück Nostalgie. Oder sollte ich Ostalgie sagen? Heutige Photoapparate, die einem voll computerisiert alles Denken abnehmen, haben nicht mehr den Sex Appeal von alten Photoapparaten. Jeder, der schon mal das Ende eines Filmes fachgerecht beschnitten und in eine alte Leica III g hinein gefummelt hat, weiß, wovon ich rede.
Mittwoch, 19. Mai 2010
Marschälle
Am 19. Mai des Jahres 1804 hat Napoleon achtzehn seiner Generäle zu Marschällen gemacht, manche davon, die wie Kellermann (der Held von Valmy) und Lefèbvre eigentlich schon Pensionäre waren, zu Ehrenmarschällen. Als Lefèbvre zum ersten Mal seine neue Uniform trug, bemerkte ein Bekannter, dass das aber eine schöne Uniform sei. Ich habe fünfunddreißig Jahre daran genäht, entgegnete ihm der neu ernannte Marschall, der bei der Krönung das kaiserliche Schwert in die Kirche tragen wird (Kellermann die Krone). An dem Tag waren sechzig von Napoleons Generälen in der Kirche. Man hatte ihnen keine Plätze zugewiesen, sie standen im Kirchenschiff von Notre Dame. Bis Masséna einen Geistlichen mit Gewalt von seinem Sessel entfernte. Die anderen Generäle folgten Massénas Beispiel. Das war nicht die einzige Panne am 2. Dezember 1804. Napoleon hatte befohlen, dass nach dem Vorbild der Krönung Karls des Grossen ein Dutzend Jungfrauen Kerzen halten sollten. Dank der nach der Revolution eingerissenen Verlotterung der Sitten, ist es schwer, in Paris die passenden Jungfrauen zu finden. An Marschällen hat man keinen Mangel. Eigentlich sind die 1793 abgeschafft worden (die Marschälle, nicht die Jungfrauen), aber unter Napoleon gibt es sie jetzt wieder.
Manche von Napoleons Weggenossen sind jetzt beleidigt, dass sie nicht Marschall geworden sind. Marmont zum Beispiel, der war von Anfang an dabei. Aber Napoleon sagt, wenn man dreißig ist, dann wird man noch kein Marschall. Marmont muss noch fünf Jahre warten, er wird dann alle anderen überleben. Fällt nicht in Bamberg aus dem Fenster wie Berthier oder wird von einem Erschiessungskommando getötet wie Ney. Er kann sich aber in Frankreich nicht mehr sehen lassen, weil er seinen Kaiser verraten hat.
Marschälle gibt es in Frankreich seit Albéric Clément im 12. Jahrhundert. Der berühmteste Ritter in der Zeit, Guillaume le Maréchal, ist aber kein Marschall von Frankreich, der dient allen englischen Königen aus dem Hause Plantagenet. Der französische Historiker Georges Duby hat ein wunderbares Buch über ihn geschrieben. Für das Mittelalter sind die französischen Sozialhistoriker in der Nachfolge von Lucien Febvre, ob nun Jacques le Goff oder Georges Duby, Spitzenklasse. Man kann sie lesen und verstehen, was man von deutschen Historikern nicht unbedingt sagen kann.
Es gibt unter den französischen Marschällen auch unwürdige Träger des Marschallstabs wie den Massenmörder Gilles de Rais oder Männer, auf die Nation hinterher nicht so stolz ist, wie zum Beispiel Pétain. Es gibt auch Ausländer, wie John Hepburn oder Moritz von Sachsen. Aber es gab niemals so viele Marschälle für einen so kurzen Zeitraum wie zur Zeit Napoleons, sechsundzwanzig in zehn Jahren.
