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Freitag, 23. Juli 2010

Raymond Chandler


Am 23. Juli 1888 ist er als Raymond Thornton Chandler in Chicago zur Welt gekommen, seinen Vater hat er kaum gekannt: Mein Vater hat an der Penn [University of Pennsylvania] studiert, war Tiefbauingenieur, geschieden, als ich sieben war...ich habe meinen Vater nie wiedergesehen. Als er sieben ist, lässt sich seine Mutter von dem Säufer scheiden und zieht nach England zu ihren Verwandten. Sein Onkel Ernest Thornton, ein Rechtsanwalt, ermöglicht ihm den Besuch der Public School Dulwich College, die aus dem kleinen Raymond einen viktorianischen Gentleman macht. Dulwich ist zwar nicht ganz so berühmt wie Eton, hat aber eine Vielzahl von Berühmtheiten hervorgebracht. Auch bedeutende Schriftsteller wie meinen Lieblingsautor P.G. Wodehouse. Nach dem Abschluss geht der junge Chandler ins Marineministerium, seine Karriere scheint völlig gesichert. Aber da hält er es nur ein halbes Jahr aus, sein irischer Onkel Ernest Thornton schäumt vor Wut, als Chandler da kündigt. Chandler lebt jetzt in Bloomsbury, schreibt manchmal für die Westminster Gazette und schreibt auch Gedichte. Wäre er da länger geblieben, hätte er eines Tages vielleicht zur Bloomsbury Group von Virginia Woolf und Lytton Strachey gehört.

Aber irgendwie gefällt ihm das auch nicht, und er wandert (mit finanzieller Unterstützung seines Onkels) nach Amerika aus. Ich kam in Kalifornien an mit schicker Garderobe, Public School Akzent, ohne praktische Fähigkeiten, mir den Lebensunterhalt zu verdienen, und mit einer Verachtung für die Einheimischen, die sich, wie ich leider sagen muss, in gewissen Masse bis heute beharrlich gehalten hat. Es war ganz schön hart für mich, durchzukommen. Er hat eine Vielzahl von Gelegenheitsjobs, und dann kommt der Krieg.

Chandler tritt in die kanadische Armee ein (weil die eine Unterstützung für seine Mutter zahlt), und er wird als Sergeant den Krieg in Frankreich kennenlernen. Über dieses Trauma spricht er später nie, ebenso wenig wie er über seinen Vater redet. Aber er wird eines Tages anfangen zu trinken, wie sein Vater. Er hat mehr vom wirklichen Krieg gesehen als Ernest Hemingway, aber er vermarktet das Erlebnis nicht. Lediglich nothing is ever the same again hat er gesagt. Er macht nach dem Krieg eine dieser vom Tellerwäscher zum Millionär Karrieren, die ihn bis zum Vizepräsidenten von Joseph Dabneys South Basin Oil Company bringt.

1932 verliert er seinen Arbeitsplatz, die Great Depression hat begonnen. Und nun beginnt der ehemalige Beamte der britischen Admiralität, der Sergeant der Canadian Gordon Highlanders (ja, er hat einmal einen Kilt getragen), der Vizepräsident einer Ölgesellschaft, eine neue Karriere. Er schreibt für die pulps, inbesondere für ein Magazin namens Black Mask. Das war erstaunlicherweise von zwei Literaten der Hochkultur, H.L. Mencken und George Jean Nathan, gegründet. Sie wollten damit schnelles Geld machen, um ihre Zeitschrift The Smart Set am Leben zu erhalten.

Das da links sieht nun natürlich etwas anders aus als The Smart Set und die Black Mask ist vielleicht auch nicht gerade der Traum eines aufstrebenden Schriftstellers, aber Chandler macht das Beste daraus. Blackmailers Don't Shoot ist 1933 die erste Geschichte des neuen Black Mask Autors. Der Herausgeber Joseph T. Shaw ist mit seinem neuen Autor zufrieden. Chandler hat sich sorgfältig angeschaut, wie die hard-boiled writers in den pulp magazines so schreiben. Er hat auch viel von Dashiell Hammett gelernt, der in dem Jahr The Thin Man veröffentlicht hat, und der schon seit Red Harvest (1929) eine Berühmtheit ist. Vielleicht sollte man betonen, dass Chandlers Karrierebeginn im Jahre 1933 gleichzeitig zufälligerweise das Ende von Hammetts literarischer Karriere ist. Und je mehr Chandler schreibt, desto besser wird er. An der kurzen Erzählung Blackmailers Don't Shoot hat er fünf Monate gearbeitet, aber der magische Chandler Stil blitzt hier schon auf: The lights of the city were an endlessly glittering sheet. Neon signs glowed and flashed. The languid ray of a searchlight prodded about among high faint clouds...The car went past the oil well that stands in the middle of La Cienega Boulevard, then turned off onto a quiet street fringed with palm trees...

