Die kleine Levin hat man sie genannt, aber von ihrer Bedeutung her ist Rahel Levin eine der großen Frauen in ihrer Zeit. Klein ist sie nur von der Körpergröße her, wahrscheinlich gerade mal einsfünfzig, man weiß es nicht so genau. Sie ist - und darin ist sie Bettine von Arnim ähnlich (obgleich die ja mal Dies Buch gehört dem König geschrieben hat) - eine Schriftstellerin ohne Werk. Ihre Werke sind (wie bei Bettine) ihre Briefe. Ich kann nur Briefe schreiben, kann man bei ihr lesen, Mein Leben soll zu Briefen werden auch. Ihre Bedeutung soll in ihrem literarischen Salon gelegen haben, in der Dachstube des Hauses ihres Vaters, wo sie Preußens Intelligenz zu geselligen Abenden empfing. Das ist damals très chic, die Engländer haben das schon etwas länger, aber wir sollten bedenken, dass Rahel Levins Salon nur einer unter vielen in Berlin ist.
Es gibt da noch den von Henriette Herz (bei deren Namensnennung kann Rahel in ihren Briefen manchmal richtig giftig werden), den von Henriette von Crayen (deren Tochter Theodor Fontane zu dem Roman Schach von Wuthenow inspirierte) und den von Amalie Beer. Die berühmte Dachstube im Haus des jüdischen Bankiers Levin ist auch kein wirklich vornehmer Salon, es ist eher ein bisschen Bohème. Clemens Brentano schreibt nach einem Besuch bei Rahel, daß Prinz Louis Ferdinand und Fürst Radziwill zu ihr kommen, erregt vielen Neid, aber sie macht nicht mehr daraus, als ob es Lieutenants oder Studenten wären. Für Rahel ist ihr Salon, der die gesellschaftlichen Schranken aufhebt, auch ein Teil ihres eigenen Fortbildungsprogramms. Sie ist eine self-made woman, sie hat sich (einschließlich des Deutschen) alles selbst beigebracht. Und sie hat ihr Leben lang darunter gelitten, eine Jüdin zu sein.
Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde, nach ihrem Tod von ihrem Ehemann August Varnhagen von Ense herausgegeben, versammelt ihre Briefe und Aufzeichnungen, die sie vor ihrem Tod eigenhändig für die Veröffentlichung vorbereitet hatte. Diese Briefe gehören sicherlich mit zu den wichtigsten Zeugnissen der deutschen Literatur des frühen 19. Jahrhunderts. Bisher hat man beinahe immer die dreibändige Ausgabe von 1834 nachgedruckt. Karl August Varnhagen von Ense hatte eine erheblich erweiterte Ausgabe dieser Selbstbiographie in Briefen geplant, es gab wohl auch dafür einen Plan, der aber nie realisierte wurde.
Aber in diesem Jahr doch endlich. Und das ist das Verdienst einer Frau namens Barbara Hahn, die Professorin an der Vanderbilt University in Nashville ist, wo es offensichtlich nicht nur Country und Western gibt. Seit Barbara Hahn 1980 in Marburg ihr erstes Seminar über Rahel Varnhagen gemacht hat, hat sie über Rahel geforscht. 1989 hat sie in Berlin promoviert, und ein Jahr später ist ihre Dissertation als bei Stroemfeld/Roter Stern als Buch erschienen: Antworten Sie mir! Rahel Levin Varnhagens Briefwechsel. Ist natürlich, wie alle guten Bücher nicht mehr lieferbar. Aber ich habe ein Exemplar, im Grabbelkasten gefunden, wo man alle guten Bücher findet. Ich kann nur hoffen, dass die FU Berlin ihr damals auch ein summa cum laude für diese Doktorarbeit gegeben hat. Wie schnell sind doch bei uns Begriffe wie summa cum laude und Doktorarbeit durch einen einzigen Betrüger und Schaumschläger entwertet worden!
Aber mit solcher Scharlatanerie hat Antworten Sie mir! Rahel Levin Varnhagens Briefwechsel nicht zu tun, dies ist seriöse Forschung. Lange Monate in der Handschriftenabteilung der Biblioteka Jagiellońska in Krakau (wohin das Archiv Varnhagens 1945 gewandert war). Kein einfaches drag&drop der Textherstellung, vor dem Schreiben kam das Lesen von 6.000 Seiten Manuskripten. Es ist ein Buch, das mit Empathie geschrieben ist, und es ist ein sehr gutes Buch. Was mich nur ein wenig irritiert, ist die Tatsache, dass sich die großen deutschen Verlage neuerdings bei allem Wichtigen bedeckt halten. Antworten Sie mir! ist bei Stroemfeld/Roter Stern erschienen, die sechs Bände (über 3.300 Seiten) von Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde beim Wallstein Verlag. Liegt aller Wagemut neuerdings bei den Kleinverlagen? Was ist mit Hanser oder Suhrkamp? Lediglich der C.H. Beck Verlag hat drei voluminöse Bände von Briefen Rahels im Programm.