Adolf Hitler hat sich Napoleon als Vorbild genommen, und als er Paris erobert hat und so richtig im Siegesrausch und Größenwahn ist, macht er ein Dutzend Generäle zum Feldmarschall. Und Göring zum Reichsmarschall, was immer das sein soll. Hitler ist nur kurz in Paris gewesen. Hat ihm nicht gefallen. Auf dem Eiffelturm war er nicht, da hätte er laufen müssen, die Résistance hatte die Aufzüge kaputt gemacht. Albert Speer ist in Paris immer an seiner Seite, der soll sich die Architektur genau angucken, damit man zuhause auch so etwas bauen kann. Arno Breker ist auch dabei. Hitler ist auch am Grab Napoleons gewesen. Aus Hitlers Umbauplänen für Berlin ist nichts geworden. Ist es nicht erstaunlich, dass die kleinsten piefigsten Diktatoren von Hitler bis Ceausescu immer architektonischen Größenwahn im Kopf mit sich herumtragen?
Napoleons Marschälle, die alle Herzöge oder Fürsten werden (manche auch Könige wie Murat oder Bernadotte), sind nicht alle Schankwirtsöhne, wie Brecht geschrieben hat. Schankwirtsohn ist nur Murat. Augereaus Vater ist Obsthändler, Neys Vater ein armer Böttger. Doch die meisten kommen nicht von der Straße. Aber sie sind alle sehr jung. Die Generäle, gegen die sie kämpfen sind meistens sehr alt. Die französischen Marschälle werden jetzt zehn Jahre lang Europa in Atem halten: Elchingen, Austerlitz und wie die Orte alle heißen, die jetzt durch Schlachten berühmt werden. Ihre Taten liefern Stoff für Romane, Filmdrehbücher und beschäftigen die Historiker bis heute. Das charmanteste Buch, das je über sie geschrieben wurde, stammt von dem Schotten ➱A.G. Macdonell und heißt schlicht Napoleon and his Marshals. Es ist 1934 erschienen und glücklicherweise in der Reihe Prion Lost Treasures immer noch lieferbar. Englands berühmtester Militärhistoriker John Keegan hat bei der Neuauflage des Buches geschrieben: Even a Napoleon hater, which I am, will love this book. Still after 60 years, a thrilling gallop through the Napoleonic Wars.
Das ist Jean-Leon Jeromes Bild von der Hinrichtung Michel Neys an einem trüben Dezembervormittag. Vielleicht wäre er doch lieber in Waterloo gestorben, wo er mehrmals vergeblich den Tod gesucht hat. Das Bild oben zeigt natürlich Jacques-Louis Davids Napoleon bei der Überschreitung der Alpen. David wollte Napoleon mit einem Degen in der Hand malen, aber der hat das abgelehnt. Schlachten werden nicht mit dem Degen in der Hand gewonnen, soll er gesagt haben. Er hat die Alpen nicht vor seinen Truppen auf dem stolzen Ross überquert, es ist mit der Nachhut gekommen. Auf einem Maultier. Das würde David niemals malen. Sein Bild ist reine Phantasie, Jeromes Bild die Tristesse der Wirklichkeit.
Dienstag, 18. Mai 2010
Saturn
W.G. Sebald, der seine Vornamen hasste und lieber Max heißen wollte, wurde heute vor 66 Jahren geboren. Er ist schon neun Jahre tot, bei einem Autounfall in England gestorben (wie ➱Rolf Dieter Brinkmann), aber bei seinen Lesern ist er unvergessen. Es gibt auch schon einen weltweiten Sebald Kult, und seine Anhänger, Fans und Jünger haben zum Teil sehr aufwendige Websites wie zum Beispiel diese. Man liebte ihn als Schriftsteller schon in Frankreich und England (und auch in den USA), bevor man ihn in Deutschland entdeckte. Wahrscheinlich lag das daran, dass er längst in England lebte und sich nicht an dem Tagesgeschäft des deutschen Literaturzirkus beteiligte.
