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Samstag, 31. Dezember 2011

The Big Trail


In seinem ersten großen Tonfilm The Big Trail (the most important picture ever produced, unter solchen Sätzen tut Hollywood es ja nicht) führt John Wayne als scout eine Gruppe von Siedlern gen Westen. Eigentlich sollte Gary Cooper die Hauptrolle spielen, der gerade in seinem ersten Tonfilm The Virginian den archetypischen amerikanischen Westernhelden gespielt hatte, aber die Fox hatte nicht genug Geld für ihn, hohe Verluste an der Börse am Black Thursday 1929. Gary Cooper war die zweite Wahl, eigentlich wollte Raoul Walsh die Hauptrolle selbst spielen. Aber bei den Dreharbeiten von In Old Arizona war ihm ein Hase in die Windschutzscheibe gesprungen, und er hatte bei dem Unfall ein Auge verloren. Trug fortan eine schwarze Augenklappe, noch bevor die das Markenzeichen von John Ford wurde (der Walsh immer bewundert hat). Angeblich soll John Ford, der auch bei Fox Films unter Vertrag war, das Drehbuch ab von The Big Trail abgelehnt haben, weil ihm die Handlung zu dürftig erschien, aber die Geschichte ist nicht wirklich belegt.

Der Unfall von Walsh und die Absage von Cooper sind die Chance für einen Unbekannten, der Marion Morrison heißt. Der jetzt zum ersten Mal in seinem Leben 150 Dollar die Woche bekommt (Tyrone Power Sr bekommt mehr). Und einen neuen Namen, er ist fortan John Wayne. John Wayne (hier mit der hübschen Marguerite Churchill) ist dreiundzwanzig, aber wir alle glauben ihm, dass er den Weg nach Westen kennt. Wie Daniel Boone, Davy Crockett und wie all diese amerikanischen Helden mit den Bärenfellmützen so heißen. Aber irgendwann können die Siedler nicht mehr, ➱Flussüberquerungen und Indianerüberfälle und dann noch die Rocky Mountains. Und der furchtbare Schneesturm. Sie wollen nicht mehr weiter. Doch John Wayne hält eine flammende Rede, die nachträglich gesehen wie eine Propagandarede für Roosevelts New Deal klingt: No you're not. We can't turn back! We're blazing a trail that started in England. Not even the storms of the sea could turn back those first settlers - and they carried it on further, they blazed it on through the wilderness of Kentucky. Famine, hunger, not even massacres could stop them. Now we've picked up the trail again and nothing can stop us, not even the snows of winter nor the peaks of the highest mountains. We're building a nation, but we've got to suffer. No great trail was ever blazed without hardship. And you've got to fight. That's life! And when you stop fightin', that's death! What are you going to do, lay down and die? Not in a thousand years! You're going on with me!

Roosevelt beschäftigte keine Hollywood script writers, für ihn schrieben sein Berater Harry Hopkins oder Schriftsteller wie Archibald MacLeish und Robert Sherwood. Woodrow Wilson war der letzte amerikanische Präsident, der seine Reden selbst schrieb. Und auf seiner alten Schreibmaschine selbst tippte. Das ist heute unvorstellbar. Können Sie sich einen deutschen Politiker vorstellen - ich nehme mal Männer wie Heuss, Carlo Schmid und Helmut Schmidt aus - die ihre Reden selbst schreiben? Und tippen?

Die erste große Rolle für John Wayne ist auch gleich das Ende seiner Karriere - auch Marguerite Churchill, so hübsch sie ist und so gut sie spielt, bekommt keine großen Rollen mehr. Auf dem Film liegt ein Fluch, niemand erwähnt ihn gerne. Die Fox ist pleite, wird erst Jahre später von einer anderen Gesellschaft (Twentieth Century) gerettet und heißt dann Twentieth Century-Fox. William Fox wandert ins Gefängnis, weil er versucht hatte, einen Richter zu bestechen. Irgendwie scheint er das amerikanische Gerichtssystem der dreißiger Jahre mit dem amerikanischen Westen zur Zeit von Roy Bean verwechselt zu haben. John Wayne ist noch bei der Fox unter Vertrag, die ihn für Billigproduktionen beschäftigt, für mehr hat sie eh kein Kapital. Danach kann er bei anderen Studios wieder von unten anfangen. Und so wird er B-Pictures drehen, bis John Ford ihn 1939 für ➱Stagecoach holt.

Wir lassen das mal beiseite, dass John Wayne bei seiner großen Rede (und bei den anderen Reden, die ihm von Tag zu Tag geschrieben wurden - der Drehbuchautor war jeden Tag betrunken) im Schneesturm sehr steif wirkt. Das hat simple Gründe: er darf sich nicht bewegen, damit er nicht aus der Reichweite des Mikrophons kommt. Man hat die Aufnahme- und die Tontechnik noch nicht im Griff. Die Synchronisation erst recht nicht. Also greift man auf ein altes Mittel des Stummfilms zurück und dreht den Film für andere Länder mit anderen Schauspielern (häufig aber den gleichen Statisten) in den selben Kulissen oder locations wie das Original. Also haben wir neben The Big Trail noch die Versionen La Piste des géants (1931), Die Große Fahrt (1931)Il grande sentiero (1931) und La Gran jornada (1931). John Wayne ist bei keiner der Auslandsproduktionen dabei, aber Walsh führt bei mehreren Regie.

An dem Werbespruch the most important picture ever produced ist aber doch etwas dran, denn The Big Trail ist nicht nur ein Tonfilm, es ist auch ein Breitwandfilm. Fox Grandeur heißt das Ganze. Ist bloß blöd, dass die meisten Kinos noch nicht mal auf den Tonfilm vorbereitet sind, geschweige denn Projektoren für 70mm Filme haben. Die Premiere des Filmes ist in Grauman's Chinese Theatre (einem von zwei Kinos in den USA, die damals einen 70mm Film zeigen können). Glücklicherweise hat man auch (mit einem anderen Kameramann) gleichzeitig eine 35mm Version gedreht. Das ist die Fassung, die Cineasten verachten, aber jahrzehntelang gab es nichts anderes. Ich habe auch nur die 35mm Version, ist besser als nix. Vor Jahren hat man in einem immens komplizierten und aufwendigen Prozess die originale 70mm Fassung restauriert (hat Jahre gedauert), und auf ➱You Tube kann man das Ergebnis sehen. Ist wirklich toll, die ersten 15 Minuten sollten Sie sich unbedingt anschauen. Es gibt in Amerika auch eine DVD von der 70mm Fassung, aber ich weiß nicht, ob die hier auf jedem DVD Player läuft.

Raoul Walsh, Schauspieler und Regisseur, ist heute vor 31 Jahren gestorben. Zehn Jahre zuvor war seine Jugendfreundin Virginia O'Hanlon gestorben, die als Kind eine nationale Berühmtheit war. Weil sie der Sun geschrieben hatte und gefragt hatte, ob es Santa Claus wirklich gäbe. Die Antwort der Redaktion hieß ➱Yes, Virginia, there is a Santa Claus.

Ich wünsche all meinen Lesern alles Gute für das neue Jahr. Und falls Sie den Text von Dinner for One suchen, gehen Sie doch einfach mal auf diese ➱Seite.

Freitag, 30. Dezember 2011

Geburtstag


Theodor Fontane hat heute wieder mal Geburtstag. Das hat er jedes Jahr. In diesem Blog ist ja schon häufig an ihn erinnert worden. Das letzte Mal habe ich über den Roman Vor dem Sturm geschrieben, ein Artikel, den ich meinem alten Pastor Klaus Nebelung gewidmet hatte. Er hat ihn noch mit Vergnügen gelesen, aber wenige Wochen nach seinem 87. Geburtstag ist er leider gestorben. Das erfüllt mich mit Trauer, aber andererseits bin ich auch glücklich, dass er diesen kleinen Essay noch lesen konnte.

Theodor Fontane wurde im gleichen Jahr geboren wie Melville und Whitman, von den dreien hat er am längsten gelebt. Melville starb völlig vergessen 1891, Whitman ist zwar nicht ganz vergessen, aber er lebt nach einem Schlaganfall nur noch unter den größten Schmerzen bis zu seinem Tod im Jahre 1892. Zwei Jahre später wird Theodor Fontane fünfundsiebzig. Auf Vorschlag der Professoren Theodor Mommsen und Erich Schmidt erhält er am 8. November 1894 die Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät der Universität Berlin (kurz zuvor war Menzel ebenso geehrt worden). Im Ganzen genommen stehe ich mau und flau zu Auszeichnungen derart ; diese aber hat doch einen Eindruck auf mich gemacht, schreibt er in einem Brief. Die Urkunde wird ihm am 24. November in seinem Wohnzimmer vom Dekan der Fakultät und von Erich Schmidt überreicht. In der Neuen Rundschau erscheint gleichzeitig der Vorabdruck von Effi Briest. Er könnte ja eigentlich zufrieden sein.

Aber er schreibt ein seltsames Gedicht, das An meinem Fünfundsiebzigsten heißt. Seine Frau Emilie schrieb damals an die Schauspielerin Paula Schlenther-Conrad: Sie glauben ja gar nicht, mit welchem Interesse er Ihren Beobachtungen des lieben deutschen (popligen) Adels folgte u. beistimmte. Auch er kann ein Lied von ihm singen, ja er hat ein humoristisches nach seinem Gbt. wirklich niedergeschrieben. Ist es wirklich humoristisch?