Nach mehreren unglücklichen Beziehungen ehelichte Rahel am 27. September 1814 den Diplomaten, Historiker und Publizisten Karl August Varnhagen von Ense, heißt es so schön im Wikipedia Artikel. Da wüsste man ja doch gerne etwas mehr. Was ist mit Karl Graf von Finckenstein? Günter de Bruyn weiß dazu in Rahels erste Liebe. Rahel Levin und Karl Graf von Finckenstein in ihren Briefen und in Die Finckensteins: Eine Familie im Dienste Preußens eine Menge zu sagen. Wenn man heute nichts über die geistige Situation im damaligen Berlin weiß, dann sollte man auch zu Günter de Bruyn greifen und Als Poesie gut: Schicksale aus Berlins Kunstepoche 1786 bis 1807 lesen.
Als Rahel 1814 den fünfzehn Jahre jüngeren Varnhagen heiratet, ist ihre letzte Liebe Alexander von der Marwitz gerade tot, in Frankreich gefallen. Und sein Bruder wird ihm auf den Grabstein schreiben lassen: Christian Gustav Alexander v. d. Marwitz, geb. den 4. Oktober 1787. Lebte für die Wissenschaften. Erstieg deren Gipfel. Redete sieben Sprachen. Wahrete dieses Vatergutes 1806 und 1807, wie der Bruder zu Felde lag. Von Freiheitsliebe ergriffen, focht er 1809 in Österreich bei Wagram und Znaym. Diente 1813 dem Vaterlande. Schwer verwundet und gefangen, befreite er sich selbst. Wieder genesen focht er in Frankreich und fiel dort bei Montmirail den II. Februar 1814. Sein Vater war Behrend Friedrich August v. d. Marwitz, seine Mutter Susanne Sophie Marie Luise von Dorville. Hier stand er hoch, dort höher. Seinem Andenken gesetzt von seinem Bruder.
Ob man nun über dreitausend Seiten Briefe von Rahel von Varnhagen lesen muss, weiß ich nicht zu beantworten. Weshalb liest man die Briefen anderer Leute? Weil sie es so wollten, da sie den Brief als eine literarische Form betrachteten und der Veröffentlichung nicht in ihrem Testament widersprochen haben, wäre eine Antwort. Manche Leser lesen Briefe berühmter Leute gerne. Man hat das Gefühl, dem Schreibenden nahe zu sein, mir ist das so bei der Lektüre von Byrons Briefen ergangen. Oder bei den Briefen von Blücher (über den Rahels Ehemann noch eine Biographie schreiben wird), die gänzlich ungekünstelt und nicht auf eine nachträgliche Veröffentlichung konzipiert sind, so wie viele von Rahels Briefen. Byron und Blücher sind Zeitgenossen von Rahel Varnhagen, die Lektüre ihrer Briefe zeigt auch, wie klein doch die Welt von Rahel ist.
Bei der Lektüre von Briefen, in denen der Schreiber sein Herz ausschüttet, dem Empfänger seine Liebe gesteht, hat man als Leser ja häufig ein schlechtes Gewissen. Hat das Zeitalter der Empfindsamkeit eine neue Geschwätzigkeit hervorgebracht, eine literarische Verbalerotik in Briefform? Oder schreiben hier wirklich von der Liebe gequälte Seelen? Meint Karl von Finckenstein das Ewig im ganzen Umfang des Wortes dein Carl, das er 1796 unter einen Brief schreibt, wirklich so? Die sprachliche Selbstentblößung, spontan, aber gleichzeitig kalkuliert, ist ja seit dem 18. Jahrhundert (also schon lange vor Kafkas Brief an den Vater) beinahe zu einer literarischen Pflichtübung geworden. Aber ich kann das nicht Gunda, wehnigstens hält es mir zu schwer, ich muß entweder das Schauspielhaus ganz verschließen, oder auch das innerste entschleiern, schreibt Karoline von Günderode an Gunda Brentano. Ist es tief empfundenes Selbstbekenntnis oder nur eine literarische Schreibübung, wenn Rahel an Marwitz schreibt:
Sehen Sie in mein Herz, wenn Sie können; Sie kennen meine Bestandteile, Sie wissen alles von mir, um jedes wissen zu können. Vergessen Sie nicht, que dieu m'a fait le coeur rebell et doux, je n'ai jamais pu le changer. Daß ich am großen Verdruß knurre wie die großen Pudel, von denen ich sprach, und daß nur aufheiternde Ereignisse oder göttliche innere Erleuchtungen mich beleben können. Also was soll ich schreiben, was soll ich fragen, was kann ich tun ohne die Götter? Das innerste Herz spricht mich endlich frei, und ich kann nicht viel mehr Bewegungen machen.
Bei allerlei offenkundigen Gewaltsamkeiten und Rauheiten des Ausdrucks sprach- und gedankenmächtig wie keine neben ihr, und dennoch immer kindlich, auch in Verzweiflung und Ingrimm fromm, heiter, kokett, ein Phänomen allerersten Ranges, wenn auch als solches bis heute niemals voll anerkannt und rezipiert, schrieb Friedhelm Kemp vor vierzig Jahren im Supplementband von Kindlers Literatur Lexikon. Wir wollen einmal hoffen, dass sich die Sache mit der Anerkennung inzwischen gebessert hat.
Rahel Levin, die ihr Leben in ihre Briefe schrieb, wurde heute vor 240 Jahren in Berlin geboren.
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