Ich hätte an dieser Stelle noch eine schöne ➱Photosammlung aus dem L.A. einer vergangenen Zeit. Chandler hat seinen Stil und seine Stadt gefunden. Den Namen Philip Marlowe hat er noch nicht gefunden, noch heißt der tough guy Mallory. Ein Sir Thomas Malory hatte einst Le Morte Darthur geschrieben. Will uns Chandler schon mit der ersten Erzählung auf seinen ritterlichen Helden hinweisen?  Der Held, der uns in den ersten Zeilen geschildert wird trägt einen powder-blue suit, das tut Philip Marlowe im ersten Absatz von The Big-Sleep auch. Entweder sind powder-blue suits in Los Angeles die große Mode oder Chandler beklaut sich selbst. Es ist natürlich das letztere, Chandler wird dieses Vorgang cannibalizing nennen. Irgendwie ist ihm vieles aus den frühen Short Stories zu schade zum Wegwerfen, er kann es noch einmal für die Romane gebrauchen.

Am Ende seiner Lebens wird er an seine Londoner Literaturagentin Helga Greene schreiben: to accept a mediocre form and make something like literature out of it is in itself rather an accomplishment. Sechs Jahre Lehrjahre in den pulps, dann schreibt er The Big Sleep. Im ZVAB gibt eine Erstausgabe für 17.500 Dollar, hätte ich auch gerne, aber ich habe nur die alte Penguin Ausgabe. Aber  dafür habe ich eine Erstausgabe von Red Wind, die ich mal für zwei Mark gekauft habe. Die wird aber leider nur für 50 Euro gehandelt. The Big Sleep ist vielleicht sein bester Roman, und mit ihm (und der Verfilmung) kommt jetzt der Erfolg.

Jetzt braucht er nicht mehr dreimal im Jahr umzuziehen, jetzt reicht es für ein schickes Haus in La Jolla für ihn und seine Frau Cissy. Als seine Mutter gestorben war, hatte er die Pianistin Cissy Pascal geheiratet. Die war achtzehn Jahre älter als er, und Dr. Freud würde uns jetzt sagen, dass er seine Mutter geheiratet hat. Frauen sind sowieso ein Problem in der Romanwelt von Chandler, entweder sind sie todbringende Vamps oder sie sind das good-bad girl wie Vivian Reagan in The Big Sleep. Chandler ist mit dieser Typisierung der Frauenfiguren nicht allein, der ganze amerikanische roman noir folgt einem ähnlichen Muster. Chandler hat seine Cissy abgöttisch geliebt. Als sie 1954 im Alter von 84 Jahren stirbt, bricht für ihn die Welt zusammen. Er war zu betrunken, um an der Beerdigung teilnehmen zu können. Die letzten fünf Jahre seines Lebens sind eine Katastrophe. Obgleich er noch sehr intelligente Briefe schreibt, wenn er mal nüchtern ist.

Der Mann, der jetzt hard-boiled novels schreibt, hat eine klassische Bildung, und so tough sein Stil ist, die klassische Bildung scheint doch durch, Chandler ist viel literarischer als seine Kollegen von der Black Mask. Und er hat sich in The Simple Art of Murder 1944 auch seine Gedanken über den Status der detective story gemacht.

Ich gebe ja gerne zu, dass das ein wenig abschreckend aussieht, aber was Chandler in seinem Essay sagt, das ist auch noch nach 66 Jahren eines der wichtigsten Statements zur Detektivliteratur. Man kann den Essay ➱hier in seiner ganzen Länge lesen, und Chandler Fans sollten das unbedingt tun. Er hat hier auch seinen Idealhelden, den wir seit The Big Sleep als Philip Marlowe kennen, definiert: In everything that can be called art there is a quality of redemption. It may be pure tragedy, if it is high tragedy, and it may be pity and irony, and it may be the raucous laughter of the strong man. But down these mean streets a man must go who is not himself mean, who is neither tarnished nor afraid. The detective in this kind of story must be such a man. He is the hero, he is everything. He must be a complete man and a common man and yet an unusual man. He must be, to use a rather weathered phrase, a man of honor, by instinct, by inevitability, without thought of it, and certainly without saying it. He must be the best man in his world and a good enough man for any world. I do not care much about his private life; he is neither a eunuch nor a satyr; I think he might seduce a duchess and I am quite sure he would not spoil a virgin; if he is a man of honor in one thing, he is that in all things. He is a relatively poor man, or he would not be a detective at all. He is a common man or he could not go among common people. He has a sense of character, or he would not know his job. He will take no man’s money dishonestly and no man’s insolence without a due and dispassionate revenge. He is a lonely man and his pride is that you will treat him as a proud man or be very sorry you ever saw him. He talks as the man of his age talks, that is, with rude wit, a lively sense of the grotesque, a disgust for sham, and a contempt for pettiness. The story is his adventure in search of a hidden truth, and it would be no adventure if it did not happen to a man fit for adventure. He has a range of awareness that startles you, but it belongs to him by right, because it belongs to the world he lives in.
If there were enough like him, I think the world would be a very safe place to live in, and yet not too dull to be worth living in.