Hundert Briefe sind angekommen,
Ich war vor Freude wie benommen,
Nur etwas verwundert über die Namen
Und über die Plätze, woher sie kamen.

Ich dachte, von Eitelkeit eingesungen:
Du bist der Mann der „Wanderungen“,
Du bist der Mann der märk’schen Gedichte,
Du bist der Mann der märk’schen Geschichte,
Du bist der Mann des alten Fritzen
Und derer, die mit ihm bei Tafel sitzen,
Einige plaudernd, andre stumm,
Erst in Sanssouci, dann in Elysium;
Du bist der Mann der Jagow und Lochow,
Der Stechow und Bredow, der Quitzow und Rochow,
Du kanntest keine größeren Meriten,
Als die von Schwerin und vom alten Zieten,
Du fandst in der Welt nichts so zu rühmen,
Als Oppen und Groeben und Kracht und Thümen;
An der Schlachten und meiner Begeisterung Spitze
Marschierten die Pfuels und Itzenplitze,
Marschierten aus Uckermark, Havelland, Barnim,
Die Ribbecks und Kattes, die Bülow und Arnim,
Marschierten die Treskows und Schlieffen und Schlieben –


Und über alle hab’ ich geschrieben.
Aber die zum Jubeltag kamen,
Das waren doch sehr, sehr andre Namen,
Auch „sans peur et reproche“, ohne Furcht und Tadel,
Aber fast schon von prähistorischem Adel:
Die auf „berg“ und auf „heim“ sind gar nicht zu fassen,
Sie stürmen ein in ganzen Massen,
Meyers kommen in Bataillonen,
Auch Pollacks und die noch östlicher wohnen;
Abram, Isack, Israel,
Alle Patriarchen sind zur Stell’,
Stellen mich freundlich an ihre Spitze,
Was sollen mir da noch die Itzenplitze!
Jedem bin ich was gewesen,
Alle haben sie mich gelesen,
Alle kannten mich lange schon,
Und das ist die Hauptsache ..., „kommen Sie, Cohn“.


Also, wenn da stehen würde: Oh, ihr Kitzenglitze, Tüggeritze, Redewitze und Habenitze und all ihr anderen Plitzen, Ritzen, Witzen und Stitzen, ihr Grafen, Freiherrn, Barone, Attachés, Leutnants, Assessoren, Rittergutsbesitzer und unbeschäftigten Kavaliere: wo seid ihr? das wäre humoristisch gewesen. Aber das ist nun nicht von Fontane.

Der Adel war wieder mal nicht da. Der Adel war auch zum siebzigsten Geburtstag nicht da. Dem Adel ist dieser Fontane unheimlich, man wird dafür sorgen dass er niemals ein von Fontane werden wird (oder wäre de Fontane angemessener?), nicht einmal ein Geheimratstitel ist für ihn drin, aber immerhin erhielt er zum 75. Geburtstag eine lebenslange Ehrenpension vom preußischen Kultusministerium. Aber was ist schon der Adel? Ihr könnt uns ja wieder haben, ihr braucht es ja nur zu wollen, sagte mir eine leicht angeschickerte Preußenprinzessin auf einer Party vor einem halben Jahrhundert. Wollte an dem Abend aber keiner. Später auch nicht. Der Adel war längst tot. Für Fontane auch. Wenn er Effi vor ihrem Tod über den Baron Innstetten sagen lässt: Denn er hatte viel Gutes in seiner Natur und war so edel, wie jemand sein kann, der ohne rechte Liebe ist, dann zitiert er subtil den ersten Korintherbrief: Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich weissagen könnte und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, also daß ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts.

Fontane humoristisches Geburtstagsgedicht (das er wohlweislich nicht zum Druck gab) ist noch ein wenig ambivalent, er scheint den märkischen Junkern immer noch nachzutrauern. Doch der alte Fontane (wie Thomas Mann ihn genannt hat), der in seinen Romanen peu à peu eine Vivisektion des preußischen Adels vornimmt, wird in diesen Jahren (wann auch sonst) immer entschiedener in seiner Kritik. Und findet Sätze über die preußischen Junker wie Je mehr sie überflügelt werden, je mehr sie sich überzeugen müssen, dass die Welt anderen Potenzen gehört, desto unerträglicher werden sie in ihren Forderungen; ihre Vaterlandsliebe ist eine schändliche Phrase, sie haben weniger davon als andere, sie kennen nur sich und ihren Vorteil, und je eher mit ihnen aufgeräumt wird, desto besser. Oder über die Arbeiter: Millionen von Arbeitern sind genau so gescheit, so gebildet, so ehrenhaft wie Adel und Bürger, vielfach sind sie ihnen überlegen [...] Alle diese Leute sind uns vollkommen ebenbürtig. Sie vertreten auch Ideen, die zum Teil ihre Berechtigung haben, und die man nicht totschlagen oder durch Einkerkerung aus der Welt schaffen kann.

Ich komme aus Bremen, da hatte man mit dem Adel nichts am Hut. Den Freiherrn Knigge lässt man gelten, der war ja beinahe ein Bremer. Was aber Louis Ferdinand dazu bewogen hat, ausgerechnet 1950 nach Bremen zu ziehen, werde ich nie verstehen. Auf jeden Fall konnte man so Hohenzollernprinzen und Prinzessinnen kennenlernen. Was bei mir, um es mit aller gebotenen Zurückhaltung zu sagen, keinen großen Eindruck hinterlassen hat. Ich könnte da zwar wunderbare Geschichten erzählen, aber ich tue es nicht. Ich bin ja nicht bei der Bild-Zeitung. Und obgleich ich eine schnelle böse Zunge habe und jeden Klatsch liebe, achte ich doch auch in diesem Blog auf vornehme Zurückhaltung. Die böse kleine Geschichte über die intellektuellen Fähigkeiten eines Preußenprinzes, die ich hier erzählt habe, die durfte ich erzählen, sie ist nicht geheim.

Es gibt gebildete Adlige, keine Frage. Ich habe viele kennengelernt. Und ich liebe Dubslav von Stechlin, der eigentlich der alte Fontane ist. Aber ich muss gestehen, dass es mich bei Fontane immer wieder amüsiert, wie er zwischen Bewunderung und Kritik des Adels oszilliert. Ich dachte, von Eitelkeit eingesungen: Du bist der Mann der „Wanderungen“, Du bist der Mann der märk’schen Gedichte, Du bist der Mann der märk’schen Geschichte. Ja, und genau dazu habe ich noch einen Literaturtipp. Nämlich das hervorragende Buch Gegen-Wanderungen: Streifzüge durch die Landschaft Fontanes von Hubertus Fischer. Man sollte es unbedingt lesen, bevor man die Wanderungen zu einer Geschichte Preußens stilisiert (was sie nicht sind). Denn er selbst wollte seine Wanderungen kritisch verstanden wissen, wie er 1882 an seine Frau Emilie schrieb: ...ich habe überall liebevoll geschildert, aber nirgends glorifiziert, nicht einmal meinen Liebling Marwitz. Ich habe sagen wollen und habe wirklich gesagt: Kinder, so schlimm, wie ihr es macht, ist es nicht, und dazu war ich berechtigt, aber es ist Torheit, aus diesen Büchern herauslesen zu wollen: ich hätte eine Schwärmerei für Mark und Märker. So dumm war ich nicht.

Donnerstag, 29. Dezember 2011

Kinderbischof


Gestern wäre die Amtszeit eines ➱Kinderbischofs in England abgelaufen. Sie dauerte sowieso nicht lange, vom Nikolaustag bis zum Tag der Holy Innocents. Heinrich VIII hat diesen seltsamen Brauch 1541 verboten, unter Mary, die man auch die Blutige oder die Katholische nannte, war er sofort wieder da. Aber dann hat Elizabeth I diesen schönen Brauch wieder verboten. Und seitdem gibt es in England keine Kinderbischöfe mehr (obgleich an manchen Stellen Englands seit den fünfziger Jahren wieder welche gewählt werden, wie man an diesem Photo sehen kann). Diese Kinderbischöfe des Mittelalters, die meistens aus den Reihen der Chorknaben gewählt wurden, bekamen eine kleine Mitra und ein Bischofsgewand und saßen bei allen Zeremonien zwischen dem Nikolaustag und dem Tag der unschuldigen Kinder auf dem Stuhl des Bischofs. Für den Fall, dass der boy bishop in seiner Amtszeit sterben sollte, war eine Beerdigungsfeier wie für einen echten Bischof vorgesehen. Natürlich neigen Kinder dazu, Quatsch zu machen, und so wurden Regeln für das Benehmen erlassen. Was ein wenig absurd ist, denn natürlich ist dieses Amt etwas Anarchisches. Und war, wie der Karneval, ein Ventil für alles, was durch die reglementierte Welt der katholische Kirche unterdrückt war.

Wenn auch die kindlichen Bischöfe ein wenig zur Anarchie neigten, es ist nicht bekannt, dass sie jemals Unheil gestiftet haben. Erwachsene Bischöfe schon. Wenn die jugendlichen Bischöfe in ihrer Abschlusspredigt (die sie in manchen Gegenden am Tag der Holy Innocents halten durften) dafür beteten, dass Kinder nicht mehr ausgepeitscht würden, dann hätte man vielleicht auf sie hören sollen. In der Bibel ist nicht die Rede von Kinderbischöfen. Aber in der Bibel ist auch keine Rede vom Papst in Rom. Und immerhin steht bei Matthäus Wahrlich ich sage euch: Es sei denn, daß ihr umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. Vielleicht sollte die Kirche die Kinderbischöfe wieder einführen.