Was nicht ganz richtig ist, er hat schon Stellung bezogen und lebende und tote Kollegen attackiert (wie ➱Alfred Andersch und Jurek Becker), aber aus der sicheren Position von einer Lehrkanzel an der Universität Norwich. Sebalds Literaturkritik hat nichts mit Literatur zu tun, es ist eine moralische Kritik. Und die Moral, die hat der Winfried Georg Sebald aus dem Allgäu, der kein Deutscher mehr sein will, nun mal gepachtet. Die Moralkeule schwingt er genauso wie Reich-Ranicki. Weil er seinen Vater, den kleinen Berufssoldaten gehasst hat, weil er seinen germanischen Vornamen Winfried hasst, nimmt er jetzt das ganze Leid der Welt auf sich und schreibt über das, was er nicht aus eigener Erfahrung kennt. Dafür klaut er auch schon anderen ihre Biographie und schreibt sie in seine Werke, dieses postmoderne Recycling gilt jetzt als schick. Und wenn man das geschickter macht als Fräulein Hegemann mit Axolotl Roadkill, dann kann man damit berühmt werden, und die New York Times sagt, dass man den Nobelpreis kriegen sollte. Auf jeden Fall ist man so lange berühmt, wie alle von der neuen Postmoderne und der Intertextualität ganz besoffen sind. In der englischsprachigen Welt hat er nach Die Ausgewanderten jetzt den Titel the Holocaust writer, der die ganze Trauerarbeit auf sich nimmt, die Deutschland nicht hat leisten wollen. Ein Titel wie Holocaust writer ist in Amerika gut für das Geschäft, die Verkaufszahlen lagen in der englischsprachigen Welt immer über den deutschen.
Das alles gefällt mir nicht so sehr, aber es gibt einen Roman (falls das das richtige Wort ist) von Sebald, der mir wirklich gefallen hat, und das ist Die Ringe des Saturn: Eine englische Wallfahrt. In einer limitierten Bleisatzausgabe (und einem preisgünstigeren Nachdruck) 1995 bei Vito von Eichborn erschienen. Ich mag das Buch, weil mir vieles darin vertraut ist. Aber ich käme nicht auf die Idee, Sebald für den größten deutschen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts zu halten. Sebald hat hier seinen Stil gefunden, und das ist jetzt ein ganz unverwechselbarer Sebald Stil, den man erkennen kann, so wie man das Saxophon von ➱Don Byas von dem von ➱Charlie Parker unterscheiden kann.
Und so wandert er durch England und präsentiert uns alles, was ihm einfällt. Angelesenes, Durchdachtes, manchmal auch Erlebtes, vieles irgendwo abgeschrieben. Reisebericht, Autobiographie, eine Art Kompendium der Welt wie die Schriften von Sir Thomas Brown (den er natürlich zitiert). Immer wieder gibt es Detailaufnahmen, die Sebaldsche Zoombeschreibung zoomt an das kleinste Objekt. Aber mehr als aneinandergereihte Detailaufnahmen bringt Sebald stilistisch nicht zustande. Dazwischen eine Vielzahl von Abbildungen. Dies sind nicht Fontanes Wanderungen, dies ist der Höhepunkt der Postmoderne. Eine Kulturgeschichte des Herings (die Bücherwissen bleibt, weil der Verfasser niemals auf einem ➱Heringslogger war) steht neben einer Lebensskizze von Joseph Conrad. Und dazwischen finden sich schöne Landschaftsbeschreibungen und ein liebevoll gezeichnetes Portrait seines Freundes ➱Michael Hamburger. Und überall eine untergehende, verfallende Welt. Das alles könnte von einem kauzigen Viktorianer geschrieben worden sein, Sebald ist jetzt schon sehr englisch geworden. Von der verleugneten Heimat im Allgäu ist auf dieser englischen Wallfahrt entlang der Ostküste Englands keine Spur mehr. Dass der Saturn, der Planet der Melancholiker, im Titel vorkommt, ist kein Zufall. Dies Buch hat nicht nur einen melancholischen Grundton, dieses Buch ist schwer depressiv. Aber das macht seine seltsame Qualität aus, und es ist diese depressive Trauer, die alles Essayistische zusammenhält und ihm einen Sinn zu geben scheint.
Melancholy is only a passing mood, don't mistake it for wisdom, hat ➱Bertrand Russell gesagt, der auch an einem 18. Mai wie heute geboren wurde. Und der es nicht so mit der Depressivität hatte. Kritiker haben gesagt, dass der Saturniker Sebald so schriebe, als sei er schon tot. Über Lord Russell hat das niemand gesagt, der war bis ins hohe Alter (und er ist beinahe hundert geworden) quicklebendig und weltzugewandt.