Raymond Chandler kam hier im Blog schon einmal im Februar in dem Artikel ➱Ritter vor, und ich mag nicht ausschliessen, dass er von Zeit zu Zeit noch einmal auftaucht. Einer meiner ersten Aufsätze, den ich als junger Literaturwissenschaftler bei der Redaktion einer seriösen literaturwissenschaftlichen Zeitschrift einreichte, verstörte die Redaktion damals sehr. Der Autor Raymond Chandler galt den Herren als nicht literaturwürdig. Wir waren in Deutschland weit hinter den Franzosen zurück, André Gide hatte aus seiner Bewunderung für Dashiell Hammett nie einen Hehl gemacht, und die Existentialisten waren von den tough guy writers hin und weg. Muss ich noch sagen, dass Camus' Roman L'étranger auf James Mallahan Cains The Postman always rings twice basiert? Aber nach langem hin und her hat die Redaktion den Artikel über die schöne Chandler Kurzgeschichte I'll Be Waiting dann doch gedruckt. Das war vor beinahe vierzig Jahren, eine Sensation, heute würde jede Redaktion einer literarischen Zeitschrift einen Chandler Artikel von mir mit Kusshand nehmen (meine Leser kriegen das natürlich hier umsonst). Raymond Chandler ist im literarischen Olymp angekommen, die Library of America hat seine Werke in ihren Kanon aufgenommen. Auch wenn die amerikanische Schriftstellerin Joyce Carol Oates (die ich noch nie leiden konnte) dagegen im New York Review of Books stänkern musste.

Der Band Killer in the Rain, den der Penguin Verlag 1966 herausbrachte, bietet (mit einem Vorwort von Philip Durham!) eine sehr gute Übersicht über die frühen Black Mask Stories von Chandler. Genau die, die nach Chandlers Willen eigentlich nicht hätten wiederveröffentlicht werden sollen, weil hier der Vorgang des cannibalizing zu offensichtlich ist. Aber gerade deshalb sind sie interessant. Es gibt zu Chandlers Leben und Werk einen netten Band in der Reihe der Rowohlts Monographien von Thomas Degering. Und es gibt zwei gut lesbare Biographien von Frank MacShane (1976) und Tom Hiney (1997). Auf jeden Fall sollte man Chandlers  Briefe lesen, sei es in der Ausgabe von Dorothy Gardiner und Kathrine Sorley Walker (Raymond Chandler Speaking) oder der von Frank MacShane herausgegebenen Selected Letters. Heinz Liesbrocks Die Suche nach dem Menschen: Raymond Chandlers Sprachkunst wird bei Amazon ab 99 Cent verhökert. Ich bin bei dem Buch immer etwas hin- und hergerissen, weil mir der manieriert gespreizte Stil von Liesbrock nicht so recht gefällt. Aber es gibt im zweiten Teil seines Buches eine sehr gute exemplarische Analyse von Farewell, My Lovely (und natürlich werde ich bei ihm auch zitiert). Es gibt inzwischen soviel Literatur zu Raymond Chandler, dass man das kaum noch übersehen kann, das war vor vierzig Jahren anders. Da gab es nur ein gutes Buch, und das war Philip Durhams Down these mean streets a man must go: Raymond Chandler's Knight. Ist immer noch eins der besten Bücher. Es gibt Seiten im Internet wie zum Beispiel diese, aber ich finde auch die Seite von William Marling ganz gut, der interessante Sachen zum roman noir geschrieben hat.

Lesen Sie auch: ➱Raymond Thornton Chandler, Nymphos

2 Kommentare:

  1. Fantastisch, hier etwas über einen meiner Lieblingsautoren zu lesen. Da Sie einen ähnlichen literarischen Geschmack wie ich zu haben scheinen, möchte ich Ihnen einen weiteren Autoren empfehlen (falls Sie ihn nicht schon kennen): Donald E. Westlake, der unter dem Pseudonym Richard Stark ab Anfang der Sechziger Jahre die sogenannten Parker-Novels veröffentlicht hat. Diese Bücher werden zur Zeit von der University of Chicago Press wieder veröffentlicht. Der Stil von Westlake/Stark ist sogar noch lakonischer und "to the point" als der von Chandler, und schafft es, die allzu banalen Noir-Klischees fast völlig zu vermeiden. Wie mit dem Rasiermesser geschrieben sind diese Stories, die mit der faszinierenden Präzision eines mechanischen Uhrwerks ablaufen. Und im Gegensatz zu Chandler steht hier in Person von Parker die andere Seite des Gesetzes im Mittelpunkt. Der erste Band heisst "The Hunter".

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  2. Donald E. Westlake ist nicht so ganz mein Geschmack, ich persönlich finde Leute wie Ross Macdonald oder Elmore Leonard besser. Ich werde sicher von Zeit zu Zeit hier noch über Krimis schreiben. Ich zögere nur ein wenig, weil ich mir einmal geschworen hatte, nie wieder über Krimis zu schreiben. Das war, bevor ich mein Leben als Blogger begann, an einer Uni lehrte und Bücher über den Detektivroman schrieb. Aber ich denke mir, dass ich jetzt in kleinen Dosierungen von Zeit zu Zeit von diesen guten Vorsätzen abrücken darf.

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