Seit wenigen Wochen gibt es zu dem Thema auch ein Buch von einem Amerikaner namens Neil Mackenzie, das man auch bei Google Books lesen kann: ➱The Medieval Boy Bishops. Ich habe den boy bishop in dem Buch The English Year: A Month-By-Month Guide to the Nation's Customs and Festivals, from May-Day to Mischief Night von ➱Steve Roud gefunden, das ich zu Weihnachten geschenkt bekam. Ich habe von Freunden auch schöne Literaturkalender und all viele nützliche Bücher bekommen, damit mir auch im nächsten Jahr die Themen nicht ausgehen. On verra.

Mittwoch, 28. Dezember 2011

Ludolf Bakhuizen


In Emden da kennt man ihn schon. Vor allem, seit Henri Nannen die erste große Ludolf Bakhuizen Ausstellung in sein ➱Museum geholt hat. ➱Bakhuizen wurde zwar heute vor 381 Jahren in Emden geboren, hat aber den größten Teil seines Lebens in Amsterdam verbracht. Wo er erst sein Geld als Zeichenlehrer und Schönschreiber verdiente. Und dann mit der Marinemalerei anfing. Und damit richtig berühmt wurde. Ausgewogene Bilder in milchigen Farben, und irgendwie kalt, tot und leer. Vielleicht hätte Rembrandt auch mal so etwas malen sollen. Kann man viel Geld mit verdienen.

Das Bild da oben zeigt das Kriegsschiff Gouden Leeuw, was holländisch für Goldener Löwe ist. Es gibt verhältnismäßig wenig Löwen in Holland - außer denen auf dem Staatswappen und dem hölzernen auf See. Natürlich kann man aus der Umrisskarte von den Niederlanden einen Löwen zeichnen, was man im 17. Jahrhundert gerne gemacht hat. Die Gouden Leeuw wird nicht etwa von einem Admiral befehligt, sondern von einem Herrn, der die Berufsbezeichnung Raadspensionaris hat. Der Ratspensionär, der die Gouden Leeuw - und ganz Holland - befehligt, heißt Jan de Witt. Er war ein außergewöhnlicher Mann. Unbestechlich, keine Vorteile annehmend. Das ist im 17. Jahrhundert selten. Über unsere Zeiten wollen wir lieber nicht reden. Also zum Beispiel über Wolfgang Schäuble oder Christian Wulff.

Auf diesem Bild übergibt Jan de Witt den Oberbefehl über die holländische Staatsflotte an den Lieutenant-Admiral Michiel de Ruyter. Die beiden Herren sitzen in der kleinen Schaluppe im Schatten des linken Schiffes (der Delftland) im Vordergrund. Die Yacht mit dem von der Sonne beleuchteten Segel hat sie zur Flotte gebracht. Es ist der 18. August 1665. Michiel de Ruyter ist zwar gerade eingesetzt worden, aber noch behält der Ratspensionär das Kommando. Und führt die Flotte aus der flachen Zuidersee heraus. Das ist ein gewagtes Manöver durch das spanjaardsgat, die Stelle heißt heute noch ➱Jan de Witt diep. Der Mann, der die Geschicke Hollands lenkt, will noch einmal zeigen, dass er immer noch eine Flotte lenken kann. Das Bild ist sechs Jahre nach dem Ereignis gemalt, da haben die Holländer den Zweiten Seekrieg gegen die Engländer schon gewonnen. Da hängt man sich so ein patriotisches Bild schon gerne ins Wohnzimmer. Heute hängt es in Henri Nannens Museum in Emden.

Nachdem Ludolf Bakhuizen Jahrzehnte Seestücke in fein abgestufter Tonigkeit gemalt hat, auf denen die wässrige Malerei so wunderbar wässrig ist wie eine wässrige holländische Tomate, möchte er auch mal ein wenig dramatisch sein. Wie auf diesem Bild. Allerdings sind solche Szenen (die auch immer irgendeine allegorische oder emblematische Bedeutung haben sollen) schon lange zuvor gemalt worden. Von Spezialisten dieses Genres wie ➱Andries van Eertvelt oder ➱Matthieu van Plattenberg, die können das wahrscheinlich auch besser. Aber es ist völlig egal, was Bakhuizen malt, man kauft ihm alles ab. Seit dem Jahr, in dem Jan de Witt das Kommando über die Staatsflotte an Michiel de Ruyter übergeben hat, unterhält Bakhuizen ein Studio, in dem beinahe zehn Schüler arbeiten. Die malen schon mal auf Vorrat. Während sonst die Maler in diesem goldenen Zeitalter der niederländischen Malerei auf Bestellung eines Kunden malen, ist die Marinemalerei (neben den Stilleben) die erste Bildgattung, die man immer verkaufen kann. Die Werkstatt signiert ihre Bilder mit LB, während der Meister selbst mit L.BACKH. signiert. Und dann gibt es natürlich noch eine Vielzahl von Kleinmeistern, die im Stile von Bakhuizen malen: es gibt weniger echte Bakhuizens als Bakhuizen zugeschriebene Werke.

Als ich meinen ersten Bakhuizen in der Bremer Kunsthalle sah, dachte ich, man hätte den Vornamen falsch geschrieben. Ludolf hatte ich noch nie gehört. Aber es gibt diesen Namen, diesmal stimmte das Namensschild schon. Die stimmten in der Bremer Kunsthalle unter der Ägide von ➱Günter Busch nicht immer. Vor allem nicht die kleinen goldfarbenen Tafeln, auf denen Rembrandt stand. Die kleinformatige (34,4 x 48,5 cm) Seestück (Niederländische Fregatte mit einem Nachen im Schlepptau) stammt aus dem Spätwerk. Wolken und Wellen stammen aus der Fabrik der Marinemalerei, irgendwie sind es bei ihm immer die gleichen Wolken, die gleichen Wellen. John Ruskin ist in seinem Urteil noch gehässiger: But the Dutch painters, while they attain considerably greater dexterity than the Italian in mere delineation of nautical incident, were by nature precluded from ever becoming aware of these common facts; and having, in reality, never in all their lives seen the sea, but only a shallow mixture of sea-water and sand; and also never in all their lives seen the sky, but only a lower element between them and it, composed of marsh exhalation and fog-bank; they are not to be with too great severity reproached for the dullness of their records of the nautical enterprise of Holland. We only are to be reproached, who, familiar with the Atlantic, are yet ready to accept with faith, as types of sea, the small waves en papillote, and peruke-like puffs of farinaceous foam, which were the delight of Backhuysen and his compeers. Was mir an dem Bremer Bild gefällt ist das Licht auf dem Segel vorn und die schattenhafte Figurengruppe davor. Das kann Bakhuizen schon, mit dem Licht umgehen - wenn ➱Holländer in der Malerei eins können, dann ist es dieses licht en lucht. 

Ich mag Bakhuizen nicht besonders, eigentlich gar nicht. Wenn man seine Bilder mit Willem van de Velde vergleicht, sieht man den Qualitätsunterschied. Von van de Velde konnte Turner lernen, konnte ihn in dem ➱Komplementärbild für den Duke of Bridgewater sogar übertreffen. Von Bakhuizen hätte er nichts lernen können. Außer Wellen zu malen, die wie mit dem Lockenstab gedreht sind, um noch einmal Ruskin zu zitieren. Die malerische Qualität schlägt sich auch auf dem Kunstmarkt nieder, an die Preise von van de Velde (Senior und Junior) kommt Bakhuizen nicht annähernd heran. Aber für den Fall, dass Sie sich für das hier heute interessieren, hätte ich einige Literaturtipps: Für den historischen background gibt es wohl nichts Besseres als C.R. Boxers The Dutch Seaborne Empire (Pelican). Das Katalogbuch Ludolf Backhuysen: Emden 1630 - Amsterdam 1708 (Dt. Kunstverlag 2008) ist noch lieferbar. Den exzellenten Katalog Herren der Meere - Meister der Kunst (Berlin 1996), eine eindrucksvolle Übersicht über die holländische Marinemalerei, kann man antiquarisch noch finden. Und man ganz, ganz viele Kopien von Bakhuizens Bildern bei Amazon bestellen (das dramatische da oben natürlich auch). So etwas macht mir einen Maler immer ein wenig verdächtig.

Dienstag, 27. Dezember 2011

Robert FitzRoy


He heard how it felt to walk in jungle first
from John Edmonstone. His teacher, the freed slave.
Now, in this city on a pink-lit bay, lightning
snaps beneath his feet. He sees the slaves
themselves. Auctions. Blows. Humanity betrayed.
His waistcoat crackles with static. In the marl
of a river crossing, to make sure the ferry-pilot,
a tall black slave, knows where he needs to go,
he explains a little louder - as you do -
and waves his hands. Terrified, the fellow shuts his eyes.
'He thought I was in a passion and meant to strike!
I shall never forget my shame and my surprise
at seeing a great, powerful man afraid
even to ward off a blow
directed, he thought, at his face. He was trained

to degradation lower than the most helpless animal!'
But Captain Fitzroy thinks different.
He's seen a plantation-owner ask his slaves
if they wanted to be free - 'And they said "No!"'
Does saying it to their master's face prove anything?

'We cannot live together if you doubt my word!'
The Captain bangs out of the cabin
and curses him, on deck, all evening.
Will he have to leave the boat? Fitzroy sends apologies.
They never speak of slavery again.

Der junge Mann, der da die Kabine (allerdings nicht dessen Ansichten zur Sklaverei) mit dem Kapitän teilt, ist heute vor 180 Jahre an Bord von Kapitän FitzRoys Schiff gegangen. Um fünf Jahre lang auf engstem Raum mit ihm zusammenzuleben. Er ist ein Theologe und Naturwissenschaftler, er ist nicht offiziell von der Admiralität beauftragt, er ist sozusagen als Privatmann und Gast des Kapitäns an Bord. Robert FitzRoy hatte sich vor der Reise an seinen Freund Admiral Francis Beaufort gewandt, der sich wiederum an an einen Freund in Cambridge wandte. Der leitete die Anfrage des Hydrographen der Admiralität an einen Kollegen, den Mineralogen John Stevens Henslow, weiter. Und der Professor Henslow präsentierte seinen Lieblingsstudenten of promising ability, extremely fond of geology, and ideed all branches of natural history. Der kleinwüchsige Kapitän stört sich nicht daran, dass der junge Mann ihn um Haupteslänge überragt. Aber ihm gefällt die Nase des jungen Mannes nicht - das ist jetzt wörtlich zu nehmen, FitzRoy schwört auf die (Pseudo-) Wissenschaft der Phrenologie - aber er nimmt ihn dann doch mit.

Der zweiundzwanzigjährige Naturwissenschaftler heißt - Sie haben das bestimmt schon erraten - Charles Darwin. Die fünf Jahre an Bord der Beagle werden für die Naturwissenschaft eine Sternstunde sein, für das Verhältnis von Captain Robert FitzRoy und Charles Darwin sind sie eine Zeit der Spannungen. Um es zurückhaltend zu sagen. Dass der strenggläubige Fundamentalist aus einer Adelsfamilie da eine Natter am Busen nährt, jemanden, der durch seine Forschung die Bibel auf den Kopf stellt, das wird ihn für den Rest des Lebens beschäftigen.

Dabei ist er auch ein Mann der Wissenschaften. Er schafft die Grundlagen für das forecasting the weather (den Begriff hat er auch erfunden) und setzt führt das Barometer auf englischen Kriegsschiffen ein. Das ist zwar schon vor Jahrhunderten erfunden, aber es wird praktisch nicht verwendet. Ambrose Bierce spottete in seinem Devil's DictionaryBarometer, n.: An ingenious instrument which indicates what kind of weather we are having. Wenn Sie heute im Fernsehen die Wetterkarte sehen, denken Sie doch mal einen Augenblick an Robert FitzRoy, den Vater der Wettervorhersage. Es hat lange gedauert, bis es ein lesbares Buch über die Verdienste von FitzRoy gab, aber im Jahre 2004 ist es erschienen: FitzRoy: The Remarkable Story of Darwin's Captain and the Invention of the Weather Forecast von John R. Gribbin und Mary Gribbin. Und, durch eine Fügung des Zufalls, erschien im gleichen Jahr auch ein sehr gutes Buch über Francis Beaufort: Defining the Wind: The Beaufort Scale and How a 19th-Century Admiral Turned Science into Poetry von Scott Huler. Empfehlenswerte Literatur zu Charles Darwin habe ich ➱hier ja schon einmal genannt.

Zu den Titeln möchte ich noch einen hinzufügen, nämlich Darwin: A Life in Poems von Ruth Padel. Aus dem Buch stammt auch das Gedicht A Quarrel in Bahia, mit dem ich heute begonnen habe. Die englische Dichterin, die auch für das Fernsehen arbeitet (gibt es so etwas bei uns?), ist geradezu prädestiniert eine Biographie in Gedichtform über Darwin zu schreiben, schließlich ist er ihr Ur-Ur-Großvater. Und wenn sie diesen ➱Link anklicken, liest sie aus dem Band noch etwas vor.

Und für diejenigen, die Fußnoten lieben, es gibt zu A Quarrel in Bahia auch noch eine Fußnote: this poem refers to events in Bahia in March 1832. Slavery was abolished in England in 1772 and slave trading in British colonies in 1806. But this exacerbated trading by other nations and Portugal continued transporting Africans to Brazil. Darwin was horrified. All his family had campaigned for abolition; his grandfather Josiah Wedgwood made for the abolition movement a medallion saying, 'Am I Not a Man and a Brother?' In 1832 Darwin and his sisters were waiting impatiently for the British government to emancipate slaves in British colonies: the law was passed in August that year. Fitzroy and Darwin shared the captain's living quarters. Their worst quarrel was over slavery. Fitzroy later changed his views.

Montag, 26. Dezember 2011

Henry Miller


Genau so haben wir uns das immer vorgestellt: der dirty old man der amerikanischen Literatur spielt Ping-Pong mit einer nackten Frau. Weil er ihr nichts zu sagen hat? Schwer vorstellbar, in unserer Vorstellung gehören Henry Miller und nackte Frauen untrennbar zusammen. Aber er hat einmal gesagt: I keep the Ping-Pong table handy for people I don’t want to talk to. You know, it’s simple. I just play Ping-Pong with them. Er hat sein ganzes Leben lang Tischtennis gespielt, 1971 schrieb er: This is my seventieth year of ping-pong playing. I started at the age of 10 on the dining room table. I take on players from all over the world. I play a steady, defensive Zen-like game. The importance of my recreation lies in preventing intellectual discussions. No matter how important or glamorous an opponent may be, I never let him or her distract me. Das ist es: No matter how important or glamorous an opponent may be, I never let him or her distract me. Denken Sie an diesen Satz, falls Sie mal mit nackten Frauen, die so aussehen wie die auf dem Photo, Ping-Pong spielen sollten. Es kann nun natürlich auch nicht verwundern, dass die Zeitschrift der Henry Miller Library in Big Sur ➱Ping-Pong heißt.

Henry Miller, Schriftsteller, Maler und Amateurpianist, wurde heute vor 120 Jahren geboren. Einer der ersten, der seine literarische Größe erkannte, war (neben seinem Freund Lawrence Durrell) der Engländer Eric Arthur Blair, den wir als George Orwell kennen. Er schrieb in seinem langen Essay ➱Inside the WhaleHere in my opinion is the only imaginative prose-writer of the slightest value who has appeared among the English-speaking races for some years past. Even if that is objected to as an overstatement, it will probably be admitted that Miller is a writer out of the ordinary, worth more than a single glance; and after all, he is a completely negative, unconstructive, amoral writer, a mere Jonah, a passive acceptor of evil, a sort of Whitman among the corpses.

Henry Miller hat lange in Paris gelebt, M’sieu Millaire ist beinahe ein Franzose geworden. Aber sein Paris ist ein anderes Paris als das von Ernest Hemingway. Von dem hat er sowieso nicht so viel gehalten: Hemingway in my mind was not the great writer they make him out to be. He was a craftsman. But he wasn’t a craftsman as good as Somerset Maugham. Aber Hemingways erster Roman The Sun Also Rises hatte ihn dazu bewegt, nach Frankreich zu gehen. Er hatte das Glück, dass der Verleger Jack Kahane (der sich bemüht hatte, die amerikanischen Rechte für Joyces Ulysses zu bekommen), das Manuskript von Tropic of Cancer in die Hände bekam: I began it after luncheon in the shadow of the great copper beech tree [...] and the twilight was deepening into night when I finished it. "At last!" I murmured to myself. I had read the most terrible, the most sordid, the most magnificent manuscript that had ever fallen into my hands; nothing I had yet received was comparable to it for the splendor of its writing, the fathomless depth of its despair, the savour of its portraiture, the boisterousness of its humour. Walking into the house I was exalted by the triumphant sensation of all explorers who have at last fallen upon the object of their years of search. I had in my hands a work of genius and it had been offered to me for publication.

Neben Kahane (und später George Orwell) ist es Ezra Pound, der die Bedeutung des Romans erkennt: At last, an unprintable book that’s readable. Er schickt Henry Miller sofort eine Postkarte, mit der er anbietet, das Buch zu rezensieren Very able / have just writ 2 post cards to 2 edtrs to see if they will rise to my offer to review it / useful (I mean to the seereeyus critic) as means of allocating Joyce's kinks, and W. Lewis' ill humor. Er hätte auch noch Louis-Ferdinand Céline nennen können, denn dessen Voyage au bout de la nuit hat sicher ein wenig auf Millers Stil abgefärbt. Sätze aus Tropic of Cancer wie This is not a book. This is libel, slander, defamation of character. This is not a book, in the ordinary sense of the word. No, this is a prolonged insult, a gob of spit in the face of Art, a kick in the pants to God, Man, Destiny, Time, Love, Beauty ... what you will hätten auch von Céline stammen können.

Heute ist der literarische Rang von Henry Miller unbestritten. Der Rowohlt Verlag hat viel Geld für Rechtsanwälte ausgegeben. Aber wahrscheinlich waren die ➱Prozesse auch eine gute Reklame. Vielleicht war er bei uns sogar eher akzepziert (er hatte ja auch deutsche Wurzeln) als in seinem puritanischen Heimatland. Amerika hat lange gebraucht bis es sich an die pan-erotische Schreibekstase von Henry Miller (so der Spiegel) gewöhnt hat. In die Library of America ist er immer noch nicht aufgenommen (er ist aber in den Bänden Americans in Paris: A Literary Anthology und Writing New York: A Literary Anthology vertreten). Wenn Sie Henry Millers Leben in Kurzfassung haben wollen, sollte Sie sich diese schöne ➱Seite ansehen.

Sonntag, 25. Dezember 2011

Robert Walser


Der Schweizer Schriftsteller und Mäzen Carl Seelig ist vierzig Jahre alt, als er beginnt, den von ihm bewunderten Schriftsteller Robert Walser in der Heilanstalt zu besuchen und mit ihm durch die Schweiz zu wandern. Seelig wird nicht nur mit Walser wandern, er wird auch energisch für Neuauflagen des Walserschen Werkes eintreten und wird Walsers Vormund werden. Er hat ein Jahr nach Walsers Tod ein Buch über diese Wanderungen geschrieben. Wanderungen mit Robert Walser heißt es. Wir werden nicht hinter alle Geheimnisse von Robert Walser kommen, wenn wir dieses Buch lesen. Aber wir kommen Walser näher. Diesem Insassen einer Heil- und Pflegeanstalt, der so weise ist. Und der die Heilanstalt Herisau als einen Zufluchtsort von der Welt empfand. Dort faltete er Papiersäcke und füllte in seiner Freizeit mit winzig kleinen Buchstaben Seiten über Seiten. Hölderlin hielt es für angezeigt, d.h. für taktvoll im 40. Lebensjahr seinen gesunden Menschenverstand einzubüssen, wodurch er zahlreichen Menschen Anlass gab, ihn aufs Unterhaltendste, Angenehmste zu beklagen. Rührung ist ja etwas überaus Bekömmliches, mithin Willkommenes. Über einen grossen und zugleich unglücklichen Menschen weinen, wie schön ist das! Wieviel zarten Gesprächsstoff liefern solche unalltägliche Existenzen hat Walser 1928 in seinem Geburtstag-Prosastück geschrieben.

Das Buch ist das Zeugnis einer Männerfreundschaft, aber es ist auch das Zeugnis eines großen Erzählertalents. Carl Seelig erweist sich dem von ihm verehrten Dichter als kongenialer Partner. Und die Spaziergänge sind auch Wanderungen in das Ich von Robert Walser. Der den Spaziergang schon früh für sich als wichtiges Element des literarischen Arbeitens erkannt hatte: Ich jagte wie der Jäger hinter dem Wild her den poetischen Motiven nach. Am fruchtbarsten erwiesen sich Promenaden durch Straßen und lange Spaziergänge in die Umgebung der Stadt, deren gedanklichen Ertrag ich dann zuhause aufs Papier brachte.

Am zweiten Weihnachtstag 1956, heute vor 55 Jahren, ist Robert Walser bei einem Spaziergang durch einen Herzanfall gestorben, man fand ihn am nächsten Tag tot im Schnee liegend. Es schneit, schneit, was vom Himmel herunter mag, und es mag Erkleckliches herunter: Das hört nicht auf, hat nicht Anfang und nicht Ende. Einen Himmel gibt es nicht mehr, alles ist ein graues weißes Schneien. Eine Luft gibt es auch nicht mehr; sie ist mit Schnee und wieder mit Schnee zugedeckt. (...) Alle Tannenäste sind voll Schnee, beugen sich unter der dicken weißen Last tief zur Erde herab, versperren den Weg. Den Weg? Als wenn es noch einen Weg gäbe! Man geht so, und indem man geht, hofft man, daß man auf dem rechten Weg sei..hat er 1917 geschrieben. In dieser Prosaskizze findet sich auch der Gedanke über den Tod im Schnee, er findet sich auch zwei Jahre später in Eine WeihnachtsgeschichteWie soll ich jetzt zu mir heimzugehen wagen, wo nichts Trauliches ist? Wer sich einschneien ließe und im Schnee begraben läge und sanft verendete...

Ein halbes Jahrhundert vor seinem Tod finden wir in seinem ersten Roman Die Geschwister Tanner die Beschreibung eines toten Dichters im Schnee: Die Tannen waren so voll mit Schnee beladen, daß sie ihre starken Äste herrlich zur Erde niederhängen ließen. Ungefähr in der Mitte des Aufstieges sah Simon plötzlich einen jungen Mann mitten im Wege im Schnee daliegen. Es war noch so viel letzte Helle im Wald, daß er den schlafenden Mann ins Auge fassen konnte. Was veranlaßte diesen Menschen, sich hier in der bitteren Kälte und an einer so einsamen Stelle im Tannenwald niederzulegen? Des Mannes breiter Hut lag quer über dessen Gesicht, wie es oft im heißen, schattenlosen Sommer vorkommt, daß ein Liegender und Ausruhender sich auf diese Weise gegen die Sonnenstrahlen schützt, um einschlafen zu können. Das hatte etwas Unheimliches an sich, dieses Gesichtverdecken mitten im Winter, zu einer Zeit, wo es wahrhaftig keine Lust konnte genannt werden, es sich hier im Schnee bequem zu machen. Der Mann lag unbeweglich und schon fing es an, immer dunkler im Walde zu werden. Simon studierte des Mannes Beine, Schuhe, Kleider. Die Kleider waren hellgelb, es war ein Sommeranzug, ein ganz dünner und fadenscheiniger. Simon zog den Hut von des Mannes Gesicht, es war erstarrt und sah schrecklich aus, und jetzt erkannte er auf einmal das Gesicht, es war Sebastians Gesicht, kein Zweifel, das waren Sebastians Züge, das war sein Mund, sein Bart, seine etwas breite, gedrückte Nase, seine Augenbildungen, seine Stirn und seine Haare. Und er war hier erfroren, ohne Zweifel, und er mußte schon etliche Zeit liegen, hier am Wege. 

Der Schnee zeigte hier keine Fußspuren, es war also denkbar, daß er schon lange liege. Gesicht und Hände waren längst erstarrt, und die Kleider klebten an dem erfrorenen Leib. Sebastian mochte hier, durch große, nicht mehr zu ertragende Müdigkeit, hingesunken sein. Allzukräftig war er nie gewesen. Er ging immer in gebückter Haltung, als ertrüge er die aufrechte nicht, als täte es ihm weh, seinen Rücken und seinen Kopf stramm zu halten. Wenn man ihn ansah, empfand man, daß er dem Leben und seinen kalten Anforderungen nicht gewachsen war. Simon schnitt Tannenäste von einer Tanne und bedeckte den Körper damit, doch zog er vorher noch ein kleines dünnes Heft aus der Rocktasche des Toten, das dort hervorgeschaut hatte. Es schien Gedichte zu enthalten, Simon unterschied die Schriftzeichen nicht mehr. Es war mittlerweile völlige Nacht geworden. Die Sterne funkelten durch die Lücken der Tannen und der Mond schaute in einem schmalen, zierlichen Reifen der Szene zu. »Ich habe keine Zeit,« sagte Simon still vor sich, »ich muß mich beeilen, daß ich die nächste Stadt noch erreiche, ich würde sonst keine Bangigkeit verspüren, noch etwas längere Zeit bei diesem armen Kerl von Toten zu verweilen, der ein Dichter und Schwärmer war. Wie nobel er sich sein Grab ausgesucht hat. Mitten unter herrlichen, grünen, mit Schnee bedeckten Tannen liegt er. Ich will niemanden davon Anzeige erstatten. Die Natur sieht herab auf ihren Toten, die Sterne singen leise ihm zu Häupten, und die Nachtvögel schnarren, das ist die beste Musik für einen, der kein Gehör und kein Gefühl mehr hat. Deine Gedichte, lieber Sebastian, will ich in die Redaktion tragen, wo man sie vielleicht lesen und dem Abdruck übergeben wird, damit von dir wenigstens dein armer, funkelnder, schönklingender Name der Welt erhalten bleibt. Eine prachtvolle Ruhe, dieses Liegen und Erstarren unter den Tannenästen, im Schnee. Das ist das beste, was du tun konntest. Die Menschen sind immer geneigt, derartigen Käuzen, wie du einer warst, weh zu tun und ihre Schmerzen zu verlachen. Grüße die lieben, stillen Toten unter der Erde und brenne nicht zu sehr in den ewigen Flammen des Nichtmehrseins. Du bist anderswo. Du bist sicher an einem herrlichen Ort, du bist jetzt ein reicher Kerl, und es verlohnt sich, die Gedichte eines reichen, vornehmen Kerls herauszugeben. Lebe wohl. Wenn ich Blumen hätte, ich schüttete sie über dich aus. Für einen Dichter hat man nie Blumen genug. Du hattest zu wenig. Du erwartetest welche, aber du hörtest sie nicht über deinem Nacken schwirren, und sie fielen nicht auf dich nieder, wie du geträumt hast. Siehst du, ich träume auch viel, und viele, viele Menschen, denen man es nicht zutrauen würde, träumen, aber du glaubtest, ein Recht zu haben auf das Träumen, während wir anderen nur träumen, wenn wir uns recht elend vorkommen, aber froh sind, es einstellen zu können. Du verachtetest deine Mitmenschen, Sebastian! Aber, Lieber, das darf sich nur ein Starker erlauben, und du warst schwach! Doch ich will nicht dein heiliges Grab gefunden haben, um es zu beschmähen. Was weiß ich, was du gelitten hast. Dein Tod unter den offenen Sternen ist schön, ich werde das lange nicht vergessen können. Ich will Hedwig dein Grab unter diesen edlen Tannen schildern, und ich werde sie damit weinen machen. Die Menschen werden wenigstens noch deine Gedichte lesen, wenn sie mit dir doch einmal nichts anzufangen wußten.« – Simon schritt von dem Toten weg, warf einen letzten Blick auf das Häufchen Tannenäste, unter denen jetzt der Dichter schlief, wandte sich mit einer schnellen Drehung seines schmiegsamen Körpers von dem Bilde ab und lief, was er konnte, im Schnee weiter, den Berg hinauf.

Ist es eine Vorahnung? Also, ein wenig unheimlich ist das schon mit dem Tod im Schnee. Die Bilder im Text sind von dem englischen Künstler Billy Childish, der stark von Walser beeinflusst worden ist. Zum Thema Robert Walser und Schnee gibt es ➱hier noch einen schönen Post, der Spuren im Schnee heißt.

Samstag, 24. Dezember 2011

La Corona


Ein Jahr ist vergangen, seit ich den Post Heiligabend geschrieben habe und meine Leser mit Alt- und Mittelenglisch traktiert habe. Aber die waren das wohl schon gewohnt, dass ich sie das ganze Jahr mit englischen Texten traktierte. Ich habe heute für das Weihnachtsfest ein Sonett von John Donne gewählt, das sehr außergewöhnlich ist; merkte dann aber schnell, dass ich damit in Schwierigkeiten gerate. Das passiert einem bei John Donne immer wieder. Das Gedicht stammt aus einem Zyklus von sieben zusammenhängenden Gedichten, die den Titel La Corona haben.

Immensity cloistered in thy dear womb,
Now leaves His well-belov'd imprisonment,
There He hath made Himself to His intent
Weak enough, now into the world to come;
But O, for thee, for Him, hath the inn no room?
Yet lay Him in this stall, and from the Orient,
Stars and wise men will travel to prevent
The effect of Herod's jealous general doom.
Seest thou, my soul, with thy faith's eyes, how He
Which fills all place, yet none holds Him, doth lie?
Was not His pity towards thee wondrous high,
That would have need to be pitied by thee?
Kiss Him, and with Him into Egypt go,
With His kind mother, who partakes thy woe.

Eigentlich, so sagt Helen Gardner, sind die sieben Sonette ein einziges Gedicht. Sie sind miteinander verknüpft, weil sie die Geschichte Jesu Christi erzählen - und weil die jeweils erste Zeile die letzte Zeile des vorhergehenden Gedicht aufnimmt. Die corona des Titels wird sofort in der ersten Zeile des ersten Sonetts aufgenommen: Deign at my hands this crown of prayer and praise. Das ist schon ein geistvolles Spiel. Und natürlich endet das dem immensity, cloister'd in thy dear womb vorangehende Gedicht auf:

Whom thou conceivest, conceived ; yea, thou art now
Thy Maker's maker, and thy Father's mother,
Thou hast light in dark, and shutt'st in little room
Immensity, cloister'd in thy dear womb.


La Corona gehört zu den frühesten religiösen Gedichten von John Donne, die Holy Sonnets werden wenige Zeit später folgen. Er schreibt jetzt religiöse Lyrik, er übt sich ein für seinen neuen Beruf. Wir kennen ihn sonst ja eher als Verfasser von Liebeslyrik. So gewagten Liebesgedichten wie die Elegy XX (To His Mistress Going to Bed). Für den Verfasser von Liebesgedichten bedeutet dear womb auch etwas anderes als es hier bedeutet. Aber er hat das Bild womb - prison nicht vergessen, er wird es zehn Jahre später noch einmal in einer Predigt gebrauchen: We are all conceived in close Prison; in our Mothers wombs, we are close Prisoners all; when we are borne, we are borne but to the liberty of the house; Prisoners still, though within larger walls; and then all our life is but a going out to the place of Execution, to death.

Es ist eine gefährliche Sache für John Donne, religiöse Lyrik zu schreiben. Katholiken sind unter James I nicht en vogue, auf jeden Fall nicht für Hof- und Staatsämter. Wann immer er auf Drängen des Königs dem katholischen Glauben abgeschworen hat, im Jahre 1615 wird er zum anglikanischen Priester geweiht. Und wird gleich Royal Chaplain. Sechs Jahre später ist er Dean der St. Paul's Cathedral. Man muss sehr flexibel sein, in diesen Jahren. Wer hat da nicht in England seit den Tagen von Henry VIII seinen Kopf verloren? Die Bildlichkeit von La Corona ist, wie Helen Gardner gezeigt hat, noch von dem katholischen Glauben geprägt, mit dem John Donne aufgewachsen ist. Dem Dichter gelingt der Spagat zwischen Religiösem und Weltlichem, zwischen Rom und anglikanischer Staatskirche. Seine religiöse Lyrik benutzt die gleiche Symbolik wie seine Liebeslyrik. Und vice versa. Und dass La Corona eigentlich eine katholische Madonnenverehrung ist, das merken nur Dame Helen und John Carey (dessen Buch John Donne: Life, Mind and Art die beste Einführung in das Werk von John Donne ist). Und warum auch nicht? Was sollen die künstlichen Grenzen zwischen den Religionen?

Ich möchte all meinen Lesern ein frohes Weihnachtsfest wünschen. Meine Leser werden ja immer zahlreicher. Im Januar 2010, als ich die Welt der blogosphere betrat, waren es nur einige hundert, im Dezember vor einem Jahr wurde dieser Blog 18.000 Mal angeklickt. Falls Sie durch Zufall auf diese Seite gelangt sind und Weihnachten noch nichts vorhaben: Lesen Sie doch einfach mal alles in diesem Blog, vom Januar 2010 an!Und die Bilder heute sind für all die kleingläubigen Leser, die gestern gemeckert haben, man könne den knienden Ochsen auf dem Bild von Honthorst nicht erkennen. Das hier auf den Bildern von Gerard David, Fra Angelico, Gentile da Fabriano und Pieter Aertsen, das sind alles einwandfrei kniende Ochsen.


Freitag, 23. Dezember 2011

Stilleben


Markt und Straßen stehn verlassen,
Still erleuchtet jedes Haus,
Sinnend geh ich durch die Gassen,
Alles sieht so festlich aus.

An den Fenstern haben Frauen
Buntes Spielzeug fromm geschmückt,
Tausend Kindlein stehn und schauen,
Sind so wunderstill beglückt.

Und ich wandre aus den Mauern
Bis hinaus ins freie Feld,
Hehres Glänzen, heil'ges Schauern!
Wie so weit und still die Welt!

Sterne hoch die Kreise schlingen,
Aus des Schnees Einsamkeit
Steigt's wie wunderbares Singen –
O du gnadenreiche Zeit!


Auf jeden Kitschpoeten des 19. Jahrhunderts würde man tippen. Aber Eichendorff? Ja, er ist's, im Jahre 1837. Zwei Jahre später malt Spitzweg seinen Armen Poeten. Die Romantik ist zu Ende, wir sind im Biedermeier. Jetzt sind Hausschuhe und Schlafmütze, Kitsch und Melodrama angesagt. Mir fällt zu dem Gedicht Weihnachten nichts anderes ein, als mal eben Eckhard Henscheid (dessen Eichendorff Buch Aus der Heimat hinter den Blitzen rot ich hervorragend finde) zu zitieren: Man merkt richtiggehend, wie ihm hier außer der Lerche auch Waldhorn, Waldesrauschen und Waldeinsamkeit fehlen. Eichendorffs lyrische Witterung tat gut daran, im Fortgang wieder schneelose Sterne und der Quellen Einsamkeit zu präferieren und dieses weihnachtliche Genre mit seinen offenbar stark ins Erbauliche und Frömmlerische zielenden Naturvalenzen zu lassen - nicht nur der Gegenstand, auch die Form seiner Lyrik ist nun einmal die von Wärme und Weichheit und dito Waldhorn.

Genug von der sentimentalen deutschen Innerlichkeit, lassen wir nach dem frömmelnden Eichendorff mit Thomas Hardy noch einen religiösen Zweifler zu Worte kommen. Sein Gedicht The Oxen, im zweiten Jahr des Ersten Weltkriegs geschrieben, erschien 1915 an prominenter Stelle. Nämlich in der Londoner Times vom 24. Dezember 1915. Den Bezug zum Krieg kann man nur aus der Zeile in these years herauslesen. Dass nicht nur die Weisen aus dem Morgenland in der Krippe knien, sondern auch die Ochsen, hat sich Thomas Hardy nicht ausgedacht. Es ist ein alter Volksglaube, eine Legende. Sie hat sich - ebenso wie der Glaube, dass in der Weihnachtsnacht die Tiere zu reden beginnen - im Südwestens Englands lange gehalten. Im Süden Frankreichs scheint es sie auch gegeben zu haben, und natürlich ist die Geschichte im Aarne-Thompson Index verzeichnet.

Der junge Thomas Hardy hatte die Geschichte noch erzählt bekommen, vielleicht hat er damals sogar daran geglaubt: Nor did it occur to one of us there To doubt they were kneeling then. Wir geben im Laufe des Lebens vieles auf, an das wir in der Kindheit geglaubt haben. Und derjenige, der im Gedicht spricht (und wir brauchen nicht daran zu zweifeln, dass es Thomas Hardy ist), scheint ein Bedauern über den Verlust des Kinderglaubens zu empfinden.

Die Sache mit den knienden Ochsen ist im 19. Jahrhundert noch sehr lebendig. Charles Dickens erwähnt sie in der Weihnachtsnummer 1851 in seiner Zeitschrift Household Words. Und der Reverend Francis Kilvert, der ebenso wie Hardy alles vom ländlichen Leben aufzeichnet, notierte in seinem berühmten Tagebuch: Speaking of the blowing of the Holy horn and the kneeling and weeping of the oxen on old Christmas Eve (to-night) Priscilla said, 1 have known old James Meredith fourty years and I have never known him far from the truth, and I said to him one day, "James, tell me the truth, did you ever see the oxen kneel on old Christmas Eve at the Weston?" And he said, "No, I never saw them kneel at the Western but when I was at Hinton at Staunton-on-Wye I saw them. I was watching them on old Christmas Eve and at twelve  o'clock the oxen that were standing knelt down upon their knees and those that were lying down rose up on their knees and there they stayed kneeling and moaning, the tears running down their faces." Auch Rudyard Kipling spielt in seinem Gedicht A Carol (wenige Jahre von Hardys The Oxen) ganz selbstverständlich den knienden Ochsen an: Our Lord Who did the Ox command To kneel to Judah's King...

Aber nun Thomas Hardys Gedicht The Oxen:

Christmas Eve, and twelve of the clock.
"Now they are all on their knees,"
An elder said as we sat in a flock
By the embers in hearthside ease.

We pictured the meek mild creatures where
They dwelt in their strawy pen.
Nor did it occur to one of us there
To doubt they were kneeling then.

So fair a fancy few would weave
In these years! Yet, I feel,
If someone said on Christmas Eve
"Come; see the oxen kneel

"In the lonely barton by yonder comb
Our childhood used to know,"
I should go with him in the gloom,
Hoping it might be so.

Der Ochse auf dem Bild von Rogier van der Weyden (oben) kniet nicht, aber der bei Gerard van Honthorst (obgleich er ein wenig abgeschnitten ist), der ist einwandfrei auf den Knien.











Donnerstag, 22. Dezember 2011

Madeleine Peyroux


Vor einigen Jahren bekam ich von Gabi eine CD zu Weihnachten, die Half the Perfect World hieß und von einer Sängerin namens Madeleine Peyroux war. Ich hatte noch nie etwas von Madeleine Peyroux gehört und besaß auch keinen Computer, um blitzschnell alles über die Sängerin herauszufinden. Inzwischen kann ich das natürlich. Ich habe gelesen, dass man ihre Stimme mit Billie Holiday vergleicht. Fand ich etwas weit hergeholt. Für mich klang es etwas nach dem amerikanischen Süden und Frankreich. Ein bisschen nach Country, ein bisschen nach Chanson, ein bisschen nach Jazz. Damit lag ich gar nicht so falsch, denn Madeleine Peyroux kommt aus Georgia, und sie ist auch länger in Paris gewesen. Inzwischen ist sie in Konzertsälen zuhause, sie hat aber auch lange auf der Straße gesungen. Sie verweigert sich dem Showgeschäft, sie ist keine Madonna oder Lady Gaga.

Sie hat ihre ganz eigene Stimme, und das Magazin Time hat am Anfang ihrer Karriere the most exciting, involving vocal performance by a new singer this year über sie gesagt. Und die Los Angeles Times verpasste ihr das Etikett postmodernist coolness. Das klebte ihre Plattenfirma Rounder Records dann auch auf ihr viertes Album, das Bare Bones hieß. Es war das erste, auf dem sie eigene Songs sang und keine Coverversionen. Obgleich ihre Coverversionen wie ihre eigenen Songs klingen.

Inzwischen habe ich eine Handvoll CDs von ihr, aber Half the Perfect World gefällt mir immer noch am besten. Weil da River drauf ist. Ist natürlich nicht von ihr, das ist von Joni Mitchell. Ein Song, der von hunderten von Interpreten gesungen wurde. Auch von denen, die nicht aus Kanada kommen und die nicht wissen, wie es ist, wenn man auf einem Fluss Schlittschuh läuft. Natürlich hat auch Hayley Westenra das Lied nicht ausgelassen. Madeleine Peyroux hat sich für die Aufnahme von River niemand geringeren als K.D. Lang geholt - die sich aber nicht in den Vordergrund drängt. Sie können das ➱hier hören. Sie können natürlich auch Joni Mitchell auf ➱YouTube hören.

Der Text von Joni Mitchell geht auch ohne Musik, ist auch schon ein kleiner Klassiker geworden, den man zu Weihnachten besser ertragen kann als Last Christmas von Wham. Und falls Sie noch Weihnachtsgeschenke suchen, Madeleine Peyroux ist sicher ein guter Tipp.

It's coming on Christmas
They're cutting down trees
They're putting up reindeer
And singing songs of joy and peace
I wish I had a river
I could skate away on
But it don't snow here
It stays pretty green
I'm going to make a lot of money
Then I'm going to quit this crazy scene
I wish I had a river
I could skate away on
I wish I had a river so long
I would teach my feet to fly

I wish I had a river
I could skate away on
I made my baby cry
He tried hard to help me
You know, he put me at ease
And he loved me so naughty
Made me weak in the knees
I wish I had a river
I could skate away on
I'm so hard to handle
I'm selfish and I'm sad
Now I've gone and lost the best baby
That I ever had
Oh I wish I had a river
I could skate away on
I wish I had a river so long
I would teach my feet to fly

Oh I wish I had a river
I could skate away on
I made my baby say goodbye

It's coming on Christmas
They're cutting down trees
They're putting up reindeer
And singing songs of joy and peace
I wish I had a river
I could skate away on

Mittwoch, 21. Dezember 2011

Hooker


Es kann in diesen Tagen nicht schaden, mal wieder Gedichte zu lesen. So als Gegengift zu Sprüchen wie Weihnachten wird unterm Baum entschieden und solchen weepies wie Love Actually oder dem kleinen Lord im TV. Da vermisse ich noch Tödliche Weihnachten, aber ich bin sicher, dass der Film noch kommt. Meine Top Hits von Weihnachtsgedichten, T.S. Eliots Journey of the Magi und Andrew Hudgins' The Adoration of the Magi habe ich schon im letzten Jahr präsentiert. Sie können sie natürlich auch jetzt noch einmal ➱hier lesen. Heute gibt es hier etwas Unbekannteres, das Gedicht Christmas Eve Under Hooker's Statue aus der Sammlung Lord Weary's Castle von Robert Lowell:

Tonight a blackout. Twenty years ago
I hung my stocking on the tree, and hell's
Serpent entwined the apple in the toe
To sting the child with knowledge. Hooker's heels
Kicking at nothing in the shifting snow,
A cannon and a cairn of cannon balls
Rusting before the blackened Statehouse, know
How the long horn of plenty broke like glass
In Hooker's gauntlets. Once I came from Mass;

Now storm-clouds shelter Christmas, once again
Mars meets his fruitless star with open arms,
His heavy saber flashes with the rime,
The war-god's bronzed and empty forehead forms
Anonymous machinery from raw men;
The cannon on the Common cannot stun
The blundering butcher as he rides on Time—
The barrel clinks with holly. I am cold:
I ask for bread, my father gives me mould;

His stocking is full of stones. Santa in red
Is crowned with wizened berries. Man of war,
Where is the summer's garden? In its bed
The ancient speckled serpent will appear,
And black-eyed susan with her frizzled head.
When Chancellorsville mowed down the volunteer,
"All wars are boyish," Herman Melville said;
But we are old, our fields are running wild:
Till Christ again turn wanderer and child.

Das Gedicht ist während des Zweiten Weltkriegs geschrieben worden (und war in verschiedenen Versionen in den Jahren 1943 und 1944 schon veröffentlicht worden). Aus dem Krieg erklärt sich auch die Verdunklung (Tonight a blackout) und das blackened Statehouse - man hatte die goldene Kuppel des Massachusetts State House schwarz übermalt. Weshalb man sich in Boston vor Luftangriffen fürchtet, weiß ich nicht. Die Japaner oder die Deutschen werden wohl kaum bis Neuengland kommen.

Mit dem Denkmal des Generals Hooker vor dem Massachusetts State House erinnert Lowell an einen der unfähigsten Generale des Bürgerkrieg, diesen Fighting Joe Hooker, der die Schlacht von ➱Chancellorsville verloren hat. Aber auch er hat ein Denkmal bekommen. Es wird immer wieder gesagt, dass das Wort hooker (für Nutte) von Joe Hooker kommt - dessen Hauptquartier voller hookers war - aber diese amüsante Etymologie stimmt wohl nicht. 

Es ist die Aufgabe des Dichters, in Zeiten des Krieges seine Stimme zu erheben. Auf jeden Fall tut Robert Lowell das. Immer wieder. Aber es wird immer wieder Kriege geben, was ist nur aus den Worten Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen (Lukas 2,14) geworden? Weihnachten 1943 ist Robert Lowell kein freier Mann mehr. Man hat ihn zuerst in eine Irrenanstalt dann ins Gefängnis gesperrt, weil er dem Präsidenten diesen ➱Brief geschrieben hat. Und den Kriegsdienst (was für ein Wort!) verweigert hat. "All wars are boyish," Herman Melville said. Da kann man nur die Hoffnung auf die letzte Zeile des Gedichts, Till Christ again turn wanderer and child, setzen.


Ich habe auf YouTube eine etwas schräge ➱Inszenierung dieses Gedichts gefunden. Wenn man mehr als die Wörter auf dem Papier braucht, dann ist man bei dieser Mickeymausisierung der Literatur richtig aufgehoben.

Dienstag, 20. Dezember 2011

Weihnachtsvorbereitungen


In seinem Roman The Pioneers (dem ersten Lederstrumpf Roman), der im Jahre 1823 erschien, versetzt uns James Fenimoore Cooper drei Jahrzehnte in die 1790er Jahre zurück. Es ist die Weihnachtszeit, und es liegt sehr viel Schnee im Staat New York. Da oben im Norden, wo Templeton liegt, welches das Cooperstown seiner Jugend ist - dieser Roman hat immer wieder autobiographische Züge: As this work professes, in its title-page, to be a descriptive tale, they who will take the trouble to read it may be glad to know how much of its contents is literal fact, and how much is intended to represent a general picture. The author is very sensible that, had he confined himself to the latter, always the most effective, as it is the most valuable, mode of conveying knowledge of this nature, he would have made a far better book. But in commencing to describe scenes, and perhaps he may add characters, that were so familiar to his own youth, there was a constant temptation to delineate that which he had known, rather than that which he might have imagined. This rigid adhesion to truth, an indispensable requisite in history and travels, destroys the charm of fiction; for all that is necessary to be conveyed to the mind by the latter had better be done by delineations of principles, and of characters in their classes, than by a too fastidious attention to originals. Der Autor schwankt zwischen Autobiographie und Roman, aber sind nicht beinahe alle Romane außer den romances autobiographisch?

Cooper ist in dem Vorwort (zur zweiten Auflage), aus dem das Zitat oben stammt, sehr ehrlich gegenüber dem Leser. In order to prevent mistake, it may be well to say that the incidents of this tale are purely a fiction, schreibt er dort. Und er beklagt in einer Fußnote, dass die Natur, so wie er sie als Kind erlebte, längst verschwunden ist: Though forests still crown the mountains of Otsego, the bear, the wolf, and the panther are nearly strangers to them. Even the innocent deer is rarely seen bounding beneath their arches; for the rifle and the activity of the settlers have driven them to other haunts. To this change (which in some particulars is melancholy to one who knew the country in its infancy), it may be added that the Otsego is beginning to be a niggard of its treasures. Diese Klage über die Vernichtung von God's own paradise durch den Menschen finden wir in vielen seiner Romane, dies ist der erste Ökoroman der amerikanischen Literatur, lange vor Edward Abbey, dem Thoreau of the American West.

Wenn dieser Roman auch der erste Lederstrumpf-Roman ist, den Cooper schreibt - er hat so gar nichts von solch spannenden Romanen wie The Deerslayer, The Pathfinder oder The Last of the Mohicans an sich. In der chronologischen Entwicklung der Lederstrumpf-Romane ist es auch der vorletzte Roman, Natty Bumppo und Chingachgook sind hier schon im Rentenalter - und der letzte der Mohikaner stirbt auch noch in dem Roman. Dieser Roman, der - so der Untertitel (und Cooper im Vorwort) - ein descriptive tale ist, hat viel Zeit, um alles detailgetreu wie ein holländisches Genrebild zu beschreiben. Und damit komme ich mal eben auf meinen Satz Es ist die Weihnachtszeit, und es liegt sehr viel Schnee im Staat New York zurück. Es geht auf Weihnachten zu, und dieser Post soll doch auch etwas davon enthalten.

Gleich zu Beginn des Romans kommt es im Schnee beinahe zu einem schrecklichen Unfall:

Richard, by a sudden application of the whip, succeeded in forcing the leaders into the snow-bank that covered the quarry; but the instant that the impatient animals suffered by the crust, through which they broke at each step, they positively refused to move an inch farther in that direction. On the contrary, finding that the cries and blows of their driver were redoubled at this juncture, the leaders backed upon the pole-horses, who in their turn backed the sleigh. Only a single log lay above the pile which upheld the road on the side toward the valley, and this was now buried in the snow. The sleigh was easily forced across so slight an impediment, and before Richard became conscious of his danger one-half of the vehicle was projected over a precipice, which fell perpendicularly more than a hundred feet. The Frenchman, who by his position had a full view of their threatened flight, instinctively threw his body as far forward as possible, and cried
“Oh! mon cher Monsieur Deeck! mon Dieu! que faites vous!”
“Donner und blitzen, Richart!” exclaimed the veteran German, looking over the side of the sleigh with unusual emotion, “put you will preak ter sleigh and kilt ter horses!”
“Good Mr. Jones,” said the clergyman, “be prudent, good sir—be careful.”


Der Kutscher Richard Jones (der kein wirklicher Kutscher sondern der Cousin des Richters ist) bringt die Weihnachtsgäste von Richter Marmaduke Temple (ein kaum verhülltes Portrait von Coopers Vater) in Lebensgefahr. Die in dieser Situation sehr unterschiedlich reagieren. Auch sprachlich. Es ist interessant, wie Cooper den Figuren unterschiedliche sprachliche Ebenen zuordnet; der Franzose Monsieur Le Quoi, der deutsche Major Friedrich (Fritz) Hartmann und der anglikanische Reverend Grant sagen eigentlich alles das gleiche. Aber jeder redet so, wie er normalerweise reden würde. Lange bevor Mark Twain seinen Huck Finn seinen Helden so reden lässt wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Heute hat das beinahe jeder Romanautor drauf, seine Romanfiguren über einen Ideolekt, einen Dialekt oder einen Soziolekt zu charakterisieren, aber ich glaube, Cooper ist der erste, der das überzeugend handhabt. Und so redet Fritz Hartmann wie Henry Kissinger und Judge Temples Haussklave Agamemnon wie Jim in Huckleberry Finn. Und Monsieur Le Quoi so, wie man sich die Franzosen vorstellt, es ist eine multi-kulti Gesellschaft an der frontier in diesem jungen Amerika.

“Thou jerk! thou recover thyself, Dickon!” he said; ‘but for that brave lad yonder, thou and thy horses, or rather mine, would have been dashed to pieces—but where is Monsieur Le Quoi?”
“Oh! mon cher Juge! mon ami!” cried a smothered voice,” praise be God, I live; vill you, Mister Agamemnon, be pleas come down ici, and help me on my leg?”
The divine and the negro seized the incarcerated Gaul by his legs and extricated him from a snow-bank of three feet in depth, whence his voice had sounded as from the tombs. The thoughts of Mr. Le Quoi, immediately on his liberation, were not extremely collected; and, when he reached the light, he threw his eyes upward, in order to examine the distance he had fallen. His good-humor returned, however, with a knowledge of his safety, though it was some little time before he clearly comprehended the case.
“What, monsieur,” said Richard, who was busily assisting the black in taking off the leaders; “are you there? I thought I saw you flying toward the top of the mountain just now.”
“Praise be God, I no fly down into the lake,” returned the Frenchman, with a visage that was divided between pain, occasioned by a few large scratches that he had received in forcing his head through the crust, and the look of complaisance that seemed natural to his pliable features.
“Ah! mon cher Mister Deeck, vat you do next? - dere be noting you no try.”
“The next thing, I trust, will be to learn to drive,” said the Judge, who bad busied himself in throwing the buck, together with several other articles of baggage, from his own sleigh into the snow; “here are seats for you all, gentlemen; the evening grows piercingly cold, and the hour approaches for the service of Mr. Grant; we will leave friend Jones to repair the damages, with the assistance of Agamemnon, and hasten to a warm fire. Here, Dickon, are a few articles of Bess’ trumpery, that you can throw into your sleigh when ready; and there is also a deer of my taking, that I will thank you to bring. Aggy! remember that there will be a visit from Santa Claus to-night.”

Aggy ist hier die Koseform für den schwarzen Agamemnon. Eine seltsame Marotte lässt im 18. und 19. Jahrhundert die Sklavenhalter in Amerika ihren Sklaven griechische und lateinische Namen geben - in Poes Erzählung The Gold-Bug heißt der Schwarze Jupiter. Für Monsieur Le Quoi ist er Mr Agamemnon, Judge Temple käme nie auf den Gedanken, seinen Sklaven Mister zu nennen. Was Aggy aber natürlich nicht vergessen wird, ist a visit from Santa Claus to-night. Und Cooper macht an dieser Stelle eine Fußnote: The periodical visits of St. Nicholas, or Santa Claus, as he is termed, were never forgotten among the inhabitants of New York, until the emigration from New England brought in the opinions and usages of the Puritans, like the “bon homme de Noel.” he arrives at each Christmas. Da ist er, der Santa Claus, hier taucht er zum ersten Mal im amerikanischen Roman auf. Im gleichen Jahr, in dem das anonyme Gedicht A Visit from St Nicholas. Jetzt werden wir ihn nicht mehr los.

Die Winterbilder sind von Louis Rémy Mignot, einem Maler, der zur Hudson River School gerechnet wird.